Erwerbslose sollen kreativ sein - ein eigenes Unternehmen
gründen, ihre Lebenssituation in die Hand nehmen, Arbeitslosigkeit als
Chance nutzen. Aber das Gegenteil ist häufig der Fall. Viele Arbeitslose
zeigen Mühe mit Eigeninitiative und -verantwortung. In meinen folgenden
Überlegungen gehe ich von folgender Hypothese aus: Die Zerstörung
bestimmter gesellschaftlicher Werte führt zu einer tiefen
Erschütterung des Vertrauens in sich und andere Menschen, was das
Gefühl der Eigenverantwortung, d. h. sich als handelnde Person, die
sich zutraut, Verantwortung für ihre Lebenssituation zu übernehmen,
untergräbt. Um das Gefühl der Eigenverantwortung aufrecht erhalten zu
können, braucht es einen sozialen Rahmen, der Sicherheit und Anerkennung
gewährleistet - beides ist unter den aktuellen gesellschaftlichen
Bedingungen nicht der Fall.
In einem ersten Teil meiner Ausführungen gebe ich einen kurzen
Überblick über die seelischen Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit.
Ich zeige auf, dass Arbeitslosigkeit eine kumulativ traumatisierende Wirkung
haben kann, die das Gefühl der Eigenverantwortung schädigt.
Anschließend zeige ich anhand eines Beispiels, welche seelischen
Einstellungen gefördert werden müssen und welche gesellschaftlichen
Bedingungen notwendig wären, um die mit Erwerbslosigkeit einhergehenden
destruktiven intrapsychischen Prozesse verhindern oder zumindest in ihren
Folgen mildern zu können.
In meinen Überlegungen werde ich mich zwar auf die Situation
von Erwerbslosen beziehen, doch die seelischen Probleme und destruktiven
Anpassungsstrategien, die Erwerbslose zur seelischen Stabilisierung und
Bewältigung ihrer sozialen Situation benutzen - aber auch die von
mir vorgeschlagenen Lösungswege - sind durchaus übertragbar auf
Menschen, die kurzfristig ihre Stelle verlieren oder in der ständigen
Unsicherheit leben, dass eine Kündigung jederzeit möglich wäre
- ein Zustand, der für einen Großteil der in einem
Anstellungsverhältnis stehenden Berufstätigen heute zur
Normalität geworden ist.
1. Die seelischen Folgen der Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit führt generell zu einer Beeinträchtigung
des physischen und psychischen Wohlbefindens. Viele arbeitslose Menschen
erleben massive Einbrüche im Selbstwertgefühl, die bis hin zu
schweren Depressionen führen können. Lebensfreude und
Selbstzufriedenheit schwinden. Arbeitslose berichten über Unsicherheit,
innere Spannungen und Erschöpfungszustände [1]. Die Ergebnisse einer eigenen Studie
[2 5] legen nahe, dass vor allem der Bereich der
Selbstgefühle -Identität, Kompetenz- und
Verantwortungsbewusstsein - durch die Arbeitslosigkeit
beeinträchtigt wird: Das sichere und stabile Bewusstsein einer eigenen
Identität kann durch Arbeitslosigkeit stark geschädigt werden. Das
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten nimmt ab. Der Glaube an die eigene
Veränderungsfähigkeit wird ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie das
Gefühl, Einfluss auf die Gestaltung der eigenen Lebenssituation
ausüben zu können. Die von mir gefragten Erwerbslosen erlebten sich
nicht als handlungsfähige Personen, sondern als Opfer - hilflos
ihrer Situation ausgeliefert, aber gleichzeitig erdrückt von
ungerechtfertigten Schuld- und Verantwortungsgefühlen.
Nach längerer Arbeitslosigkeit berichteten alle in meiner
Studie befragten Erwerbslosen, dass sie immer gleichgültiger und
apathischer würden, sie eigentlich an nichts mehr Interesse
hätten.
Irgendwann während ihrer Arbeitslosigkeit litten alle Befragten
an Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und psychosomatischen
Beschwerden wie Kopf- oder Magenschmerzen.
