Vorspann
Vorspann
Und jetzt noch ein Experiment zum Rahmenthema Selbsthilfe, das der
Redaktion einiges Kopfzerbrechen bereitet hat. Bei der Lektüre kamen uns
als professionellen Psychotherapeuten Gedanken in den Sinn, wie: „So
kann das natürlich nicht gehen; kein Wunder, dass da vieles schief
läuft; ist das überhaupt zu rechtfertigen? Werden da nicht viele
Patienten gefährdet?”
Dies sind ernsthafte Fragen, die sich stellen. Das Internet als
Medium für Beratung und vielleicht sogar Therapie, dieses Thema wollen wir
in einer späteren Ausgabe von PSYCHOTRAUMATOLOGIE angehen. Viele
Forschungsfragen sind offen. Und jetzt ein solcher Beitrag, einfach aus der
Erfahrung heraus. Bei dem man aber spürt, dass sich Celline Schreiber mit
allen Problemen herumschlägt, die das offene Gesprächsangebot mit
sich bringt. Deutlich wird auch, wie entschlossen sie sich den Problemen
stellt.
Das Selbsthilfe-Forum ist ein Experiment, und das ist gut so, weil
Experimente Erfahrungen schaffen (wie im englischen
„experience”). Aber eines, ohne „Netz und doppelten
Boden”, und das bleibt natürlich ein Problem. Andererseits: das
Internet ist ein Medium, mit dem wir alle erst lernen müssen, optimal
umzugehen. Natürlich auch wir von der Redaktion von PSYCHOTRAUMATOLOGIE.
Unsere Zeitschrift ist ja auch ein Experiment, Wissenschaft mobiler zu machen.
Ein Forum aufzubauen, ganz im Sinne der alten griechischen
„agora”, des „Marktplatzes”, auf dem nicht nur
Waren ge- und verkauft, sondern die zentralen philosophischen und
wissenschaftlichen Streitgespräche der damaligen Zeit ausgetragen wurden.
Solche „Foren” bilden sich im Internet jetzt spontan, und das ist
ein Weg, die Vereinzelung zu überwinden, die uns die gesellschaftlichen
Verhältnisse mehr und mehr aufzuzwingen scheinen. Und Probleme erstmals
mit anderen teilen zu können, an denen wir sonst vielleicht ersticken. Ein
Selbsthilfe-Forum kann diese Aufgabe wahrnehmen, und sie wird in dieser Form
durch kein professionelles Angebot zu ersetzen sein. Woran wir aber arbeiten
sollten, ist die Schnittstelle zu professionellen Angeboten noch enger zu
knüpfen. Wann und bei wem ist eine professionelle Beratung, und sei sie
zunächst übers Internet, zu empfehlen? Was kann ein Selbsthilfe-Forum
leisten und wie kann es sich - ganz im Sinne des gegenwärtigen
Rahmenthemas von PSYCHOTRAUMATOLOGIE - „psychohygienisch”
so weit entlasten, dass es arbeitsfähig bleibt. An solchen Fragen sollten
wir alle gemeinsam arbeiten: Selbsthelfer (und das sind wir letztlich alle),
professionelle Psychotherapeuten und Humanwissenschaftler.
Die Redaktion
Vorwort
Vorwort
Das Thema Selbsthilfe im Internet ist so umfangreich, dass es mir
kaum möglich ist, all seine Facetten in wenigen Seiten Text genauer zu
beleuchten. Darum kann dies nur ein kleiner Einblick sein in das, was auf
meiner Selbsthilfeseite zum Thema (sexueller) Missbrauch passiert und welche
Vor- und Nachteile eine solche Selbsthilfegruppe hat.
Selbsthilfe, was ist das?
Selbsthilfe, was ist das?
Selbsthilfe....
SELBSThilfe
selbstHILFE
Wir helfen uns selbst.
Wir lernen miteinander, aneinander, voneinander.
Wir reden über uns selber, hören anderen zu, suchen
UNSEREN EIGENEN Weg, helfen anderen IHREN Weg zu
finden.
