Suchttherapie 2001; 2(4): 204-208
DOI: 10.1055/s-2001-19381
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die isolierte Benzodiazepinabhängigkeit in der Hausarztpraxis

The Isolated Dependency on Benzodiazepines Wolfgang Poser1 , Viola Wegerer1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen
Weitere Informationen

Prof. Dr. med. W. Poser

Klinik für Psychiatrie der Universität Göttingen

Von-Siebold-Straße 5

37075 Göttingen

eMail: wposer@gwdg.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. Januar 2002 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Die in der Bevölkerung recht häufige Benzodiazepinabhängigkeit ist meistens eine kombinierte Suchtkrankheit, bei der das Benzodiazepin nicht im Vordergrund steht. Die eher seltene isolierte Benzodiazepinabhängigkeit betrifft überwiegend ältere Frauen. Bis heute ist unklar, ob Unterschiede im Abhängigkeitspotenzial der verschiedenen Benzodiazepine bestehen. Eine Benzodiazepinabhängigkeit ist bei einer einmaligen Untersuchung nicht leicht festzustellen, dem kontinuierlich behandelnden Allgemeinarzt aber meistens aus Verhaltensauffälligkeiten bekannt. Manchmal wird die Abhängigkeit erst durch einen zufälligen und unbeabsichtigten Entzug bekannt, indem ein schweres Entzugssyndrom ausbricht. Die Therapie umfasst Motivation, Entzug durch langsames Herunterdosieren (ambulant oder stationär) und Behandlung der Komorbidität. Der Entzug ist schwierig, vor allem wegen der Komorbidität. Die häufigsten Entzugssymptome sind Schlafstörungen, Angst und Depressionen. In der Entzugsphase besonders gefährlich sind Delirien und Grand-mal-Anfälle. In Einzelfällen ist eine lebenslange Weiterbehandlung mit einem Benzodiazepin indiziert. Die Prognose ist die günstigste aller Suchtkrankheiten.

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The Isolated Dependency on Benzodiazepines

Dependency on benzodiazepines is not a rare disorder, in Germany about 1.4 % of the population are affected. In most cases benzodiazepines are combined with alcohol, other prescription drugs or illegal drugs. Only 12.5 % of all patients use benzodiazepines exclusively. The majority are elderly women. Most patients are dependent (ICD-10), only few are abuser. The diagnosis is difficult, often an unexpected withdrawal syndrom or behavioral abnormalities lead to the diagnosis. Detection of benzodiazepines in urine or serum and EEG may be helpful for diagnosis. Distressing withdrawal symptoms are sleeping difficulties, anxiety and depression. Some patients develop a delirium or seizures during withdrawal. Motivation is a prerequisite for success of treatment. Tapering of the benzodazepines has to be done slowly. Comorbid anxiety or depression have to be treated as well. Mortality of benzodiazepine dependent patients is low, the prognosis is the best of all addictive disorders.

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Vorbemerkungen

Benzodiazepinabhängigkeiten sind keine seltenen Erkrankungen, sie sollen rund 1,2 Mio. = 1,5 % der deutschen Bevölkerung betreffen [1]. Ihre Häufigkeit unter stationären psychiatrischen Patienten wird mit 4,7 % angegeben [2]. Nur ein kleiner Teil davon sind isolierte Benzodiazepinabhängigkeiten, die Mehrzahl kombinierte Benzodiazepine plus andere Suchtstoffe, s. u. In Allgemeinarztpraxen sind bis zu 8 % der Patienten Benzodiazepin-Dauereinnehmer, unter denen sich ein erheblicher Prozentsatz Abhängiger findet [35]. Manche Autoren meinen sogar, dass ein konstanter Zusammenhang zwischen Benzodiazepinverbrauch und Benzodiazepinabhängigkeit besteht; etwa 50 % der Dauerkonsumenten sollen abhängig sein [6]. Allerdings spielen die Struktur der Praxis und die Schulung des Arztes hier eine entscheidende Rolle [4]. Bei der Bezeichnung „Benzodiazepine” schließen wir die analog wirksamen Substanzen Zaleplon (Sonata), Zolpidem (Bikalm) und Zopiclon (Ximovan) ein, die zwar chemisch keine Benzodiazepine sind, aber praktisch genauso wirken.