Bei den Befragten der eigenen Studie zeigte sich auch ein typischer
Verlauf der seelischen Verarbeitung der Arbeitslosigkeit [6]
[7]:
Am Anfang kann Arbeitslosigkeit effektiv als Erleichterung erlebt
werden, weil man sich z. B. nicht mehr den belastenden Bedingungen am
Arbeitsplatz aussetzen muss, aber nach wenigen Monaten ändert sich oft das
Befinden. Es folgt eine Phase der Auflehnung, in der Gefühle der Ohnmacht,
Depression und Wut abwechseln: Wut, dass alle Bemühungen nichts nutzen,
zwecklos bleiben. In der dritten Phase macht sich allmählich Verzweiflung
breit, und die Betroffenen gleiten in die vierte Phase der Apathie, in der
ihnen alles gleichgültig zu werden scheint. Die Dauer der einzelnen
Abschnitte und die Intensität der beschriebenen Gefühle sind von
Person zu Person recht unterschiedlich.
Der mehr oder weniger typische Verlauf und die mehrheitlich
ähnlichen Beschwerden sprechen dafür, dass Arbeitslosigkeit auf alle
Betroffenen eine schädigende Wirkung hat. Warum das so ist, lässt
sich am ehesten verstehen, wenn man die geschilderte Symptomatik als Ausdruck
eines seelischen Traumas auffasst. In meiner Studie [2]
[8] habe ich gezeigt, dass die
beschriebenen Beschwerden - wenn auch in abgemilderter Form -, den
Symptomen entsprechen, die als Folge schwerer Traumatisierungen betrachtet
werden.
Mit dem Begriff Trauma werden im Alltagsverständnis schwere
äußere Eingriffe wie z. B. Gewaltverbrechen oder
Kriegserlebnissen verknüpft. Arbeitslosigkeit ist kein solch massives
einmaliges Schocktrauma [9]. Arbeitslosigkeit ist ein
kumulatives Trauma [10], das dadurch gekennzeichnet
ist, dass über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder belastende
Erfahrungen gemacht werden, die in ihrer Wiederholung, in ihrer Summation
traumatisierend wirken. Täglich erleben Arbeitslose sogenannte
„Mikro-Traumen” in Form von Zurückweisung, Kränkungen,
Misstrauen und Entwertungen, die langsam den psychischen Boden, das
Grundvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in andere Menschen
zerstören können.
Wie beeinflussen traumatische Erfahrungen das Gefühl der
Eigenverantwortung? Eigenverantwortung heißt, Verantwortung für die
eigene Lebenssituation zu übernehmen. Um dies leisten zu können, ist
Voraussetzung, dass man sich zutraut, die eigene soziale Situation und das
eigene psychische Befinden beeinflussen zu können. Aus der Traumaforschung
ist bekannt, dass eine typische Folge von Traumata gerade der Verlust des
Gefühls ist, sich als handelnde Person wahrzunehmen [11] . Traumatisierte Menschen erleben sich als hilflose
Opfer, hoffnungslos einer sie schädigenden Umwelt ausgeliefert. Ausdruck
dieser Sinn- und Hoffnungslosigkeit ist eine apathische Grundstimmung, die
häufig mit Depression verwechselt wird. Negative Endphase des
beschriebenen Verlaufs der seelischen Verarbeitung der Arbeitslosigkeit ist
- wie ich zuvor ausgeführt habe - tiefe Apathie und
Gleichgültigkeit.