Mein Weg ist nicht ganz deiner, dein Weg ist nicht ganz meiner.
Wo stehe ich? Wo will ich hin?
Und wo stehst du und wo willst du hin?
Kennst du das auch oder fühl ich das alleine?
Wie schaffst du das, was ich nicht schaffe?
Wie mach ich was, was du nicht schaffst?
Welche Wege könnte ich gehen?
Könnte mein Weg auch für dich gut sein?
Was hab ich damals versucht, als es mir ging wie dir jetzt?
Hat das geklappt?
He, kann es sein dass du dich da selber belügst? Belüge
ich mich?
Andere halten wenn sie fallen und loslassen, damit sie alleine
weiterlaufen können. Sich selber halten lassen wenn man fällt. Und
dann aufstehen und selber weiterlaufen.
Das alles ist Selbsthilfe.
Miteinander
Aneinander
Füreinander
Wir zusammen, nicht du alleine.
So definiere ich Selbsthilfe.
Meine Geschichte
Meine Geschichte
1998 brach meine kleine Scheinwelt zusammen, als ich durch Zufall im
Internet in einer Newsgroup auf eine Diskussion darüber stieß, ob
Schmerzen beim Sex etwas mit schlechten Erfahrungen zu tun haben und ob es
möglich ist, Erinnerungen am sexuellen Missbrauch so zu verdrängen,
dass man sich nicht mehr erinnert. - Und ich erinnerte mich
plötzlich, schmerzhaft und mit unendlich viel Angst, Panik und
einstürzenden Kartenhäusern, in denen ich lebte. Mein Leben passte
nicht mehr zusammen, die Illusion der ach so tollen Familie brach zusammen und
mit Erschrecken stand ich vor der Tatsache: Ich bin ein ungewolltes und
ungeliebtes Kind, immer abgeschoben in verschiedene Tagespflegefamilien oder zu
der Oma, jedes Jahr woanders und nur gemocht, wenn ich möglichst weit weg
war.
Mit 4 wurde mir klar, dass das einzige Interessante an mir meine
Geschlechtsteile sind, an denen sich die Kinder aus Tagespflegefamilien
vergingen. Ob sie ihren Frust an mir ausließen? Eifersucht? Ich
weiß es nicht, ich kannte es nie anders. Ich wurde halt geduldet,
immerhin brachte ich Geld in die Familien. Es wurde bestimmt, dass ich da sein
musste, also war ich da. Ich war 5, als ich den Missbrauch in meiner 3.
Pflegefamilie an ihrer Tochter direkt miterlebte. Damals vertraute ich den
Erwachsenen noch. Ich war geschockt und hatte Angst, aber verstanden habe ich
es nicht wirklich, was da passierte. Mit 9 ging ich dazu über, mich
„freiwillig” befummeln zu lassen, und war stolz auf meinen ersten
Freund in so frühen Jahren. Dass auch Erwachsene von Kindern nichts
anderes wollen, erfuhr ich mit 11, und eine Vergewaltigung vom Freund meiner
damaligen Freundin mit 15 gab mir dann den Rest.
Meine gesamte Geschichte hatte ich für mich verdreht. Aus einer
Vergewaltigung wurde ein schlechtes sexuelles Erlebnis, von Erwachsenen benutzt
zu werden war schlichtweg nicht existent und der Missbrauch an dem Kind auch
nicht. Die Wahrheit traf mich wie ein Hammerschlag und der Schock, mich selber
über mehr als 25 Jahre zur mehr oder weniger freien Benutzung aller
Männer zur Verfügung gestellt zu haben, saß verdammt tief.
„Lockere Verhältnisse ohne Treueanspruch” hatte ich es bis
dahin genannt. Schmerzen, Panikattacken in Bett und andere Warnzeichen habe ich
schlichtweg nie ernst genommen und doch verflucht. Ich lebte in
Widersprüchen, in Scheinwelten, merkte, wie ich mich mit den immer
gleichen Problemen im Kreis drehte und fand nie eine Lösung, suchte immer
weit um den Knackpunkt herum, schusterte an Auswirkungen herum und nie an
Ursachen.
