Suchttherapie 2001; 2(4): 228-230
DOI: 10.1055/s-2001-19378
Kasuistik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Propofolabhängigkeit

Propofol DependencyTorsten Passie88-1 , Carolin Metzner88-1 , Mathias Borsutzky88-1 , Udo Schneider88-1
  • 1Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie
  • , Medizinische Hochschule Hannover
Further Information

Dr. med. Torsten Passie M.A.

Medizinische Hochschule Hannover

Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Email: dr.passie@gmx.de

Publication History

Publication Date:
02 January 2002 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Das Anästhetikum Propofol wird in den letzten Jahren auch zunehmend außerhalb seines klassischen Indikationsgebietes eingesetzt. Trotz seiner grundsätzlichen suchterzeugenden Potenz sind bisher nur einige wenige Fälle von Propofolabhängigkeit/-missbrauch in der Literatur beschrieben. Wir berichten über den Fall einer Propofolabhängigkeit bei einem Patienten, der nicht im Gesundheitswesen tätig ist. Es wird Wachsamkeit gegenüber dem Missbrauchspotenzial der Substanz empfohlen.

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Summary

Propofol is a widely used general anaesthetic with growing usage outside anaesthesia. Despite its potential for abuse only some cases of propofol dependency have yet been reported. These refer only health care professionals with easy access to the drug. This is the first reported case of propofol dependency in a person not connected to the health care system. One should be aware of the abuse potential of propofol with regards to its growing use outside the context of general anaesthesia.

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Einleitung

In den letzten Jahren ist es zu einer weiteren Ausdehnung der als Suchtstoffe missbrauchten Substanzen gekommen. Wir schildern den Fall einer Abhängigkeit von dem Anästhetikum Propofol (2,6-Diisopropylphenol). Propofol unterscheidet sich chemisch deutlich von anderen Anästhetika. Die Einleitung einer Narkose mit Propofol kann besonders schnell vollzogen werden. Zumeist wird es mit Lachgas oder Opiaten kombiniert, um eine vollständige Anästhesie zu erzielen. Die Applikation erfolgt intravenös als Bolus, der ein sanftes und von Narkosepatienten als angenehm geschildertes Einschlafen erzeugt, um dann durch kontinuierliche Infusion oder wiederholte Bolusapplikation aufrechterhalten zu werden. In jüngster Zeit wurde Propofol auch bei der ultra-kurzen Opiatentgiftung [1] sowie zur Behandlung von Kopfschmerzen und Migräne [2] eingesetzt.

Eine Abhängigkeitsentwicklung von Propofol wurde, trotz des zunehmenden medizinischen Gebrauches, nach eigenen Recherchen bisher nur in wenigen Fällen in der wissenschaftlichen Literatur dokumentiert [36]. Diese Beschreibungen bezogen sich ausschließlich auf Angehörige der Gesundheitsberufe, die unmittelbaren Zugang zu der Substanz hatten. Bei dem von uns geschilderten Fall handelt es sich unseres Wissens um den ersten Fall einer Propofolabhängigkeit bei einer Person außerhalb des medizinischen Milieus.

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Falldarstellung

Ein 25-jähriger lediger Patient wurde bei bestehender Propofolabhängigkeit zur Entgiftung in die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie aufgenommen. Er stand zu diesem Zeitpunkt unter dem Druck der Angehörigen, nachdem die Substanzabhängigkeit zu zunehmenden Problemen in seinem sozialen/beruflichen Umfeld geführt hatte. Die sonstige Suchtanamnese war leer.