Viele dieser benzodiazepinabhängigen Patienten sind ausschließlich in hausärztlicher Behandlung. Wenn allerdings im Rahmen der Komorbidität Depressionen oder schwere Angstkrankheiten hinzukommen, wird auch ein Nervenarzt oder Psychiater einbezogen, meist auf Betreiben des Hausarztes. Dann kommt es zu einer gemeinsamen Behandlung, in deren Rahmen dem Hausarzt Verschreibungen, ständige Motivation und gelegentliche Überweisungen anheim fallen. Zu Deutsch: Der Hausarzt trägt meistens die Hauptlast der Behandlung, von ihm kommt oft auch der erste Verdacht in Richtung Abhängigkeit.

Abhängigkeit und Abusus (= schädlicher Gebrauch n. ICD-10) von Benzodiazepinen werden im Folgenden gemeinsam „Benzodiazepinsuchten” genannt; sie manifestieren sich auf sehr unterschiedliche Weise. Einige dieser Suchtformen sind häufig und dramatisch. Das gilt vor allem für die Polytoxikomanie in Form der kombinierten Abhängigkeit von Heroin (oder Methadon!) plus Benzodiazepine. Mancher „Heroinabhängige” ist so schwer von Benzodiazepinen abhängig, dass er durch Benzodiazepine mehr bedroht ist als durch das Opioid. Überhaupt handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um sekundäre Abhängigkeiten. D. h., Benzodiazepine waren nicht der erste sedierende Suchtstoff im Leben. Vorausgegangen war meistens eine Alkohol- oder Heroinabhängigkeit; der Übergang in die Benzodiazepinabhängigkeit erfolgte erst nach Ausbildung der primären Abhängigkeit. Ob die Benzodiazepinabhängigkeit dann in Kombination mit dem primären Suchtstoff fortgesetzt wird, also als Polytoxikomanie, oder isoliert, d. h., das Benzodiazepin wird allein genommen, hängt vom Einzelfall ab. Kombinationsfälle sind häufiger.

Dagegen fallen die isolierten Benzodiazepinsuchten (Benzodiazepine waren die einzigen Suchtstoffe im Leben) im Praxisalltag wegen ihres meist blanden Verlaufes kaum auf, ebenso wenig wie im klinischen Bereich. Dabei liegt meistens eine Abhängigkeit vor, Abusus ist hier selten.

In dieser Arbeit wird für die Suchtkranken bzw. die Patienten einheitlich das grammatikalisch männliche Geschlecht benutzt. Die Betroffenen sind aber überwiegend Frauen. Sie sind meistens über 50 Jahre alt und multimorbide. Oft ist die Benzodiazepinabhängigkeit nur ein Nebenaspekt ihres Erkrankungsbündels. Weiterhin taucht im vorliegenden Text oft der Begriff Sucht auf. Er wird als Oberbegriff gebraucht und umfasst die Diagnosen Abusus (= Missbrauch = schädlicher Gebrauch im Sinne von ICD-10) und Abhängigkeit. Damit entspricht der Begriff Sucht dem amerikanischen PSUD = psychoactive substance use disorder.

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Verlaufsformen der Benzodiazepinsuchten

Wir haben Entstehung, Verlauf und Ende der Benzodiazepinsuchten (Abusus und Abhängigkeit) seit 1974 im Rahmen der Suchtkatamnese Südniedersachsen untersucht und einen Teil der Ergebnisse publiziert [79]. Zum Stichtag 1.7.2001 haben wir insgesamt 1885 Fälle gefunden.

Die große Mehrzahl der untersuchten Fälle waren Abhängigkeiten (87,5 %), Abusus war die Ausnahme (12,5 %). Unter den isolierten Benzodiazepin-Einnehmern war der Anteil von Abususpatienten mit 8,0 % sogar noch geringer. Daher lassen wir den Abusus (= schädlicher Gebrauch nach ICD-10) im Folgenden weg.