Als meine Welt zusammenbrach ging das nicht mehr. Der einzige Mensch
mit dem ich damals reden konnte, war jemand, der sich bei der besagten
auslösenden Diskussion sehr für die Menschen einsetzte, die sagten,
dass man sehr wohl verdrängen kann. Ich schrieb ihn an, outete mich als
Überlebende und begann mit ihm zu reden. Ich kannte ihn nicht real, nichts
von dem was ich ihm erzählte schlug sich auf mein reales Leben nieder. Ich
war anonym und konnte jederzeit meine Netzidentität aufgeben und
verschwinden. Nichts was ich ihm erzählte hatte einen Einfluss auf das,
was um mich herum geschah. Und ich dröselte mit ihm meine gesamte
Scheinwelt auseinander. So tiefgehend hatte ich vorher noch nie mit einem
Menschen geredet. Ich packte meine ganze Angst und Scham auf den Tisch, incl.
meiner gesamten Lebenslügen, an die ich mich heranwagte. Er hatte wenig
Zeit zu schreiben, und ich merkte bald, dass mir das nicht reicht. Ich brauchte
mehr Austausch, mehr Fragen und mehr Stoff zum Nachdenken. Unterhaltungen mit
Freunden zeigten mir sehr deutlich, wie schnell man Freundschaften
überfordern kann. Da entstand die Newsgroup
<de.etc.selbsthilfe.missbrauch>. Ich engagierte mich sehr in dieser
Gruppe und moderierte sie auch später.
Die Geschichte meiner Homepage
Die Geschichte meiner Homepage
Im Zuge der Umstellung auf eine moderierte Gruppe entschloss ich
mich, für diese Gruppe eine Homepage zu machen, auf der die immer
wiederkehrenden Fragen erklärt werden. Zum Beispiel was
„moderieren” denn ist und wer das macht etc. Zeitgleich begann
ich Gedichte, die in der Newsgroup auftauchten, hier festzuhalten.
Was als Homepage zur Newsgroup begann, verselbstständigte sich
sehr schnell. Mein Mailkasten quoll über von Hilfesuchenden, die
Newsgroups nicht abonnieren können, die Mailfluten waren nicht mehr zu
bewältigen. Also entschied ich mich dafür, ein Forum zum Austausch
einzurichten, um mich zu entlasten. Später schlug ich einen anderen Weg
als die Newsgroup ein, gab die Moderation der Gruppe ab und so entwickelte sich
meine Homepage zu dem, was sie heute ist: Eine öffentliche
Selbsthilfegruppe für Überlebende von Missbrauch nicht nur sexueller
Art. Der Teil meiner Homepage, der sich mit der Newsgroup befasst, ist
inzwischen bei zu finden.
Aufarbeitung im Internet
Aufarbeitung im Internet
Fast alle die neu auf meine Homepage kommen und anfangen zu
verstehen, dass ihnen die Schutzmechanismen, die sie überleben
ließen, heute im Wege stehen, klappen erst mal für die nächsten
Wochen und/oder Monate psychisch total zusammen. Sie leiden unter massiven
Erinnerungsschüben, Angstzuständen, Panikattacken und Depressionen.
Sie verlieren den Boden unter den Füßen und gehen buchstäblich
für eine Zeit durch die Hölle. Beziehungen gehen auseinander, Kinder
leiden und Freunde halten das Leid auf Dauer nicht aus, wenn es denn
überhaupt Freunde gibt, mit denen die Leute reden können. Manchen
Menschen erscheint dann als Ausweg lediglich die Wahl zwischen Psychiatrie oder
Suizid.
Selbsthilfegruppen im Internet sind 24 Stunden am Tag erreichbar.