Um das Gefühl der Eigenverantwortung aufrecht erhalten zu
können, müssen bestimmte intrapsychische Bedingungen erfüllt
sein: Vorstellungen, deren Grundlagen auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung
zurückgehen. Aufgrund der Erfahrung, angenommen, geliebt und verstanden zu
werden, bilden sich unbewusste Grundüberzeugungen: die Überzeugung,
in ausweglos erscheinenden Situationen Hilfe von einem mächtigen
Beschützer zu erhalten und der Glaube daran, sich selbst auch in
schwierigen Situation helfen zu können. Bei diesen als Gefühl der
Sicherheit spürbaren narzisstischen Phantasien unterscheidet Kohut
[12] zwischen „idealisierten
Elternimago” (z. B. die Überzeugung, einen mächtigen
Beschützer im Hintergrund zu haben oder eins mit einer machtvollen Person
zu sein) und Größenselbstvorstellungen, wie z. B. die
Phantasie, einzigartige Attribute oder besondere Kräfte zu haben
[12]. Diese beiden Formen narzisstischer Phantasien
bilden sich im Laufe der ersten Lebensjahre, müssen im Verlauf der
Entwicklung modifiziert und altersentsprechend in die Persönlichkeit
integriert werden. Sie sind die Grundlage für ein gesundes
Selbstvertrauen, d. h. die Vorraussetzung dafür, dass sich ein
solches entwickeln kann.
Die soziale Situation von Arbeitslosen erschwert es den Betroffenen
oder macht es sogar auf die Dauer unmöglich, ihr Vertrauen in sich und
andere wahren zu können, weil die Realität von Erwerbslosen
grundlegende, lebensnotwendige narzisstische Phantasien in Frage stellt.
Für diese Annahme sprechen folgende Gründe:
-
Die Erfahrung immer wiederkehrender Hilflosigkeit und nicht zu
leugnender Abhängigkeit erschweren die Aufrechterhaltung des
Grundvertrauens in die eigenen Fähigkeiten und die soziale Umwelt. Wie
hilflos und abhängig sich die Befragten meiner Studie
[2] gegenüber ihrer Situation fühlten, zeigt
u. a. der Befund, dass nach 6 Monaten Erwerbslosigkeit alle
Studienteilnehmer angaben, den Erfolg bei der Stellensuche nicht von ihren
Bemühungen abhängig zu sehen.
-
Nicht mehr am Staat bzw. den Politikern die Illusion festmachen
zu können, dass es doch noch die „guten” Eltern gibt, die
auch in ausweglos erscheinenden Situationen für Recht und Hilfe sorgen,
stellt idealisierte Elternimagines überhaupt in Frage. Alle in meiner
Studie [2] Befragten äußerten sich
z. B. enttäuscht über den Staat und die Politiker und
fühlten sich verraten. Sie sahen durch die Erfahrungen der
Arbeitslosigkeit ihre persönlichen Werte und Ideale in Frage gestellt. Ein
Studienteilnehmer, Herr E., drückte die Erfahrung trotz Fleiß,
Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit gekündigt worden zu sein, wie
folgt aus: „Da schaffst du ein halbes Leben lang, und dann bist du
einfach nichts.” Er „verstand” die Entlassung nicht. Die
Werte, die sein bisheriges Leben prägten, galten plötzlich nichts
mehr. Auch nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit beschäftigte ihn die
Diskrepanz zwischen den mit der Erwerbslosigkeit verknüpften Erlebnissen
und eigenen Normvorstellungen. Er beschuldigte z. B. seinen ehemaligen
Chef der Unehrlichkeit und kritisierte die Entwicklung unserer Gesellschaft, in
der Werte wie Erfahrung und Verlässlichkeit nichts mehr gelten.
-
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Weller
[13], der in seiner Studie das Verhältnis von
Erwerbslosen zum Arbeitsamt untersuchte. Weller erwähnt die
Übertragung elterlicher Omnipotenz auf das Arbeitsamt und die
entsprechenden Enttäuschungsreaktionen: „Man stellt verblüfft
fest, daß man jahrelang kein Stellenangebot zugesendet oder mitgeteilt
bekommt, was eine große Enttäuschung bzgl. der erwarteten
elterlichen Omnipotenz der vermeintlichen Vermittler darstellt. Das kann in die
triumphierend-bittere Erkenntnis kippen, daß verloren und verlassen ist,
wer sich auf das Arbeitsamt verlässt” (S. 23),
[13].
Was geschieht, wenn die Realitätserfahrung den eigenen Werten
widerspricht? Wenn die Diskrepanz zwischen Vorstellungen und
Realitätswahrnehmung offensichtlich wird?
