Psychotraumatologie 2001; 2(4): 24
DOI: 10.1055/s-2001-18963
Berichte aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Selbsthilfe im Internet

Ein ErfahrungsberichtCelline Schreiber
Further Information
#

Autorin:

Celline Schreiber

URL: http://www.selbsthilfe-missbrauch.de

Publication History

Publication Date:
20 December 2001 (online)

 
Table of Contents #

Vorspann

Und jetzt noch ein Experiment zum Rahmenthema Selbsthilfe, das der Redaktion einiges Kopfzerbrechen bereitet hat. Bei der Lektüre kamen uns als professionellen Psychotherapeuten Gedanken in den Sinn, wie: „So kann das natürlich nicht gehen; kein Wunder, dass da vieles schief läuft; ist das überhaupt zu rechtfertigen? Werden da nicht viele Patienten gefährdet?”

Dies sind ernsthafte Fragen, die sich stellen. Das Internet als Medium für Beratung und vielleicht sogar Therapie, dieses Thema wollen wir in einer späteren Ausgabe von PSYCHOTRAUMATOLOGIE angehen. Viele Forschungsfragen sind offen. Und jetzt ein solcher Beitrag, einfach aus der Erfahrung heraus. Bei dem man aber spürt, dass sich Celline Schreiber mit allen Problemen herumschlägt, die das offene Gesprächsangebot mit sich bringt. Deutlich wird auch, wie entschlossen sie sich den Problemen stellt.

Das Selbsthilfe-Forum ist ein Experiment, und das ist gut so, weil Experimente Erfahrungen schaffen (wie im englischen „experience”). Aber eines, ohne „Netz und doppelten Boden”, und das bleibt natürlich ein Problem. Andererseits: das Internet ist ein Medium, mit dem wir alle erst lernen müssen, optimal umzugehen. Natürlich auch wir von der Redaktion von PSYCHOTRAUMATOLOGIE. Unsere Zeitschrift ist ja auch ein Experiment, Wissenschaft mobiler zu machen. Ein Forum aufzubauen, ganz im Sinne der alten griechischen „agora”, des „Marktplatzes”, auf dem nicht nur Waren ge- und verkauft, sondern die zentralen philosophischen und wissenschaftlichen Streitgespräche der damaligen Zeit ausgetragen wurden. Solche „Foren” bilden sich im Internet jetzt spontan, und das ist ein Weg, die Vereinzelung zu überwinden, die uns die gesellschaftlichen Verhältnisse mehr und mehr aufzuzwingen scheinen. Und Probleme erstmals mit anderen teilen zu können, an denen wir sonst vielleicht ersticken. Ein Selbsthilfe-Forum kann diese Aufgabe wahrnehmen, und sie wird in dieser Form durch kein professionelles Angebot zu ersetzen sein. Woran wir aber arbeiten sollten, ist die Schnittstelle zu professionellen Angeboten noch enger zu knüpfen. Wann und bei wem ist eine professionelle Beratung, und sei sie zunächst übers Internet, zu empfehlen? Was kann ein Selbsthilfe-Forum leisten und wie kann es sich - ganz im Sinne des gegenwärtigen Rahmenthemas von PSYCHOTRAUMATOLOGIE - „psychohygienisch” so weit entlasten, dass es arbeitsfähig bleibt. An solchen Fragen sollten wir alle gemeinsam arbeiten: Selbsthelfer (und das sind wir letztlich alle), professionelle Psychotherapeuten und Humanwissenschaftler.

Die Redaktion

#

Vorwort

Das Thema Selbsthilfe im Internet ist so umfangreich, dass es mir kaum möglich ist, all seine Facetten in wenigen Seiten Text genauer zu beleuchten. Darum kann dies nur ein kleiner Einblick sein in das, was auf meiner Selbsthilfeseite zum Thema (sexueller) Missbrauch passiert und welche Vor- und Nachteile eine solche Selbsthilfegruppe hat.