Wenn einer nicht mehr zuhören kann, kann es der Nächste, und viele
zusammen schaffen es dann doch, einen wieder aufzufangen und aufzurichten. Im
Laufe der 3 Jahre, in denen ich jetzt die Homepage betreibe, habe ich sehr
viele Menschen davon überzeugen können, sich einen Therapeuten zu
suchen, in Beratungsstellen zu gehen oder auch aus
Missbrauchsverhältnissen abzuhauen und sich im realen Leben Hilfe zu
suchen. Man ist anonym, kann sich unerkannt informieren was man tun
könnte, ohne etwas tun zu müssen, und schafft sich einen Ring, der
einen auffangen kann, wenn man fällt.
Aber hier liegt auch schon eine Gefahr. Wenn viele Menschen
gleichzeitig in Krisen stecken, schaukeln sie sich gegenseitig hoch. Menschen,
die ihr Leben einigermaßen im Griff haben, finden kein Gehör mehr
und das Wetteifern beginnt, wem es denn schlechter geht. Menschen in akuten
Krisensituationen neigen dazu, sich an jedem Strohhalm festzuhalten und sich
Psychosen einreden zu lassen, die sie bis dato noch nicht hatten.
Essstörungen oder multiple Persönlichkeitsstörung mutieren zu
Modeerscheinungen, und das geht so weit, dass die Leute selbst daran glauben,
plötzlich „Viele” zu sein oder tatsächlich anfangen zu
hungern oder zu kotzen und felsenfest überzeugt davon sind, dass das schon
immer so war. Man schaukelt sich gegenseitig hoch und verkündet sich
gegenseitig die Erkenntnis, dass man schon immer wusste, wie scheiße das
Leben ist. So was passiert auf Internetseiten sehr schnell, nämlich dann,
wenn niemand darauf achtet, welche Tendenzen sich in den Foren breit machen,
und massiv gegensteuert. Erst jetzt im letzen halben Jahr habe ich es endlich
geschafft, diese Tendenzen auf meiner Homepage weitgehend in den Griff zu
bekommen, was aber nicht heißt, dass sich nicht noch immer irgendwelche
Leute gegenseitig hochschaukeln, ohne dass ich es mitbekomme. Geschafft habe
ich das dadurch, dass ich versucht habe, den Leuten Mut zu machen, die eigenen
Grenzen zu erkennen und auch zu verteidigen. Zu erkennen, wo sie emotional
unter Druck gesetzt werden und sich dagegen zur Wehr zu setzen,
„Nein” zu sagen, wenn sie zu sehr mit runtergezogen werden. Ich
habe Leute aus dem Chat schmeißen müssen, die meinten, eine
Selbsthilfeseite wäre ein Dienstleistungsunternehmen, das gefälligst
immer zuzuhören hätte oder in Hinterzimmern das Abspalten von Leuten
forcierten und durch Suggestivfragen wie: „Wer bist du denn jetzt, was
siehst du grade?” Pseudotherapeuten spielten.
Aber neben diesen Gefahren sehe ich auch sehr viele Chancen. Viele
lernen ihre Gefühle auszudrücken. Erkennen, dass auch die Menschen,
zu denen sie aufsehen, Therapeuten haben und sehen, dass ihre schlechte
Erfahrung mit einem Therapeut nicht heißt, dass alle Therapeuten schlecht
sind. Sie holen sich Rat, wie man denn einen guten Therapeut erkennen kann oder
erkennen, dass sie zwar eine Therapie machen, aber mit ihren Therapeuten die
Knackpunkte nicht angehen. Das Internet kann nie ein Ersatz für eine gute
Therapie sein, aber es kann eine gute Ergänzung bieten. Sie können
Themen, die in der Therapie besprochen werden, mit anderen überdenken oder
Themen, die im Forum auftauchen mit ihren Therapeuten besprechen. In akuten
Momenten haben sie Kontakte zu Menschen, die zuhören - egal um
welche Uhrzeit.