Dem Angriff auf das Grundvertrauen
begegneten die von mir gefragten Erwerbslosen, indem sie eine Regression auf
eine Position zeigten, in der man sich von übermächtigen Mächten
abhängig fühlt.
Regression bedeutet Rückfall auf „kindliche”
Einstellungen: Man gibt die Kontrolle anderen ab, die in der eigenen
Vorstellung mit großer Macht ausgestattet werden. Z.B. äußerte
ein von mir befragter Erwerbsloser die Überzeugung, sein Vorgesetzter
hätte die Macht gehabt, die Kündigung zu verhindern, obwohl er
wusste, dass die eigene Stelle wegen strukturellen Veränderungen
wegrationalisiert wurde.
Abgabe von Verantwortung kann als Bewältigungsversuch
verstanden werden, um Hilflosigkeit und Unsicherheit zu meistern, indem man
sich innerlich in die Position eines Kindes versetzt, dass nur durch die Hilfe
Erwachsener aus einer überfordernden Situation „gerettet”
werden kann.
Wie können traumatisierte Menschen wieder zum Gefühl der
Eigenverantwortung finden und Hoffnung und Zuversicht angesichts einer
unsicheren Zukunft entwickeln?
2. Konstruktive Einstellungen zur Arbeitslosigkeit und soziale
Rahmenbedingungen, die diese Haltungen begünstigen
Um zu verdeutlichen, welche psychischen Mechanismen eine
konstruktive Verarbeitung der Arbeitslosigkeit ermöglichen und welcher
gesellschaftliche Rahmen geeignet ist, um die mit Erwerbslosigkeit
einhergehenden schädigenden intrapsychischen Prozesse mildern zu
können, möchte ich ein Beispiel voranstellen, das der Soziologe
Richard Sennett in seinem Buch „Der flexible Mensch”
[14] ausführlich darstellt. Sennetts
soziologischer Interpretation des von ihm beobachteten Gruppenverhaltens
möchte ich Ergänzungen aus psychoanalytischer Sicht hinzufügen,
um die durch Arbeitslosigkeit verursachten destruktiven Prozesse zu
illustrieren.
Sennett führte über ein Jahr hinweg Gespräche mit
einer Gruppe von Programmierern mittleren Alters, die von IBM 1993 entlassen
worden waren. Als die Gesellschaft aufgrund einer Fehleinschätzung des
Marktpotentials von Personal Computers in den 80er-Jahren Probleme bekam,
erwies sich die schwerfällige Firmenhierarchie als verheerend. Die
Gesellschaft begann sich in eine schlanke, flexible Firma umzustrukturieren. In
den ersten 6 Monaten des Jahres 1993 wurde ein Drittel der Angestellten in den
3 Produktionsstätten der IBM in Hudson Valley gekündigt.
Sennett wollte mehr über diese Umwandlung einer Weltfirma
wissen, zum Teil auch, weil viele der entlassenen Manager und Ingenieure
mittleren Alters seine Nachbarn auf dem Lande im Staate New York waren. Bevor
sie ihre Arbeitsstelle verloren, hatten sie fest an die langfristige Entfaltung
ihrer Berufskarriere geglaubt. Als Programmierer galten sie eigentlich als die
Vorhut einer neuen wissenschaftlichen Berufsgruppe.
Im „River Winds Café”, nicht weit von den
ehemaligen Firmenbüros, trafen sich 5 bis 7 der entlassenen Programmierer
regelmäßig. Hier sprach Sennett mit diesen Männern, die immer
noch weiße Hemden mit dunklen Krawatten trugen und langsam ihre Tasse
Kaffee tranken, während sie aufmerksam wie auf einer
Geschäftskonferenz ihren persönlichen Fall zu klären versuchten.
Sennett begann 1994 immer wieder ein paar Stunden des späten Nachmittags
mit ihnen zu verbringen - also ein Jahr, nachdem sie entlassen worden
waren.