#

Selbsthilfe, was ist das?

Selbsthilfe....

SELBSThilfe

selbstHILFE

Wir helfen uns selbst.

Wir lernen miteinander, aneinander, voneinander.

Wir reden über uns selber, hören anderen zu, suchen UNSEREN EIGENEN Weg, helfen anderen IHREN Weg zu finden.

Mein Weg ist nicht ganz deiner, dein Weg ist nicht ganz meiner.

Wo stehe ich? Wo will ich hin?

Und wo stehst du und wo willst du hin?

Kennst du das auch oder fühl ich das alleine?

Wie schaffst du das, was ich nicht schaffe?

Wie mach ich was, was du nicht schaffst?

Welche Wege könnte ich gehen?

Könnte mein Weg auch für dich gut sein?

Was hab ich damals versucht, als es mir ging wie dir jetzt?

Hat das geklappt?

He, kann es sein dass du dich da selber belügst? Belüge ich mich?

Andere halten wenn sie fallen und loslassen, damit sie alleine weiterlaufen können. Sich selber halten lassen wenn man fällt. Und dann aufstehen und selber weiterlaufen.

Das alles ist Selbsthilfe.

Miteinander

Aneinander

Füreinander

Wir zusammen, nicht du alleine.

So definiere ich Selbsthilfe.

#

Meine Geschichte

1998 brach meine kleine Scheinwelt zusammen, als ich durch Zufall im Internet in einer Newsgroup auf eine Diskussion darüber stieß, ob Schmerzen beim Sex etwas mit schlechten Erfahrungen zu tun haben und ob es möglich ist, Erinnerungen am sexuellen Missbrauch so zu verdrängen, dass man sich nicht mehr erinnert. - Und ich erinnerte mich plötzlich, schmerzhaft und mit unendlich viel Angst, Panik und einstürzenden Kartenhäusern, in denen ich lebte. Mein Leben passte nicht mehr zusammen, die Illusion der ach so tollen Familie brach zusammen und mit Erschrecken stand ich vor der Tatsache: Ich bin ein ungewolltes und ungeliebtes Kind, immer abgeschoben in verschiedene Tagespflegefamilien oder zu der Oma, jedes Jahr woanders und nur gemocht, wenn ich möglichst weit weg war.

Mit 4 wurde mir klar, dass das einzige Interessante an mir meine Geschlechtsteile sind, an denen sich die Kinder aus Tagespflegefamilien vergingen. Ob sie ihren Frust an mir ausließen? Eifersucht? Ich weiß es nicht, ich kannte es nie anders. Ich wurde halt geduldet, immerhin brachte ich Geld in die Familien. Es wurde bestimmt, dass ich da sein musste, also war ich da. Ich war 5, als ich den Missbrauch in meiner 3. Pflegefamilie an ihrer Tochter direkt miterlebte. Damals vertraute ich den Erwachsenen noch. Ich war geschockt und hatte Angst, aber verstanden habe ich es nicht wirklich, was da passierte. Mit 9 ging ich dazu über, mich „freiwillig” befummeln zu lassen, und war stolz auf meinen ersten Freund in so frühen Jahren. Dass auch Erwachsene von Kindern nichts anderes wollen, erfuhr ich mit 11, und eine Vergewaltigung vom Freund meiner damaligen Freundin mit 15 gab mir dann den Rest.

Meine gesamte Geschichte hatte ich für mich verdreht. Aus einer Vergewaltigung wurde ein schlechtes sexuelles Erlebnis, von Erwachsenen benutzt zu werden war schlichtweg nicht existent und der Missbrauch an dem Kind auch nicht. Die Wahrheit traf mich wie ein Hammerschlag und der Schock, mich selber über mehr als 25 Jahre zur mehr oder weniger freien Benutzung aller Männer zur Verfügung gestellt zu haben, saß verdammt tief. „Lockere Verhältnisse ohne Treueanspruch” hatte ich es bis dahin genannt. Schmerzen, Panikattacken in Bett und andere Warnzeichen habe ich schlichtweg nie ernst genommen und doch verflucht. Ich lebte in Widersprüchen, in Scheinwelten, merkte, wie ich mich mit den immer gleichen Problemen im Kreis drehte und fand nie eine Lösung, suchte immer weit um den Knackpunkt herum, schusterte an Auswirkungen herum und nie an Ursachen.