Therapeuten/Psychologen und Selbsthilfe im Internet
Therapeuten/Psychologen und Selbsthilfe im Internet
Der Therapeut verliert seine Allmacht. Er ist nicht mehr der einzige
Ansprechpartner, es gibt auch Austausch über ihn und das, was er tut. Er
ist nicht mehr der alleinige „Herr” über richtig und falsch,
gut oder böse. Und genauso wie Therapeuten mitunter auch negativ
kritisiert werden, wird auch sehr oft zwischen ihnen und den Überlebenden
vermittelt. „Was glaubst du, warum sagt er das?”, „Sag ihm
doch mal, dass du das nicht willst und hau nicht gleich ab”,
„Wenn du ihm das nicht erzählst, kann er ja auch nicht wissen,
dass...”. Und zur Not finden sich im Internet auch noch Menschen, die
einen besseren Therapeuten wissen, zu dem man gehen könnte.
Auch die Frage, was einem die Therapie eigentlich bringt, ob der/die
Therapeut/in gut oder schlecht für einen ist, kann besprochen werden.
Zitat aus einem Chat:
X
[1] [zu
celli] die thera ist total lieb, irgendwie strahlt sie was ganz tolles
aus, bei ihr kann ich gar nicht schweigen, ich plapper und plapper, ist total
lustig. Was aber der Punkt war der mich voll umgehauen hat, war die
verabschiedung..
X
[1] sie sagte, das
ich in meinem denken schon sehr weit bin, und das sie froh ist das ich hier
bin, aber das sie weiß, das ich auch alleine ohne thera meinen weg
schaffen kann
X
[1] [zu
celli] ich war vielleicht sauer auf die, als ich gegangen bin. weil wie
kann man sowas zu mir sagen. *g komischerweise, hab ich seit gestern
nachmittag so ne energie, hab auch anrufe und so gemacht
Zitat Ende
Reden, nachlesen und erkennen
Reden, nachlesen und erkennen
Im Gegensatz zu einem Therapeuten kann ich ganz klar sagen was ich
denke, wenn jemand mit einem Problem auf mich zukommt. Ich kann sagen:
„He, da machst du Mist!” oder „Jetzt ist genug
gejammert, du kannst dies und das und jenes tun, mach was oder verschone mich
damit”. Viele Leute brauchen solche „Tritte” um wieder im
Bewegung zu kommen. Und alles was einmal geschrieben wurde, ist noch irgendwo
nachlesbar. Ratschläge verpuffen also nicht irgendwo in der Luft, sondern
man kann immer wieder auf sie verweisen. Man kann den Leuten auch ganz klar vor
Augen führen, dass sie vor 2 Monaten bestimmte Dinge noch nicht geschafft
hätten, die sie jetzt geregelt bekommen und sie können ihre eigenen
Texte immer wieder vergleichen und selber feststellen, welche großen
Schritte sie eigentlich machen. Viele brauchen das, weil sie es selber nicht
erkennen können.
Anonymität
Anonymität
Gerade für Menschen, die anfangen zu reden, ist sehr wichtig,
dass sie sicher sind. Ihr Vertrauen ist zerstört. Sehr viele gehen nicht
zu einem Therapeuten, und sehr oft lese ich die Frage: „Kann er mir mein
Kind wegnehmen?”. Im Internet, durch den Austausch mit anderen, erfahren
die Leute, wie viele eigentlich Kinder haben, und dass eine Therapie eine
Hilfe, keine Strafe sein sollte.
Vielen fällt es auch sehr viel leichter zu schreiben als zu
reden. Wenn Erna Schneider1 als „Nessi 1”
über ihre sexuellen Probleme schreibt, schaut sie am nächsten Tag
niemand schief an, und die Welt geht auch dann nicht unter, wenn sie zugibt,
dass ihre Ehe für sie ein Alptraum ist. Sehr oft höre ich, wenn ich
„Nessi 1” darauf anspreche, ob sie denn mit ihrem
Therapeuten mal drüber geredet hat, ein „Nein, das hab ich mich
noch nicht getraut”. Oft braucht man eine erste Reaktion, bevor man
drüber reden kann. Wenn niemand lacht, wenn „Ernst”
1 zugibt impotent zu sein, dann traut er sich vielleicht auch mal
mit seinem Therapeuten drüber zu reden. Sehr oft höre ich auch die
Frage: „Ich weiß nicht wie ich das meinem Mann/Frau/Therapeuten
sagen soll” und sehr oft rate ich: „Das hast du doch grade sehr
schön beschrieben, warum druckst du es nicht aus und gibst es
ihm/ihr?”