  1. die isolierte Niedrigdosis-Abhängigkeit von Benzodiazepinen (Niedrigdosis = Tagesdosis im therapeutischen Bereich): 102 Fälle

  2. die isolierte Hochdosis-Abhängigkeit von Benzodiazepinen (Hochdosis = Tagesdosis über dem therapeutischen Bereich): 87 Fälle

  3. die Mischabhängigkeit mit anderen Arzneimitteln: 327 Fälle

  4. die Mischabhängigkeit mit Alkohol: 777 Fälle

  5. die Mischabhängigkeit mit illegalen Drogen (einschl. Alkohol): 592 Fälle

Diese Arbeit befasst sich nur mit den Formen 1 und 2, d. h. mit Patienten, die lebenslang keine anderen Suchtstoffe genommen haben als Benzodiazepine (Nikotin und Koffein ausgenommen). Die übrigen Verlaufsformen werden so deutlich von den anderen Suchtstoffen geprägt, dass sie eben keine isolierten Benzodiazepinabhängigkeiten mehr sind.

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Probleme der isolierten Benzodiazepinabhängigkeit

Auf dem deutschen Markt sind zahlreiche Benzodiazepine verfolgbar, dazu 3 wirkverwandte Substanzen (Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon). Diese Substanzen haben unterschiedliche Affinitäten zu den Benzodiazepinrezeptoren im ZNS. Daher sind die für den gleichen oder einen ähnlichen Effekt erforderlichen Dosen sehr unterschiedlich. Bei Triazolam werden etwa 0,5-1 mg für einen vollen Effekt benötigt, bei Dikaliumclorazepat 50-100 mg. Der jeweilige Maximaleffekt ist aber stets der gleiche. Die Äquivalenztabelle (Tab. [1]) zeigt die relative Wirkstärke im Vergleich zur Standardsubstanz Diazepam. Ob irgendeine dieser Substanzen ein höheres Abhängigkeitspotenzial hat als z. B. Diazepam, ist bis heute unklar. Dem Lorazepam wird immer ein besonders hohes Abhängigkeitspotenzial nachgesagt [10] [11], was nie wirklich bewiesen wurde. Möglicherweise liegt es einfach an der hohen und von den Anwendern unterschätzten Wirkstärke dieser Substanz.

Tab. 1 Äquivalenztabelle für Benzodiazepine und analoge Substanzen im Vergleich zur Standardsubstanz Diazepam[*]*
Substanz (Firmenname)Äquivalenzdosis (in mg)
Alprazolam (Tafil)1,5
Bromazepam (Lexotanil)6
Brotizolam (Lendormin)0,5
Chlordiazepoxid (Librium)20
Clobazam (Frisium)20
Clonazepam (Rivotril)2
Diazepam (Faustan, Valium) 10
Dikaliumclorazepat (Tranxilium)20
Flunitrazepam (Rohypnol)0,5
Flurazepam (Dalmadorm)30
Loprazolam (Sonin)1,5
Lorazepam (Tavor)2
Lormetazepam (Noctamid)1
Medazepam (Rudotel)20
Midazolam (Dormicum)7,5
Nitrazepam (Mogadan, Radedorm)5
Nordazepam (Tranxilium N)20
Oxazepam (Adumbran)40
Prazepam (Demetrin)20
Temazepam (Planum)20
Tetrazepam (Musaril)20
Triazolam (Halcion)0,5
Zaleplon (Sonata)20 ?
Zolpidem (Bikalm)20 ?
Zopiclon (Ximovan)15 ?
* Die Tabelle ist nur als ungefähre Orientierung im Suchtbereich zu betrachten. Zum Beispiel ist es kaum möglich, das sehr langwirksame Diazepam und das recht kurz wirksame Zolpidem „unter einen Hut zu bringen”. Für einige neuere Substanzen (Zopiclon, Zolpidem) ist die Schätzung noch sehr unsicher. Dikaliumclorazepat wird manchmal auch als Clorazepat bezeichnet. Die Tabelle basiert auf Literaturangaben [7]. Die Firmennamen in Klammern sind als Beispiele gedacht, nicht als vollständige Übersicht.