Als meine Welt zusammenbrach ging das nicht mehr. Der einzige Mensch mit dem ich damals reden konnte, war jemand, der sich bei der besagten auslösenden Diskussion sehr für die Menschen einsetzte, die sagten, dass man sehr wohl verdrängen kann. Ich schrieb ihn an, outete mich als Überlebende und begann mit ihm zu reden. Ich kannte ihn nicht real, nichts von dem was ich ihm erzählte schlug sich auf mein reales Leben nieder. Ich war anonym und konnte jederzeit meine Netzidentität aufgeben und verschwinden. Nichts was ich ihm erzählte hatte einen Einfluss auf das, was um mich herum geschah. Und ich dröselte mit ihm meine gesamte Scheinwelt auseinander. So tiefgehend hatte ich vorher noch nie mit einem Menschen geredet. Ich packte meine ganze Angst und Scham auf den Tisch, incl. meiner gesamten Lebenslügen, an die ich mich heranwagte. Er hatte wenig Zeit zu schreiben, und ich merkte bald, dass mir das nicht reicht. Ich brauchte mehr Austausch, mehr Fragen und mehr Stoff zum Nachdenken. Unterhaltungen mit Freunden zeigten mir sehr deutlich, wie schnell man Freundschaften überfordern kann. Da entstand die Newsgroup <de.etc.selbsthilfe.missbrauch>. Ich engagierte mich sehr in dieser Gruppe und moderierte sie auch später.

#

Die Geschichte meiner Homepage

Im Zuge der Umstellung auf eine moderierte Gruppe entschloss ich mich, für diese Gruppe eine Homepage zu machen, auf der die immer wiederkehrenden Fragen erklärt werden. Zum Beispiel was „moderieren” denn ist und wer das macht etc. Zeitgleich begann ich Gedichte, die in der Newsgroup auftauchten, hier festzuhalten.

Was als Homepage zur Newsgroup begann, verselbstständigte sich sehr schnell. Mein Mailkasten quoll über von Hilfesuchenden, die Newsgroups nicht abonnieren können, die Mailfluten waren nicht mehr zu bewältigen. Also entschied ich mich dafür, ein Forum zum Austausch einzurichten, um mich zu entlasten. Später schlug ich einen anderen Weg als die Newsgroup ein, gab die Moderation der Gruppe ab und so entwickelte sich meine Homepage zu dem, was sie heute ist: Eine öffentliche Selbsthilfegruppe für Überlebende von Missbrauch nicht nur sexueller Art. Der Teil meiner Homepage, der sich mit der Newsgroup befasst, ist inzwischen bei zu finden.

#

Aufarbeitung im Internet

Fast alle die neu auf meine Homepage kommen und anfangen zu verstehen, dass ihnen die Schutzmechanismen, die sie überleben ließen, heute im Wege stehen, klappen erst mal für die nächsten Wochen und/oder Monate psychisch total zusammen. Sie leiden unter massiven Erinnerungsschüben, Angstzuständen, Panikattacken und Depressionen. Sie verlieren den Boden unter den Füßen und gehen buchstäblich für eine Zeit durch die Hölle. Beziehungen gehen auseinander, Kinder leiden und Freunde halten das Leid auf Dauer nicht aus, wenn es denn überhaupt Freunde gibt, mit denen die Leute reden können. Manchen Menschen erscheint dann als Ausweg lediglich die Wahl zwischen Psychiatrie oder Suizid.