Grade Menschen mit Kontaktschwierigkeiten oder Sozialphobie,
können anonym leichter ihre Angst vor Menschen abbauen und nicht selten
entstehen über das Reden im Internet auch reale Kontakte. Durch meine
Homepage treffen sich sehr viele Menschen inzwischen auch real, sie nehmen
weite Reisen auf sich, um sich zu besuchen.
Missbrauch der Anonymität und was man daraus lernen
kann
Missbrauch der Anonymität und was man daraus lernen
kann
Aber Anonymität verleitet auch dazu, ein falsches Spiel zu
treiben. Nicht jede der erzählten Lebensgeschichten stimmt auch wirklich,
und nicht jedes Opfer einer sexuellen Gewalttat im Internet ist auch wirklich
eins. Manche erfinden Geschichten um einfach mal wichtig zu sein, was mitunter
ja auch seine Berechtigung haben kann. Manche erfinden Geschichten um des
Erfindens Willen. In den Auseinandersetzungen fällt sowas allerdings
meistens auf. Das ist dann ärgerlich, wenn man sich die Nächte mit
nicht vorhandenen Sorgen um die Ohren geschlagen hat und feststellt, dass man
sich umsonst Sorgen gemacht hat.
Noch ein Nachteil ist, dass man die wirkliche Identität der
Menschen nicht kennt. Immer wieder tauchen angebliche Psychologen oder
Therapeuten auf der Homepage auf und bieten ihre Hilfe an, die ich dann mit
einem Verweis auf SELBSThilfe ablehne. Auch bei Selbstmordankündigungen
ist es schwer, rechtzeitig von der Polizei ernst genommen zu werden und Hilfe
zu bekommen, wenn man außer einer IP-Adresse nichts von dem User
weiß.
Aber man lernt daraus. Es gibt keinen sicheren Ort vor Spinnern und
Menschen, die versuchen, einen zu manipulieren. Es sind immer noch Menschen,
die ins Internet gehen, keine Maschinen. Das ist im Netz nichts anderes als im
realen Leben auch. Nur ist man hier nicht alleine. Man kann andere fragen, ob
sie auch ein blödes Gefühl bei „Erna1[1]” haben und kann lernen, es auszusprechen. Man
kann lernen seinen eigenen Gefühlen zu trauen, sich nicht alles Gefallen
zu lassen und „Stopp” zu sagen. Und genauso kann man lernen, dass
ein „Stopp”, welches man hört, nicht automatisch
heißt, dass man ein schlechter Mensch ist. Denn grade das haben viele als
Kind gelernt: „Ich bin schlecht, wenn ich etwas tu, was anderen nicht
gefällt. Ich muss tun, was mir gesagt wird”.
Gruppen
Gruppen
Man ist nicht mehr alleine. Man wird verstanden, ohne viel
erklären zu müssen. Der Mensch ist kein Einzelgänger. Das birgt
die Gefahr von Gruppendruck, und man muss ständig neu hinterfragen, ob
etwas nun Gruppendruck oder eine Grenze ist, die man ziehen muss um eine Gruppe
am Leben zu erhalten. Dafür habe ich eine Seite gemacht, die genau
beschreibt was der Weg dieser Homepage, mein Weg, ist. Momentan habe ich auf
meiner Homepage am Tag ca. 1100 Besucher, Tendenz rapide steigend, und die
aktive Gruppe besteht aus ca. 300 Leuten. Eine Gruppe von der Größe
funktioniert nicht mehr ohne Grenzen und Regeln. Es ist einfach nicht mehr
möglich allen gerecht zu werden und alles abzudecken, was an
Bedürfnissen da ist.