Die isolierte Benzodiazepinabhängigkeit (vor allem die Niedrigdosis-Abhängigkeit) ist viel weniger problematisch als die kombinierten Benzodiazepinsuchten, die erst durch die Kombination wirklich maligne werden. Damit stellt sich die Frage: Soll man sie überhaupt behandeln? Dafür sprechen 7 (potenzielle) Folgeprobleme:

  • Das Benzodiazepin verliert seine Wirkung (späte Toleranzbildung, evtl. nach Jahrzehnten!).

  • Ein Teil der isoliert Benzodiazepinabhängigen ist durch die Dauermedikation behindert (mnestische Störungen, Stürze, Anhedonie).

  • Eine problemlose Niedrigdosis-Abhängigkeit kann in eine erheblich problematischere Hochdosis-Abhängigkeit übergehen.

  • Auch bei Niedrigdosis-Abhängigkeit sind schwere Entzugserscheinungen möglich.

  • In Kombination mit Alkohol kann es zu bedrohlichen Mischintoxikationen kommen.

  • Die isolierte Benzodiazepinabhängigkeit kann in eine Polytoxikomanie übergehen, die dann doch gefährlich wird.

  • Die Tages-Medikamentenkosten sind zwar niedrig, aber über die Jahrzehnte müssen die Krankenkassen bei einigen Präparaten erhebliche Geldsummen erbringen. Wir haben deshalb modellhaft die Jahres-Medikamentenkosten für Benzodiazepinabhängigkeiten berechnet (Tab. [2]). Es fällt auf, dass die Preise recht unterschiedlich sind, bei etwa gleicher Wirkung.

Tab. 2 Jahres-Medikamentenkosten bei Niedrigdosis- und Hochdosis-Abhängigkeit von Benzodiazepinen und verwandten Substanzen[]*
Firmenpräparat (Inhaltsstoff)TagesdosisJahreskosten (aufgerundet in DM)
Niedrigdosis-A.Hochdosis-A.Niedrigdosis-A.Hochdosis-A.
Dalmadorm (Flurazepam)30 mg150 mg279,-1 397,-
Diazepam ratiopharm (Diazepam)15 mg75 mg63,-315,-
Lexotanil (Bromazepam)6 mg30 mg240,-1 198,-
Stilnox (Zopiclon)10 mg50 mg558,-3 340,-
Tafil (Alprazolam)1,5 mg7,5 mg475,-2 377,-
Tavor (Lorazepam)3 mg15 mg343,-1 715,-
Valium Roche (Diazepam)15 mg75 mg311,-1 554,-
* Bei der Berechnung der Kosten wurden jeweils die größten Packungen mit der stärksten Tablettenform lt. Gelber Liste eingesetzt. Als Niedrigdosis-Abhängigkeit wurde bei den Tranquillanzien eine hohe mittlere therapeutische Dosis angenommen, bei der Hochdosis-Abhängigkeit etwa die 5fache mittlere Tagesdosis. Bei den Schlafmitteln wurde von konkreten Fällen der eigenen Klinik ausgegangen.
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Die Diagnose der (isolierten) Benzodiazepinabhängigkeiten

Nicht jeder Benzodiazepinkonsument ist abhängig; nicht einmal jeder Dauerkonsument. Selbst nach jahrelanger Einnahme können viele Dauerkonsumenten „ihr Benzo” absetzen, ohne dass sie Entzugserscheinungen bekommen oder sich eine deutliche Gier auf den Stoff zeigt. Die Schwere der Abhängigkeit ist in gewissem Umfang absehbar [7] [12]. Patienten mit vorhergehender anderer Abhängigkeit - meist ein Alkoholismus - sind regelmäßig schwerer abhängig als Patienten, die ihr Leben lang ausschließlich Benzodiazepine genommen haben. Auch Benzodiazepindosis, Dauer der Benzodiazepin-Einnahme und Allgemeinzustand spielen eine Rolle. Wir schätzen in Übereinstimmung mit der Literatur, dass nach jahrelangem Konsum nur etwa die Hälfte der kontinuierlichen Einnehmer abhängig geworden ist [6].