Selbsthilfegruppen im Internet sind 24 Stunden am Tag erreichbar. Wenn einer nicht mehr zuhören kann, kann es der Nächste, und viele zusammen schaffen es dann doch, einen wieder aufzufangen und aufzurichten. Im Laufe der 3 Jahre, in denen ich jetzt die Homepage betreibe, habe ich sehr viele Menschen davon überzeugen können, sich einen Therapeuten zu suchen, in Beratungsstellen zu gehen oder auch aus Missbrauchsverhältnissen abzuhauen und sich im realen Leben Hilfe zu suchen. Man ist anonym, kann sich unerkannt informieren was man tun könnte, ohne etwas tun zu müssen, und schafft sich einen Ring, der einen auffangen kann, wenn man fällt.

Aber hier liegt auch schon eine Gefahr. Wenn viele Menschen gleichzeitig in Krisen stecken, schaukeln sie sich gegenseitig hoch. Menschen, die ihr Leben einigermaßen im Griff haben, finden kein Gehör mehr und das Wetteifern beginnt, wem es denn schlechter geht. Menschen in akuten Krisensituationen neigen dazu, sich an jedem Strohhalm festzuhalten und sich Psychosen einreden zu lassen, die sie bis dato noch nicht hatten. Essstörungen oder multiple Persönlichkeitsstörung mutieren zu Modeerscheinungen, und das geht so weit, dass die Leute selbst daran glauben, plötzlich „Viele” zu sein oder tatsächlich anfangen zu hungern oder zu kotzen und felsenfest überzeugt davon sind, dass das schon immer so war. Man schaukelt sich gegenseitig hoch und verkündet sich gegenseitig die Erkenntnis, dass man schon immer wusste, wie scheiße das Leben ist. So was passiert auf Internetseiten sehr schnell, nämlich dann, wenn niemand darauf achtet, welche Tendenzen sich in den Foren breit machen, und massiv gegensteuert. Erst jetzt im letzen halben Jahr habe ich es endlich geschafft, diese Tendenzen auf meiner Homepage weitgehend in den Griff zu bekommen, was aber nicht heißt, dass sich nicht noch immer irgendwelche Leute gegenseitig hochschaukeln, ohne dass ich es mitbekomme. Geschafft habe ich das dadurch, dass ich versucht habe, den Leuten Mut zu machen, die eigenen Grenzen zu erkennen und auch zu verteidigen. Zu erkennen, wo sie emotional unter Druck gesetzt werden und sich dagegen zur Wehr zu setzen, „Nein” zu sagen, wenn sie zu sehr mit runtergezogen werden. Ich habe Leute aus dem Chat schmeißen müssen, die meinten, eine Selbsthilfeseite wäre ein Dienstleistungsunternehmen, das gefälligst immer zuzuhören hätte oder in Hinterzimmern das Abspalten von Leuten forcierten und durch Suggestivfragen wie: „Wer bist du denn jetzt, was siehst du grade?” Pseudotherapeuten spielten.

Aber neben diesen Gefahren sehe ich auch sehr viele Chancen. Viele lernen ihre Gefühle auszudrücken. Erkennen, dass auch die Menschen, zu denen sie aufsehen, Therapeuten haben und sehen, dass ihre schlechte Erfahrung mit einem Therapeut nicht heißt, dass alle Therapeuten schlecht sind. Sie holen sich Rat, wie man denn einen guten Therapeut erkennen kann oder erkennen, dass sie zwar eine Therapie machen, aber mit ihren Therapeuten die Knackpunkte nicht angehen. Das Internet kann nie ein Ersatz für eine gute Therapie sein, aber es kann eine gute Ergänzung bieten. Sie können Themen, die in der Therapie besprochen werden, mit anderen überdenken oder Themen, die im Forum auftauchen mit ihren Therapeuten besprechen. In akuten Momenten haben sie Kontakte zu Menschen, die zuhören - egal um welche Uhrzeit.