Der Kontakt zu Propofol wurde (nach multiplen vorhergehenden Therapieversuchen) im Rahmen einer schmerztherapeutischen Behandlung eines bei ihm über Jahre bestehenden chronischen Spannungskopfschmerzes durch einen Anästhesisten im Jahre 1996 hergestellt. Durch diese Behandlungen, bei welchen dem Patienten im ambulanten Rahmen in wöchentlichen bzw. mehrwöchentlichen Abständen Propofol in schlafinduzierender Dosis intravenös appliziert wurde, erfuhr er neben einer subjektiven Entspannung eine temporäre Befreiung von den chronischen Kopfschmerzen. Diese Schmerzfreiheit hielt zunächst bis zu zwei Wochen an, verkürzte sich jedoch im Laufe der Behandlungen bis auf einige Tage post applicationem. Im Laufe des Jahres 1997 weigerte sich der Anästhesist, trotz guter symptomatischer Resultate, die Therapie in der vorbeschriebenen Weise fortzuführen. Daraufhin begann der Patient, sich in eigener Regie systematisch Propofol zu applizieren. Die Substanz beschaffte er sich nach seinen Angaben, indem er als Hobby-Aquarist bei Tierärzten vorgab, mittels Propofol seine Aquarienfische zum Umsetzen betäuben zu wollen. Zunächst führte er, nach regelrechter Anlage einer intravenösen Dauerkanüle, deren Einbringung er „dem Anästhesisten bei den vielfachen Injektionen abgeschaut” hatte, diese Injektionen mit einer Dosis von 200 mg nur sehr unregelmäßig durch. Sukzessive steigerte er jedoch die Injektionsfrequenz, bis er mit einer Frequenz von 10-15 Applikationen (à 200 mg Propofol) täglich stationär aufgenommen wurde. Die Applikation nahm er mit einer gewöhnlichen Einmalspritze und einmaliger Bolusapplikation vor. Danach zog er die Spritze ab und verfiel in einen kurzzeitigen Schlaf, aus dem er dann stets entspannt und leicht euphorisiert erwachte. Das Erleben traumartiger Zustände oder sexueller Phantasien, wie sie gelegentlich als Begleiterscheinungen von Propofolnarkosen berichtet wurden, negierte der Patient ausdrücklich. Da die Entspannung jedoch aufgrund einer Toleranzentwicklung immer kürzere Zeit anhielt und er zunehmend den Zustand des „Weggetretenseins” zum Ziel hatte, steigerte sich die Frequenz derartig, dass er seine sozialen Verpflichtungen vernachlässigte. Der Patient berichtete über keinerlei körperliche Entzugssymptome. Jedoch habe er ein ausgeprägtes Craving erlebt, das es ihm unmöglich gemacht habe, den Konsum einzustellen. Die häufigen Propofolapplikationen wurden von der Ehefrau des Patienten bestätigt.

Sechs Wochen vor Aufnahme sei er wegen eines vollständigen Bewusstseinsverlustes im Rahmen der Propofolapplikationen auf einer Intensivstation behandelt worden. Als Kind wurde der Patient wegen eines Aufmerksamkeitsdefizientzsyndroms ein Jahr lang mit Methylphenidat behandelt. Der Patient wie auch seine Eltern berichteten, er hätte von dieser Behandlung profitiert. Der Patient erfüllte die Kriterien der ICD-10 für das Vorliegen einer Propofolabhängigkeit. Die internistische und neurologische Untersuchung wie auch CCT, EKG, EEG und Laborparameter (Blutbild, Elektrolyte, Leberenzyme, Blutgerinnung, Elektrophorese und Drogenscreening) waren unauffällig. Die psychiatrische Untersuchung zeigte eine unterdurchschnittliche Intelligenz (Standard Progressive Matrices Test), Störungen in der Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeitsleistung (Visual Search Task), dem verbalen Lernen und der proaktiven Interferenz (California Verbal Learning Test). Kurzzeitgedächtnisleistungen, gemessen mit der deutschen Version des California Verbal Learning Tests und dem Digit Span Test des HAWIE lagen im Normalbereich.

Während des stationären Aufenthaltes wurde der Patient mit 600 mg/d Valproinsäure und motivationsfördernder Gruppenpsychotherapie behandelt. Nach 6 Tagen brach der Patient, ohne Angaben von Gründen, die stationäre Behandlung ab und wurde mit der Empfehlung, eine ambulante psychotherapeutische Behandlung aufzunehmen, entlassen. Er selbst wünschte eine erneute Behandlung mit Methylphenidat.