ICD-10 schlägt bestimmte Kriterien für die Diagnose einer Benzodiazepinabhängigkeit vor. Nur wenn diese Kriterien erfüllt sind, darf die Diagnose gestellt werden. Für Abhängigkeit und Abusus (= schädlicher Gebrauch) gibt es differenzierende Merkmale. Diese Kriterien haben die früher oft nutzlosen Diskussionen, was Sucht, Abhängigkeit, Missbrauch, echte Sucht usw. sei, weitgehend beendet. Sie sollten für die Diagnostik stets eingesetzt werden. Allerdings haben sie einen Mangel: Es fehlt der rasche Wiedererwerb der alten Abhängigkeit bei Rückfall, auch nach langer Abstinenz, was sehr charakteristisch für jede Abhängigkeit ist. Jeder nikotinabhängige Raucher hat es anlässlich seiner Rückfälle kennen lernen müssen.

Die Abhängigkeit wird durch die spezielle Bindung des Patienten an „sein Benzo” und durch Entzugserscheinungen in Entzugssituationen deutlich. Diese Bindung zeigt die psychische Abhängigkeit an. Sie drückt sich in typischen Verhaltensweisen aus:

  • Der Patient kennt Namen und Beipackzettel seines Medikaments bestens. Er kennt oft auch die Generika und Analogpräparate.

  • Der Patient sorgt dafür, dass er immer einen Vorrat seines Medikaments hat (Reserverezept!).

  • Notfalls greift der Patient sogar zu semikriminellen Praktiken, um die Versorgung mit seinem Medikament sicherzustellen (Beschaffung über Dritte, Rezeptfälschung, Rezeptdiebstahl).

  • Der Patient bevorzugt Rezeptbeschaffung per Post oder über Dritte.

  • Der Patient widersetzt sich Entzugsversuchen.

  • Das ganze Lebensinteresse verengt sich in Richtung Medikament. Eine deutliche psychische Bindung an „sein Benzo” ist erkennbar.

Wenn ein Benzodiazepin-Abhängiger die Zufuhr seines Stoffes plötzlich beendet, treten psychische und physische Entzugssymptome auf. Die Symptome ähneln denen im Alkoholentzug, ohne ihnen zu gleichen. Sie sind sehr vielgestaltig; Leitsymptome sind quälende Einschlafstörungen, Angstzustände, Depressionszunahme und perzeptuelle Störungen (= Wahrnehmungsstörungen). Vital bedrohlich sind Entzugsdelirien und Entzugskrampfanfälle.

Perzeptuelle Störungen im Entzug beunruhigen den Patienten massiv. Es handelt sich um veränderte Wahrnehmungen: Normale Sinnesreize werden verstärkt oder verändert wahrgenommen [11] [13]. Beispielsweise erscheint das gewohnte Deckenlicht unangenehm grell, die geliebte CD hört sich blechern an, der Fußboden wirkt wie mit einem dicken Teppich belegt, obwohl es ein glatter PVC-Fußboden ist. Sogar Synästhesien sind möglich: Der Patient nimmt ein lautes Geräusch als unangenehmen Geruch wahr oder er spürt helles Licht als Tastwahrnehmung am Hinterkopf. Diese Wahrnehmungsstörungen treten in fast allen Benzodiazepinentzügen auf, sind aber nicht ganz spezifisch, d. h., in angedeuteter Form können sie auch im Alkoholentzug vorkommen. Da die Patienten wegen dieser perzeptuellen Störungen glauben, „verrückt” zu werden, verheimlichen sie diese Symptome. Sie sind aber erleichtert, wenn der Arzt sie darauf anspricht.