#

Therapeuten/Psychologen und Selbsthilfe im Internet

Der Therapeut verliert seine Allmacht. Er ist nicht mehr der einzige Ansprechpartner, es gibt auch Austausch über ihn und das, was er tut. Er ist nicht mehr der alleinige „Herr” über richtig und falsch, gut oder böse. Und genauso wie Therapeuten mitunter auch negativ kritisiert werden, wird auch sehr oft zwischen ihnen und den Überlebenden vermittelt. „Was glaubst du, warum sagt er das?”, „Sag ihm doch mal, dass du das nicht willst und hau nicht gleich ab”, „Wenn du ihm das nicht erzählst, kann er ja auch nicht wissen, dass...”. Und zur Not finden sich im Internet auch noch Menschen, die einen besseren Therapeuten wissen, zu dem man gehen könnte.

Auch die Frage, was einem die Therapie eigentlich bringt, ob der/die Therapeut/in gut oder schlecht für einen ist, kann besprochen werden.

Zitat aus einem Chat:

X [1] [zu celli] die thera ist total lieb, irgendwie strahlt sie was ganz tolles aus, bei ihr kann ich gar nicht schweigen, ich plapper und plapper, ist total lustig. Was aber der Punkt war der mich voll umgehauen hat, war die verabschiedung..

X [1] sie sagte, das ich in meinem denken schon sehr weit bin, und das sie froh ist das ich hier bin, aber das sie weiß, das ich auch alleine ohne thera meinen weg schaffen kann

X [1] [zu celli] ich war vielleicht sauer auf die, als ich gegangen bin. weil wie kann man sowas zu mir sagen. *g komischerweise, hab ich seit gestern nachmittag so ne energie, hab auch anrufe und so gemacht

Zitat Ende

#

Reden, nachlesen und erkennen

Im Gegensatz zu einem Therapeuten kann ich ganz klar sagen was ich denke, wenn jemand mit einem Problem auf mich zukommt. Ich kann sagen: „He, da machst du Mist!” oder „Jetzt ist genug gejammert, du kannst dies und das und jenes tun, mach was oder verschone mich damit”. Viele Leute brauchen solche „Tritte” um wieder im Bewegung zu kommen. Und alles was einmal geschrieben wurde, ist noch irgendwo nachlesbar. Ratschläge verpuffen also nicht irgendwo in der Luft, sondern man kann immer wieder auf sie verweisen. Man kann den Leuten auch ganz klar vor Augen führen, dass sie vor 2 Monaten bestimmte Dinge noch nicht geschafft hätten, die sie jetzt geregelt bekommen und sie können ihre eigenen Texte immer wieder vergleichen und selber feststellen, welche großen Schritte sie eigentlich machen. Viele brauchen das, weil sie es selber nicht erkennen können.

#

Anonymität

Gerade für Menschen, die anfangen zu reden, ist sehr wichtig, dass sie sicher sind. Ihr Vertrauen ist zerstört. Sehr viele gehen nicht zu einem Therapeuten, und sehr oft lese ich die Frage: „Kann er mir mein Kind wegnehmen?”. Im Internet, durch den Austausch mit anderen, erfahren die Leute, wie viele eigentlich Kinder haben, und dass eine Therapie eine Hilfe, keine Strafe sein sollte.

Vielen fällt es auch sehr viel leichter zu schreiben als zu reden. Wenn Erna Schneider1 als „Nessi 1” über ihre sexuellen Probleme schreibt, schaut sie am nächsten Tag niemand schief an, und die Welt geht auch dann nicht unter, wenn sie zugibt, dass ihre Ehe für sie ein Alptraum ist. Sehr oft höre ich, wenn ich „Nessi 1” darauf anspreche, ob sie denn mit ihrem Therapeuten mal drüber geredet hat, ein „Nein, das hab ich mich noch nicht getraut”. Oft braucht man eine erste Reaktion, bevor man drüber reden kann. Wenn niemand lacht, wenn „Ernst” 1 zugibt impotent zu sein, dann traut er sich vielleicht auch mal mit seinem Therapeuten drüber zu reden. Sehr oft höre ich auch die Frage: „Ich weiß nicht wie ich das meinem Mann/Frau/Therapeuten sagen soll” und sehr oft rate ich: „Das hast du doch grade sehr schön beschrieben, warum druckst du es nicht aus und gibst es ihm/ihr?”