Der Versuch der Programmierer, dem, was ihnen zugestoßen war,
einen Sinn zu geben, zerfiel nach Sennett in drei Phasen:
Als Sennett begann, sich an den Diskussionen zu beteiligen,
empfanden sich die Männer als passive Opfer der Firmenpolitik. Sie hatten
das Gefühl, von der Firma hereingelegt worden zu sein. In dieser Phase
wollten die Betroffenen nachweisen, dass ihre Vorgesetzten sie bewusst in die
Irre geführt hätten, sie suchten Beweise, die ihren Zorn
rechtfertigten.
Aus psychoanalytischer Sicht betrachtet, idealisierten sie ihre
Vorgesetzten, d. h. sie versuchten ihnen mehr Macht zuzuschreiben, als
diese in Wirklichkeit hatten. Sie konnten sich nicht wirklich vorstellen, dass
diese nicht die Macht besaßen, um ihnen zu helfen. Bis zur Mitte der
80er-Jahre praktizierte IBM einen ausgesprochenen paternalistischen
Führungsstil. Für die Programmierer blieben Vorgesetzte mächtige
Väter, die ihren Einfluss missbraucht hatten - eine Vorstellung die
bei den Programmierern vermutlich dazu diente, eigene Gefühle von Ohnmacht
und Hilflosigkeit abzuwehren. Die Realität durfte nicht anerkannt werden,
weil sonst eine zur Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts notwendige
Idealvorstellung in Frage gestellt worden wäre.
Wie Sennett ausführt, hielt diese erste Reaktionen im River
Winds Café nur wenige Monate vor. Die Programmierer kamen
allmählich zu dem Schluss, dass ein bewusster Betrug von Seiten der
Firmenleitung logisch keinen Sinn machte. Einerseits wurden viele der
Vorgesetzten, von denen sie in den ersten Phasen der Umstrukturierung entlassen
worden waren, später selbst gekündigt. Zum anderen war nicht zu
leugnen, dass es IBM in den frühen 90er-Jahren sehr schlecht gegangen war.
Diese unangenehmen Tatsachen waren in großer Deutlichkeit an den
Jahresbilanzen abzulesen.
In der zweiten Phase konzentrierten sie sich in ihrer Deutung der
Vorgänge auf äußere Kräfte und Tendenzen, denen man die
Schuld geben konnte. Im River Winds Café erschien nun die
„globale Wirtschaft” als die eigentliche Unheilsquelle, vor allem
weil sie dafür sorgte, dass Arbeit in der ganzen Welt verteilt wurde. IBM
hatte mit dem „outsourcing” eines Teils der Programmierarbeit
begonnen, weil Programmierer in Indien nur einen Bruchteil des Gehaltes
bekamen, das in Amerika für solche Arbeiten bezahlt wurde. Diese Tatsache
wurde nun als Grund dafür zitiert, dass sie entlassen worden waren.
Ich hatte den Eindruck, dass die von Sennett beschriebenen
Programmierer begannen, die hinter dem Vorwurf des Betrugs steckende
Idealisierung der IBM-Vorgesetzten in Frage zu stellen. Die Firma versagte in
ihren Augen als idealisierte Instanz, die in schwierigen Situationen für
sie sorgen und sie beschützen würde. Sie begann an Macht zu
verlieren.
Doch sie kreierten eine noch mächtigere Instanz im Hintergrund:
Die „globale Wirtschaft”. Mit dieser Erklärung versuchten
sie das Verhalten ihrer ehemaligen Vorgesetzten zu entschuldigen: Sie konnten
nicht anders handeln. Doch indem sie sie als gute Instanz innerlich neu
erschufen, tauchte auch die Enttäuschung wieder auf. Dies spiegelte sich
in dem Vorwurf der Programmierer, dass sich IBM mehr um Ausländer
kümmere, aber die eigenen Leute vernachlässige. Die Inder bekamen
Arbeit von IBM, sie nicht!