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Diskussion

Propofol wurde 1977 in den klinischen Gebrauch eingeführt. Vorteilhaft für Propofol ist aus anästhesistischer Sicht die kurze Wirkdauer und der rasche Eintritt der sedierenden Wirkung. Der pharmakologische Mechanismus, über den Propofol wirkt, scheint seine agonistische Aktivität am GABAA-Rezeptor (beta-1-Untereinheit) zu sein. Die agonistische Aktivität am GABA-Rezeptor führt über den Chloridionenkanal zu einer neuronalen Hyperpolarisation [7]. Neben den GABAergen Eigenschaften des Propofols wurde tierexperimentell gezeigt, dass die Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens 2 Stunden nach Propofol-Applikation reduziert ist [8]. Als weitere Wirkmechanismen sind in der Literatur die Bindung an D2- und NMDA-Rezeptoren beschrieben [9]. Auch Effekte auf den intrazellulären Kalziumstoffwechsel in kultivierten humanen Gliazellen [10] und auf spannungsabhängige Kalziumkanäle [11] konnten nachgewiesen werden. Die Wirksamkeit von Propofol an der beta-1-Untereinheit des GABAA-Rezeptorkomplexes ist in der Literatur unstrittig, die weiteren komplexen Wirkmechanismen von Propofol werden derzeit noch erforscht.

Für Abhängigkeit induzierende Substanzen spielt nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft insbesondere das mesolimbische Belohnungssystem, bestehend aus ventralen Anteilen des Tegmentums, dem medialen Vorderhirnbündel und den zugehörigen Teilen des präfrontalen Kortex, eine herausragende Rolle. Dieses System kann durch viele Suchtstoffe aktiviert werden. Die Aktivität dopaminerger Neurone im Nucleus accumbens scheint die gemeinsame Endstrecke der Wirkung fast aller Suchtstoffe zu sein, wobei die Aktivität dieses dopaminergen Systems vielen modulierenden Einflüssen unterliegt. Welchen Einfluss Propofol auf das mesolimbische Belohnungssystem hat, ist derzeit noch unklar.

Propofol ist ein häufig verwendetes Anästhetikum, das in den vergangenen Jahren eine zunehmende Ausweitung des Indikationsbereiches erfahren hat. In der Literatur sind bislang nur einige wenige Fälle von Propofolabhängigkeit beschrieben worden, die ausschließlich Angehörige der Gesundheitsberufe betrafen.

Propofol scheint überwiegend eine entspannende, schlafinduzierte Wirkung zu haben und die Steuerbarkeit der Dosis per Autoapplikation ist relativ problematisch, so dass das Suchtpotenzial dieser Substanz als eher gering einzuschätzen ist. Gleichwohl zeigt diese Kasuistik, dass es sich bei Propofol um eine psychoaktive, bewusstseinsverändernde Substanz handelt, die missbraucht werden kann. Bei Abhängigen aus Gesundheitsberufen scheint es angezeigt, auch eine Propofolabhängigkeit bzw. einen -missbrauch auszuschließen. Aufgrund des erheblichen Gefährdungspotenzials dieser Substanz bei unkontrollierter Anwendung, sollte der Zugriff womöglich reglementiert werden, um etwaige Gefahren durch Suchtentwicklung oder medizinische Komplikationen abzuwenden. Im geschilderten Fall scheint eine Reduktion innerer Anspannungen durch Propofol der Grund für die Einnahme gewesen zu sein, wobei von einer iatrogenen Verursachung auszugehen ist. Die in der Literatur beschriebenen sexuell gefärbten Halluzinationen nach dem Einsatz von Propofol als Anästhetikum scheinen dagegen nicht von Bedeutung gewesen zu sein [12].