Drei technische Methoden können bei der Diagnose helfen, reichen aber allein nicht aus: der Urinnachweis, die Plasmakonzentrations-Bestimmung und das EEG (beweisen nur die Exposition, nicht die Abhängigkeit). Für die Suchtdiagnose sind in jedem Fall Anamnese und klinischer Befund zusätzlich erforderlich.

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Die Therapie der (isolierten) Benzodiazepinabhängigkeiten

Die Behandlung der isolierten Benzodiazepinabhängigkeiten ist schwierig, aber letztendlich befriedigend, weil häufig erfolgreich. Folgende Therapieprinzipien stehen im Mittelpunkt:

  1. Prüfen, ob eine abstinenzorientierte Therapie indiziert ist,

  2. den Patienten überzeugen, dass er abhängig ist,

  3. einen ambulanten Entzugsversuch, nach dessen Scheitern stationär,

  4. niemals absetzen, immer nur langsam herunterdosieren („ausschleichen”),

  5. Komorbidität (Begleiterkrankungen) beachten und adäquat behandeln.

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Zu 1 (prüfen, ob eine abstinenzorientierte Therapie lohnt)

Da der Entzug von Benzodiazepinen oft mehrere Monate dauert und mit erheblichen Leiden verbunden ist, sollte er nur dann in Angriff genommen werden, wenn er sich lohnt. Die Leiden des Entzuges sollten durch eine lang dauernde Besserung des Gesamtzustandes aufgewogen werden. Die Autoren sind der Meinung, dass Entzugsvoraussetzung eine mindestens 2-jährige Lebenserwartung ist. Inkurable Malignompatienten und Herzinsuffiziente sollte man nicht entziehen. Auch bei Hochbetagten ist von einer abstinenzorientierten Therapie eher abzuraten.

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Zu 2 (den Patienten überzeugen, dass er abhängig ist)

Oft ist es gar nicht schwer, den Patienten von seiner Abhängigkeit zu überzeugen, er weiß es nämlich schon. In anderen Fällen sind jahrelange Überzeugungsversuche, Mithilfe der Angehörigen und einige schwere Entzugssyndrome nötig, bis er begreift, dass er abhängig ist und geordnet entziehen muss. Erfahrungsgemäß gelingt diese Überzeugungsarbeit bei Benzodiazepinabhängigen leichter als bei Opioidabhängigen. Letztere wissen zwar auch, dass sie abhängig sind, unterliegen aber der geradezu wahnhaften Überzeugung, dass „die Gesellschaft” ihren Suchtstoff bis ans Lebensende kostenfrei bereitstellen müsse.

Ein literarisches Zeugnis einer Benzodiazepin-Abhängigkeit ist der Roman „Ich tanze so schnell ich kann” von Barbara Gordon [14]. Die Autorin, eine Fernsehjournalistin, beschreibt darin die letzten Tage ihrer Diazepam-Abhängigkeit, ihren Entzug und ihr Nüchternwerden. Bemerkenswert an dem Buch ist nicht der literarische Wert, es überzeugen vielmehr die Sorgfalt und die Ehrlichkeit der Selbstbeobachtung. Die Autorin litt zum Beginn des Buches trotz ihrer hohen Diazepamdosis an schweren Angstzuständen, am Ende ist sie nach über 1-jähriger Abstinenz angstfreier und tatkräftiger, aber nicht ganz zufrieden. Die Autorin litt an einer Agoraphobie. Viele betroffene Patienten lesen dies Buch gern und fühlen sich verstanden, obwohl der Entzug bei der Autorin durch plötzliches Absetzen ungewöhnlich schwer verlaufen war. Es ist deshalb für die Motivationsarbeit sehr zu empfehlen.

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Zu 3 (zunächst einen ambulanten Entzugsversuch, dann erst stationär)

Die Mehrzahl der Benzodiazepinabhängigen müsste zwar stationär entzogen werden. Es ist aber oft schwer, ein „Entzugsbett” zu finden und den Patienten von der Notwendigkeit des stationären Aufenthaltes zu überzeugen. Daher wird man zunächst einen ambulanten Entzugsversuch starten. Scheitert er, kann man die stationäre Entgiftung immer noch nachziehen. Wenn Grand-mal-Anfälle oder Delirien aus der Vorgeschichte bekannt sind, kann ein ambulanter Entzugsversuch nicht verantwortet werden.