Die Begründung, dass ihre Arbeitslosigkeit durch die Tücke
der indischen Konkurrenten verursacht sei, hatte eine weitere psychische
Funktion: Droht von allen Seiten Identitätsschwund, bekommt die nationale
Identität überragende Bedeutung. Fremdenfeindlichkeit wird zum
identitätsstützenden Bewältigungsversuch, der ein
differenziertes Nachdenken über die wirklichen Ursachen ihrer Entlassung
unmöglich macht. Informationen werden nicht dazu benutzt, um die
Realität adäquat einschätzen zu können, sondern die
Gedanken bleiben auf eine irrationale Begründung fixiert: Eine
Begründung, die die Entwicklung von adäquaten Plänen zur
Bewältigung der Situation verhinderte. Denn die Konzentration auf
äußere Feinde gab den Programmierern selbst kein professionelles
Prestige. Ihre Erklärungen bezogen sich nur auf das Handeln anderer, die
sie nicht kannten. Sie waren den globalen Mächten passiv ausgeliefert.
Der Wendepunkt kam, als die Männer begannen, über ihre
eigenen Karrieren zu diskutieren, besonders über ihre professionellen
Wertvorstellungen. Als Wissenschaftler glaubten die Programmierer an die
Vorteile technischer Entwicklungen wie der digitalen, globalen Kommunikation.
Und sie erkannten auch die Qualität der Arbeit an, die aus Indien kam. Wie
Sennett betont, war diese Anerkennung mehr als eine abstrakte Verbeugung vor
professionellen Standards. In der dritten Phase erinnerten sich diese
Männer daran, dass sie ihre Arbeitszeit bei IBM ja nicht einfach nur
abgesessen hatten, sondern ihre Arbeit geliebt hatten. Jetzt konzentrierte sich
das Gespräch auf die Geschichte der High-Tech-Arbeit, ihr kürzliches
enormes Wachstum, die technischen Voraussetzungen, die man brauchte, um mit den
neuen industriellen und wissenschaftlichen Herausforderungen fertig zu werden.
Es passierte etwas mit der Stimmung der Männer, die in dem Cafè
miteinander sprachen, als sie sich von der Besessenheit, mit der sie ihre
Opferrolle diskutiert hatten, lösten und das Gefühl ihrer
Integrität als Programmierer wiederfanden.
Sennett beschreibt, das die Programmierer darüber zu reden
begannen, was sie persönlich zu einem früheren Zeitpunkt ihrer
Karriere hätten tun können und sollen, um ihre gegenwärtige
Notlage zu verhindern. Sie machten sich keine Selbstvorwürfe, sondern
diskutierten die rasante Entwicklung technologischer Möglichkeiten. Jetzt
erzählten sie vom Erfolg der Leute, die vor 10 Jahren in den PC-Sektor
eingestiegen waren, in kleine riskante Unternehmen, welche die
Möglichkeiten des Internet voraussahen. Heute waren sie sich darüber
einig, dass sie das Risiko hätten auf sich nehmen sollen, der Firma den
Rücken zu kehren.
Ich vermute, dass sie mit der gemeinsamen Verarbeitung ihrer
Enttäuschung von IBM auf sich selbst zurückgeworfen wurden: Sie
konnten sich wieder als verantwortliche Akteure ihres eigenen Handelns erkennen
- eine gleichzeitig ernüchternde, aber auch befreiende
Erkenntnis.
Indem sie ihren Teil der Verantwortung übernehmen konnten und
die Gründe für ihre aktuelle Erwerbslosensituation kognitiv und
emotional realisieren konnten, wurde es den Programmierern möglich, wie
Sennett es ausdrückt - „sich ihrem Scheitern zu
stellen”. Ihre Bemühungen um Interpretation dessen, was geschehen
war, entsprach dem Versuch, Veränderungen nicht länger blind und
passiv zu erdulden. Sie handelten, indem sie über ein Tabu - das
Scheitern - sprachen, sie brachten es an die Oberfläche.
Sie konnten aber erst über ihr Scheitern sprechen, nachdem sie
sich aus der passiven Opferrolle lösen und sich selber aktiver sehen
konnten. Sie konnten die Erwartung aufgeben, dass die Firma für sie
Verantwortung trage - eine Vorstellung, die jahrelang von IBM vertreten
wurde. Sie gewannen eine neue Einstellung zu sich und ihrer Umwelt: Niemand
beschützt sie, sie müssen selbst handeln und haben auch Ressourcen
dazu. Diese Entidealisierung hatte eine „Ich”-stärkende
Wirkung: Sie erinnerten sich an ihre Kompetenzen und ihr Fachwissen. Sie
bezogen sich als handelnde Personen mit ein und ihre Überlegungen
führten zu einer gutkonstruierten Handlung: „Ich hätte mein
Leben in die eigenen Hände nehmen sollen.”