Auf der anderen Seite bedeutet eine Gruppe aber auch einen Halt. Vor
nicht allzu langer Zeit habe ich zusammen mit ein paar Usern mit einer Frau im
Chat geredet, die bei einer Größe von 1,70m noch ganze 40 Kilo wiegt
und gerade einen Suizidversuch hinter sich hatte. Sie sollte sich melden und
überlegte, sich aus ihrer Lage heraus zu lügen. Ich habe 2 Stunden
mit ihr geredet bis ihr klar war, dass sie die Gruppe verliert, wenn sie
verhungert, und dass Selbsthilfe nur dann geht, wenn sie sich zum Leben
entscheidet. Sie fing noch am gleichen Abend wieder an zu essen und hatte 2
Tage später ihr erstes Vorgespräch mit einem Therapeuten. Sie hatte
bei dem Gespräch nicht gelogen und bekommt jetzt Hilfe. Gruppen
können also auch Mut machen und Angst nehmen. Vor allem dann, wenn es noch
andere gibt, die solche Situationen auch kennen und Wege gefunden haben, aus
der Situation wieder herauszukommen.
Grenzen
Grenzen
Die wenigsten Überlebenden kennen ihre Grenzen, können
sich durchsetzen oder wissen, was ihnen gut tut und was nicht. Gerade durch das
Zusammensein mit anderen Menschen, die das gleiche Problem haben, kann man
lernen, dass man auch mal „Nein” sagen darf. Man muss es sogar
lernen, da man gerade im Netz immer wieder ganz extrem an seine Grenzen
stößt. Schnell hat man viele Nächte kaum geschlafen, weil man
sich mit den Problemen anderer rumschlägt, und irgendwann geht das nicht
mehr. Auch durch Lügen und Spinner lernt man sich selber zu trauen, sein
eigenes schlechtes Gefühl ernst zu nehmen. Man lernt ganz automatisch mit
der Zeit, auf sich zu achten. Viele Überlebende haben Angst davor zu
sagen, was ihnen nicht passt, aber durch Nachfragen und Ausprobieren lernen sie
sehr schnell, dass sie das durchaus dürfen.
Noch schwieriger wird es, den Menschen, die man mag, zu sagen, wenn
einem etwas gegen den Strich geht. Aber wenn man bei anderen beobachtet, dass
man so was durchaus auch machen darf, traut man sich schon mal eher oder sucht
sich Unterstützung, indem man mal fragt, ob jemand beim Vermitteln
hilft.
Wie in jeder Gruppe, gibt es auch in einer Selbsthilfegruppe im
Internet Menschen, die einfach nicht in der Gruppe aufzufangen sind, die die
Grenzen der anderen über alle Maßen strapazieren oder eine
Fürsorge brauchen, die über das, was eine Selbsthilfegruppe leisten
kann, hinaus geht. Für diese Menschen ist diese Gruppe dann weniger
hilfreich. Aber für sie stehen viele andere Internetseiten zur
Verfügung, denn wie bei der Suche nach einem Therapeuten auch, muss man
sich im bestehenden Angebot das heraussuchen, was einem gut tut und was
nicht.
Fazit:
Fazit:
Selbsthilfe im Internet kann niemals eine gute Therapie ersetzen,
aber sie kann sie unterstützen oder dazu animieren, sich im realen Leben
Unterstützung zu suchen und Hilfe anzunehmen. Sie kann in
Krisensituationen auffangen und helfen, denn sie macht niemals Feierabend oder
Pause. Aber sie birgt auch die Gefahr, nicht mehr abzuschalten, sich
völlig in ein Thema zu stürzen und im Sumpf der Gefühle zu
ertrinken. Selbsthilfe im Internet kann nur dann helfen, wenn die Betreiber der
Seiten sehr genau aufpassen und hinschauen, dass sich keine schädlichen
Tendenzen breit machen.