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Zu 4 (niemals absetzen, immer nur langsam herunterdosieren)

Wenn die langjährige Zufuhr eines Benzodiazepins plötzlich beendet wird, kann ein Entzugssyndrom von solcher Intensität auftreten, dass der Patient in Lebensgefahr gerät. Dies vermeidet man durch langsames Herunterdosieren („ausschleichen”, „abdosieren”). Die Autoren benutzen dafür stets ein lang wirksames Benzodiazepin, meist das kostengünstige und gut untersuchte Diazepam. Sie setzen kürzer wirksame Substanzen nach der Äquivalenztabelle (Tab. [1]) auf Diazepam um und beginnen mit 50 % der regelmäßig vom Patienten genommenen Dosis (im ambulanten Bereich 75 %). Dann wird langsam herunterdosiert, im ambulanten Bereich etwa alle 4 Wochen halbiert, im stationären Bereich etwa alle 1-2 Wochen. Bei diesem Vorgehen wird die Dosisreduktion also immer langsamer („semilogarithmischer Entzug”), was der Beobachtung Rechnung trägt, dass die letzten Milligramme die schwersten sind.

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Zu 5 (Komorbidität beachten und adäquat behandeln)

Fast alle Benzodiazepinabhängigen haben eine Krankheit als Ausgangspunkt ihrer Sucht. Diese „Grundkrankheit” wird sich in der Entzugsphase intensivieren oder sie wird erneut ausbrechen. Manchmal tritt auch eine neue Begleiterkrankung erstmalig im Verlauf der Benzodiazepinabhängigkeit auf, z. B. eine Depression im Entzug. Sie muss adäquat behandelt werden, andernfalls scheitert der Entzug. Grundsatz der Behandlung der Komorbidität ist: keine Suchtstoffe! Häufigste „Grundkrankheiten” und mögliche Therapien sind:

  • Angstzustände (Verhaltenstherapie, selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren)

  • Depressionen (Antidepressiva, Verhaltenstherapie)

  • Schmerzzustände (physikalische Therapien, nichtsteroidale Antiphlogistika)

  • Schlafstörungen (sedierende Antidepressiva wie Doxepin oder Trimipramin)

  • muskuläre Verspannungen (physikalische Therapien, vor allem mit Wärme)

Die Komorbidität wird bei Benzodiazepinabhängigen ebenso behandelt wie bei Nichtabhängigen, lediglich Benzodiazepine müssen konsequent herunterdosiert werden und dürfen nach Abschluss der Entzugsphase keinesfalls wieder angesetzt werden. Der Allgemeinarzt wird bei der Mehrzahl dieser Krankheiten und Zustände den jeweils zuständigen Facharzt zumindestens konsiliarisch hinzuziehen müssen. Keiner der Beteiligten darf aber das Gesamtkonzept durch erneute Benzodiazepingabe (auch in Form einer zusätzlichen Substanz) stören.

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Die Prognose der (isolierten) Benzodiazepinabhängigkeiten

Die Frage nach der Prognose von Benzodiazepinabhängigkeiten enthält eigentlich 2 Fragen:

1. Wie verlaufen die Benzodiazepinabhängigkeiten?

2. Welchen Einfluss hat das Nüchternwerden auf das Leben des Patienten?

Beide Fragen können nur teilweise beantwortet werden, die erste besser als die zweite.

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Zu Frage 1 (Wie verlaufen die Benzodiazepinabhängigkeiten?)

Die Benzodiazepinabhängigkeit hat eine geringere Übersterblichkeit und bessere Abstinenzchancen als z. B. die Alkoholabhängigkeit. Letztere verläuft in jeder Hinsicht bösartiger [8] [9]. Bei keiner anderen Suchtkrankheit werden so hohe Abstinenzraten erreicht wie bei der Benzodiazepinabhängigkeit.