Grade Menschen mit Kontaktschwierigkeiten oder Sozialphobie, können anonym leichter ihre Angst vor Menschen abbauen und nicht selten entstehen über das Reden im Internet auch reale Kontakte. Durch meine Homepage treffen sich sehr viele Menschen inzwischen auch real, sie nehmen weite Reisen auf sich, um sich zu besuchen.

#

Missbrauch der Anonymität und was man daraus lernen kann

Aber Anonymität verleitet auch dazu, ein falsches Spiel zu treiben. Nicht jede der erzählten Lebensgeschichten stimmt auch wirklich, und nicht jedes Opfer einer sexuellen Gewalttat im Internet ist auch wirklich eins. Manche erfinden Geschichten um einfach mal wichtig zu sein, was mitunter ja auch seine Berechtigung haben kann. Manche erfinden Geschichten um des Erfindens Willen. In den Auseinandersetzungen fällt sowas allerdings meistens auf. Das ist dann ärgerlich, wenn man sich die Nächte mit nicht vorhandenen Sorgen um die Ohren geschlagen hat und feststellt, dass man sich umsonst Sorgen gemacht hat.

Noch ein Nachteil ist, dass man die wirkliche Identität der Menschen nicht kennt. Immer wieder tauchen angebliche Psychologen oder Therapeuten auf der Homepage auf und bieten ihre Hilfe an, die ich dann mit einem Verweis auf SELBSThilfe ablehne. Auch bei Selbstmordankündigungen ist es schwer, rechtzeitig von der Polizei ernst genommen zu werden und Hilfe zu bekommen, wenn man außer einer IP-Adresse nichts von dem User weiß.

Aber man lernt daraus. Es gibt keinen sicheren Ort vor Spinnern und Menschen, die versuchen, einen zu manipulieren. Es sind immer noch Menschen, die ins Internet gehen, keine Maschinen. Das ist im Netz nichts anderes als im realen Leben auch. Nur ist man hier nicht alleine. Man kann andere fragen, ob sie auch ein blödes Gefühl bei „Erna1[1]” haben und kann lernen, es auszusprechen. Man kann lernen seinen eigenen Gefühlen zu trauen, sich nicht alles Gefallen zu lassen und „Stopp” zu sagen. Und genauso kann man lernen, dass ein „Stopp”, welches man hört, nicht automatisch heißt, dass man ein schlechter Mensch ist. Denn grade das haben viele als Kind gelernt: „Ich bin schlecht, wenn ich etwas tu, was anderen nicht gefällt. Ich muss tun, was mir gesagt wird”.

#

Gruppen

Man ist nicht mehr alleine. Man wird verstanden, ohne viel erklären zu müssen. Der Mensch ist kein Einzelgänger. Das birgt die Gefahr von Gruppendruck, und man muss ständig neu hinterfragen, ob etwas nun Gruppendruck oder eine Grenze ist, die man ziehen muss um eine Gruppe am Leben zu erhalten. Dafür habe ich eine Seite gemacht, die genau beschreibt was der Weg dieser Homepage, mein Weg, ist. Momentan habe ich auf meiner Homepage am Tag ca. 1100 Besucher, Tendenz rapide steigend, und die aktive Gruppe besteht aus ca. 300 Leuten. Eine Gruppe von der Größe funktioniert nicht mehr ohne Grenzen und Regeln. Es ist einfach nicht mehr möglich allen gerecht zu werden und alles abzudecken, was an Bedürfnissen da ist.