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Literatur

  • 1 Kienbaum P, Scherbaum N, Thurauf N, Michel M C, Gastpar M, Peters J. Acute detoxification of opioid-addicted patients with naloxone during propofol or methohexit anesthesia: a comparison of withdrawal symptoms, neuroendocrine, metabolic, and cardiovascular patterns.  Crit Care Med. 2000;  28 969-76
  • 2 Krusz J C, Scott V, Belanger J. Intravenous propofol: unique effectiveness in treating intractable migraine.  Headache. 2000;  40 224-30
  • 3 Follette J W, Farley W J. Anesthesiologist addicted to propofol.  Anesthesiology. 1992;  77 817-818
  • 4 Soyka M, Schutz C G. Propofol dependency.  Addiction. 1997;  92 1369-1370
  • 5 Gundel H, Kuhs H. A case report on a 9-day-long abuse of propofol.  Anaethesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 1992;  27 181-182
  • 6 Odell M. Propofol abuse.  Anaesthesia Intensiv Care. 1999;  27 539
  • 7 Sanna E, Garau F, Harris R A. Novel properties of homomeric beta 1 gamma-aminobutyric acid type A receptors: actions of the anesthetics propofol an pentobarbital.  Mol Pharmacol. 1995;  47 213-217
  • 8 Schulte D, Callado L F, Davidson C, Phillips P E, Roewer N, Schulte a m Esch J, Stamford J A. Propofol decreases stimulated dopamine release in the rat nucleus accumbens by a mechanism independent of dopamine D2, GABAA and NMDA receptors.  Br J Anaesth. 2000;  84 250-253
  • 9 Orser B A, Bertik M, Wang L Y, MacDonald J F. Inhibition by propofol (2,6 di-isopropylphenol) of the N-methyl-D-aspartate subtype of glutamate receptor in cultured hippocampal neurones.  Br J Pharmacol. 1995;  116 1761-1768
  • 10 Jensen A G, Lindroth M, Sjolander A, Eintrei C. Propofol induces changes in the cytosolic free calcium concentration and the cytoskeletal organization of cultured human glial cells and primary embryonic rat brain cells.  Anesthesiology. 1994;  81 1220-1229
  • 11 Yamakage M, Hirshman C A, Croxton T L. Inhibitory effects of thiopental, ketamine and propofol on voltage-dependent Ca2+, channels in porcine tracheal smooth muscle cells.  Anesthesiology. 1995;  83 1274-1282
  • 12 Martinez V illar ML, d'Este G onzalez JP, Aren F rontera JJ. Erotic hallucinations asociated with the use of propofol.  Rev Esp Anesthesiol Reanim. 2000;  47 90-92

Dr. med. Torsten Passie M.A.

Medizinische Hochschule Hannover

Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Email: dr.passie@gmx.de

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Literatur

  • 1 Kienbaum P, Scherbaum N, Thurauf N, Michel M C, Gastpar M, Peters J. Acute detoxification of opioid-addicted patients with naloxone during propofol or methohexit anesthesia: a comparison of withdrawal symptoms, neuroendocrine, metabolic, and cardiovascular patterns.  Crit Care Med. 2000;  28 969-76
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  • 10 Jensen A G, Lindroth M, Sjolander A, Eintrei C. Propofol induces changes in the cytosolic free calcium concentration and the cytoskeletal organization of cultured human glial cells and primary embryonic rat brain cells.  Anesthesiology. 1994;  81 1220-1229
  • 11 Yamakage M, Hirshman C A, Croxton T L. Inhibitory effects of thiopental, ketamine and propofol on voltage-dependent Ca2+, channels in porcine tracheal smooth muscle cells.  Anesthesiology. 1995;  83 1274-1282
  • 12 Martinez V illar ML, d'Este G onzalez JP, Aren F rontera JJ. Erotic hallucinations asociated with the use of propofol.  Rev Esp Anesthesiol Reanim. 2000;  47 90-92

Dr. med. Torsten Passie M.A.

Medizinische Hochschule Hannover

Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Email: dr.passie@gmx.de