Bezüglich der Ausgangsfrage, welche Rahmenbedingungen und
seelischen Einstellungen Arbeitslose brauchen, um Eigenverantwortung
übernehmen zu können, können aufgrund des geschilderten Beispiel
folgende Punkte festgehalten werden:
-
Die Voraussetzung dafür, dass traumatisierende Erfahrungen
verarbeitet werden können, ist, dass Betroffene über ihre Situation,
ihre Gefühle und Erklärungen ihrer Erwerbslosigkeit ohne Schuld und
Scham sprechen können, dass sie nicht allein sind, dass andere dieses
Schicksal mit ihnen teilen.
-
Um Eigenverantwortung übernehmen zu können,
müssen Betroffene sich aus ihrer passiven Opferrolle lösen und sich
selber aktiver sehen. Diese Veränderung im Selbsterleben wird durch eine
realistische Sicht der Umstände, die zur Entlassung führten und eine
adäquate Einschätzung des eigenen Einflusses auf die soziale
Situation gefördert.
-
Das persönliche und soziale Identitätsgefühl muss
gefestigt sein. Denn arbeitslos zu sein, heißt nicht nur die am
Arbeitsplatz und im Beruf gefundene Identität in Frage stellen zu
müssen. Arbeitslosigkeit bietet kein alternatives
Identitätskonzept.[1] Im Beispiel entwickelten
die Programmierer in ihren Gesprächen über fachliche Probleme und
gemeinsame Erfahrungen ein „Wir”-Gefühl, das ihnen ein
Stück persönlicher Berufsidentität wiedergab. Was sie nicht
fanden, war eine neue soziale Identität - eine neue Rolle in der
Gesellschaft, über die sie sich definieren konnten. Sennets Programmierer
zogen sich aus ihrem aktiven Engagement in ihrer Gemeinde zurück und
besuchten häufiger den Gottesdienst.
Ich hatte den Eindruck, dass die ehemals in der Gemeindearbeit
aktiven Programmierer ihren Gemeinschaftssinn verloren hatten: Sie hatten nicht
das Gefühl für die Gesellschaft nützlich und wichtig zu sein.
Und sie hatten nicht das Gefühl, dass sich die Gesellschaft für sie
verantwortlich fühlte. Sie waren immer noch arbeitslos, während die
Nachbarn Arbeit „bekamen”. Warum sollten sie sich für eine
Gemeinschaft einsetzen, in der sie benachteiligt waren? Ich vermute, dass eine
Art innerer Boykott aus dem Gefühl tiefer Ungerechtigkeit heraus ihrem
sozialen Rückzug zugrunde lag. Für diese Männer brach eine Welt
zusammen, ihre Werte, für die sie gelebt hatten und die ihnen Sicherheit
gaben, galten plötzlich nichts mehr. Das Gefühl tiefer
Ungerechtigkeit ließ sie auf einer anderen Ebene nach Gerechtigkeit
suchen: Bei Gott - eine Lösung, die ihnen erlaubte, ihre
„Prinzipien”, ihre Grundwerte, aufrecht zu erhalten, denn bei
ihm, in einer anderen Welt, galten ihre Werte weiterhin.
Subjektive Gefühle wie Gemeinschaftssinn,
Verantwortungsgefühl und Sicherheit werden wesentlich durch soziale
Faktoren mitbestimmt. Diese Gefühl vermittelt die heutige postmoderne
Gesellschaft ihren Mitgliedern nicht. Angewiesenheit und Verantwortung sind
Begriffe ohne gelebten Inhalt, beschwörende Leerformeln geworden. Menschen
werden behandelt, als wären sie problemlos ersetzbar oder
überflüssig. „Solche Praktiken vermindern für alle
sichtbar und brutal das Gefühl persönlicher Bedeutung, das
Gefühl, für andere notwendig zu sein”,
stellt Sennett zur heutigen gesellschaftlichen Situation fest
[14] (S.202).