Auf der anderen Seite bedeutet eine Gruppe aber auch einen Halt. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich zusammen mit ein paar Usern mit einer Frau im Chat geredet, die bei einer Größe von 1,70m noch ganze 40 Kilo wiegt und gerade einen Suizidversuch hinter sich hatte. Sie sollte sich melden und überlegte, sich aus ihrer Lage heraus zu lügen. Ich habe 2 Stunden mit ihr geredet bis ihr klar war, dass sie die Gruppe verliert, wenn sie verhungert, und dass Selbsthilfe nur dann geht, wenn sie sich zum Leben entscheidet. Sie fing noch am gleichen Abend wieder an zu essen und hatte 2 Tage später ihr erstes Vorgespräch mit einem Therapeuten. Sie hatte bei dem Gespräch nicht gelogen und bekommt jetzt Hilfe. Gruppen können also auch Mut machen und Angst nehmen. Vor allem dann, wenn es noch andere gibt, die solche Situationen auch kennen und Wege gefunden haben, aus der Situation wieder herauszukommen.

#

Grenzen

Die wenigsten Überlebenden kennen ihre Grenzen, können sich durchsetzen oder wissen, was ihnen gut tut und was nicht. Gerade durch das Zusammensein mit anderen Menschen, die das gleiche Problem haben, kann man lernen, dass man auch mal „Nein” sagen darf. Man muss es sogar lernen, da man gerade im Netz immer wieder ganz extrem an seine Grenzen stößt. Schnell hat man viele Nächte kaum geschlafen, weil man sich mit den Problemen anderer rumschlägt, und irgendwann geht das nicht mehr. Auch durch Lügen und Spinner lernt man sich selber zu trauen, sein eigenes schlechtes Gefühl ernst zu nehmen. Man lernt ganz automatisch mit der Zeit, auf sich zu achten. Viele Überlebende haben Angst davor zu sagen, was ihnen nicht passt, aber durch Nachfragen und Ausprobieren lernen sie sehr schnell, dass sie das durchaus dürfen.

Noch schwieriger wird es, den Menschen, die man mag, zu sagen, wenn einem etwas gegen den Strich geht. Aber wenn man bei anderen beobachtet, dass man so was durchaus auch machen darf, traut man sich schon mal eher oder sucht sich Unterstützung, indem man mal fragt, ob jemand beim Vermitteln hilft.

Wie in jeder Gruppe, gibt es auch in einer Selbsthilfegruppe im Internet Menschen, die einfach nicht in der Gruppe aufzufangen sind, die die Grenzen der anderen über alle Maßen strapazieren oder eine Fürsorge brauchen, die über das, was eine Selbsthilfegruppe leisten kann, hinaus geht. Für diese Menschen ist diese Gruppe dann weniger hilfreich. Aber für sie stehen viele andere Internetseiten zur Verfügung, denn wie bei der Suche nach einem Therapeuten auch, muss man sich im bestehenden Angebot das heraussuchen, was einem gut tut und was nicht.

#

Fazit:

Selbsthilfe im Internet kann niemals eine gute Therapie ersetzen, aber sie kann sie unterstützen oder dazu animieren, sich im realen Leben Unterstützung zu suchen und Hilfe anzunehmen. Sie kann in Krisensituationen auffangen und helfen, denn sie macht niemals Feierabend oder Pause. Aber sie birgt auch die Gefahr, nicht mehr abzuschalten, sich völlig in ein Thema zu stürzen und im Sumpf der Gefühle zu ertrinken. Selbsthilfe im Internet kann nur dann helfen, wenn die Betreiber der Seiten sehr genau aufpassen und hinschauen, dass sich keine schädlichen Tendenzen breit machen.

#

1 1 Name frei erfunden

#

Autorin:

Celline Schreiber

URL: http://www.selbsthilfe-missbrauch.de

#

1 1 Name frei erfunden

#

Autorin:

Celline Schreiber

URL: http://www.selbsthilfe-missbrauch.de