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Zu Frage 2 (Welchen Einfluss hat das Nüchternwerden auf das Leben des Patienten?)

Diese Frage ist kaum untersucht. Die Autoren kennen einige dauerhaft benzodiazepinfrei gewordene Patienten, denen es sehr gut geht. Andere berichten, dass es ihnen zwar nicht wirklich gut gehe, der nüchterne Zustand mit all seinen seelischen Schmerzen und Leiden sei aber besser als das „Grau-in-Grau” unter Benzodiazepinen [14]. Praktisch alle berichten, der Angstlevel in der Abstinenz sei niedriger als der „unter Stoff”. Viele Patienten werden in der Abstinenz nicht völlig gesund, kommen aber mit einer alternativen Behandlung viel besser zurecht als mit den antriebsmindernden Benzodiazepinen. Einige wenige Patienten haben unter Benzodiazepinen eine bessere Lebensqualität als in der Abstinenz. Sie wird man wieder auf ein Benzodiazepin einstellen, am besten auf eine lang wirksame Substanz wie Diazepam oder Dikaliumclorazepat.

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Literatur

  • 1 Glaeske G. Psychotrope und andere Arzneimittel mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential. DHS. Jahrbuch Sucht 2001 Geesthacht; Neuland 2000: 63-79
  • 2 Schmidt L G, Grohmann R, Müller-Oerlinghausen B, Rüther E, Wolf B. Prevalence of benzodiazepine abuse and dependence in psychiatric patients with different nosology. An assessment of hospital-based suveillance data.  Br J Psychiatry. 1989;  154 839-843
  • 3 Khan A, Hornblow A R, Walshe J W. Benzodiazepine dependence: a general practice survey.  N Z Med J. 1981;  93 19-21
  • 4 Linden M, Gothe H. Specialty training and the personal use of benzodiazepines by physicians affect their proneness to prescribe tranquilizers.  Pharmacopsychiatry. 1998;  31 39-41
  • 5 Melchinger H. Verordnungspraxis von Medikamenten mit Abhängigkeitspotential.  Z Allg Med. 1993;  69 3-10
  • 6 Pelissolo N WJ, Haddad R S, Baddoura R, Baddoura C. A general population survey on pattern of benzodiazpine use and dependence in Lebanon.  Acta Psychiatrica Scand. 2000;  102 429-431
  • 7 Poser W, Poser S. Medikamente - Mißbrauch und Abhängigkeit. Entstehung - Verlauf - Behandlung. Stuttgart; Thieme 1996
  • 8 Poser W, Poser S, Thaden A, Eva-Condemarin P, Dickmann U, Stötzer A. Mortalität bei Patienten mit Arzneimittelabhängigkeit und Arzneimittelabusus.  Suchtgefahren. 1990;  36 319-331
  • 9 Poser W, Poser S, Eva-Condemarin P. Mortality in patients with dependence on presciption drugs.  Drug Alcohol Dependence. 1992;  30 49-57
  • 10 Kemper N, Poser W, Poser S. Benzodiazepin-Abhängigkeit.  Dtsch Med Wschr. 1980;  105 1707-1712
  • 11 Laux G, König W. Benzodiazepine: Langzeiteinnahme oder Abusus?.  Dtsch med Wschr. 1985;  110 1285-1290
  • 12 Salzman C. Addiction to benzodiazepines.  Psychiatr Q. 1998;  69 251-261
  • 13 Schöpf J. Withdrawal phenomena after long term administration of benzodiazepines. A review of recent investigations.  Pharmacopsychiat. 1983;  16 1-8
  • 14 Gordon B. Ich tanze so schnell ich kann. München; Kindler 1980

Prof. Dr. med. W. Poser

Klinik für Psychiatrie der Universität Göttingen

Von-Siebold-Straße 5

37075 Göttingen

eMail: wposer@gwdg.de

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  • 1 Glaeske G. Psychotrope und andere Arzneimittel mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential. DHS. Jahrbuch Sucht 2001 Geesthacht; Neuland 2000: 63-79
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Prof. Dr. med. W. Poser

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