Sicherheit gibt es nicht mehr. Der Soziologie Zygmunt Baumann
charakterisiert die heutige Gesellschaft dadurch, dass Sicherheit im Sinne von
Verlässlichkeit und Gewissheit verloren gegangen ist. Wohlverhalten im
Sinne, dass die Erfüllung sozialer Werte gesellschaftliche Sicherheit
garantiert, ist sinnlos geworden. An welchen Werten soll man sich orientieren?
Soll man konformistisch oder unkonventionell sein? Die Gewissheit zu haben,
zukünftige Entwicklung voraussehen zu können, ist nicht
möglich.
In diesem Sinne habe ich am Beispiel der Arbeitslosigkeit ein
Problem illustriert, das längst nicht mehr nur das Problem der
Arbeitslosen ist. Die Unsicherheit ist bei uns allen. Die von Sennett
beschriebenen Programmierer machten eine Wendung nach „innen”,
bewältigen ihre belastende Situation in einem für sie persönlich
konstruktiven Sinne, aber verloren ihren Gemeinschaftssinn. Ihre Form der
Bewältigung ist eine Möglichkeit, wie auch wir mit der Unsicherheit
umgehen könnten. Doch was ist mit dem Gemeinschaftssinn?
Damit bin ich beim vierten und letzten Punkt der Bedingungen
angelangt, die Eigenverantwortung fördern.
-
Um Eigenverantwortung entwickeln zu können, braucht es
einen sozialen Kontext, der Sicherheit bietet, der seinen Mitgliedern das
Gefühl vermittelt, grundlegend in einer Gemeinschaft verankert zu sein,
die sie braucht und sich auch für sie verantwortlich fühlt. Dieser
soziale Kontext kann nicht auf der individuellen Ebene geschaffen werden.
Es müsste ein Wertewandel stattfinden, der die heutige
gesellschaftliche Realität als Realität akzeptiert.
Normvorstellungen, die z. T. im Widerspruch zu den heutigen
Anforderungen an Berufstätige stehen, müssen aufgegeben werden, wie
z. B. die Vorstellung, das eine Ausbildung fürs Leben sei und eine
geradlinige Karriere auf Dauer sichere. Dies ist heute eher die Ausnahme als
die Regel. Trotzdem erleben Erwerbslose - auch jene, die nur kurzfristig
aus dem Erwerbsprozess herausfallen - soziale Diskriminierung.
Es braucht für den individuellen „inneren”
Wertewandel einen sozialen Raum, der sich dadurch auszeichnet, dass
kontinuierliche Gespräche mit anderen Betroffenen möglich sind und
kein Handlungsdruck besteht. Für Arbeitslose wären z. B.
geschützte Zeitabschnitte möglich, in Form von Kursen oder 1 -
2mal stattfindenden wöchentlichen Treffen. In diesen Zeiten können
sich Gespräche entwickeln, die eventuell neue mögliche berufliche
Perspektiven aufzeigen. Z.B. in einem Arbeitslosenzentrum in Basel stellten die
einzelnen Teilnehmer eines 14tägigen Kurses den anderen Gruppenmitgliedern
ihre Hobbys oder Interessen vor. Ihre Gespräche wurden von einer
Fachperson begleitet, die auch in Einzelgesprächen individuelle
Schwierigkeiten klärte.
Auf gesellschaftlicher Ebene könnten sich z. B. Branchen
entwickeln, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Es wäre
z. B. möglich, dass Firmen und Politiker Task Forces einsetzten,
deren Aufgabe es wäre, gesellschaftliche Prozesse sichtbar zu machen und
Konzepte zu erarbeiten, wie eine gesellschaftliche Desintegration verhindert
werden könnte. Es muss eine Besinnung auf grundlegende Werte stattfinden,
und deren Umlagerung auf die heutigen sozialen Verhältnisse vorangetrieben
werden, damit die Menschen sich noch an die raschen gesellschaftlichen
Entwicklungen anpassen können.