Suchttherapie 2002; 3(3): 162-167
DOI: 10.1055/s-2002-34324
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Haftentlassung als Risikozeitraum für die Mortalität drogenabhängiger Strafgefangener

Eine katamnestische Analyse von Hafterfahrungen vor drogenbedingten Todesfällen in HamburgRelease from Prison as a Risk Period for Drug-Dependant ConvictsAn Analysis of Detention Experiences before Drug-Related Deaths in HamburgA. Heinemann1 , I. Kappos-Baxmann1 , K. Püschel1
  • 1Institut für Rechtsmedizin, Hamburg
Further Information

Dr. Axel Heinemann

Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg

Butenfeld 34

22529 Hamburg

Publication History

Publication Date:
25 September 2002 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Die Hafterfahrung von 1213 polizeilich registrierten Drogentodesfällen der Jahre 1990 bis 1997 wurde retrospektiv analysiert. Im Mittelpunkt stand eine Darstellung der Verteilung der Überlebensintervalle zwischen Haftentlassung und Tod bei Personen mit mindestens einem Gefängnisaufenthalt in der Vorgeschichte. Weiter wurden besondere Risikofaktoren für Todesfälle in den ersten Tagen nach Entlassung analysiert, wenn auch diese Art der retrospektiven „Survival-Analyse” in einem Todesfallkollektiv methodisch nicht direkt mit einer Kohortenstudie vergleichbar ist. 11,7 % aller Personen mit Hafterfahrung verstarben innerhalb der ersten 10 Tage nach Haftende, von den betroffenen 40 Personen starben 8 Drogengebraucher am Tag der Entlassung selbst. Häufig assoziiert mit einem frühen Tod nach Gefängnisaufenthalten im Vergleich zu Spättodesfällen zeigen sich jüngeres Lebensalter bei Haftende, jedoch eine bereits größere Hafterfahrung in der Vorgeschichte, eine größere Lebenshaftzeitsumme sowie eine längere Dauer des letzten Haftaufenthaltes. Aufenthaltsdauern zwischen drei und sechs Monaten traten besonders häufig auf. Opiattoleranzverlust und statistisch steigendes Risiko bei höherfrequenten Wechseln zwischen Haft und Freiheit, aber auch im jüngeren Lebensalter noch mangelnde Risikomanagementkompetenz lassen sich als bestimmende Faktoren herausarbeiten, wenn auch die Analyse protektiver Faktoren für den Faktor Überlebensdauer in einem selektierten Kollektiv Verstorbener im Vergleich zur Survival-Analyse einer Lebendkohorte nicht unproblematisch ist.

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Abstract

The history of imprisonment of 1,213 drug-related deaths in Hamburg from 1990 to 1997 was analysed retrospectively. The main goals of this study were the determination of the distribution of mortality risk after release from prison and the elucidation of risk factors for early death after release. It should be underlined that this design cannot fulfil the requirements of a real survival analysis basing on cohorts of living drug users when the fatal event will only concern a minority of participants. 11.7 % of all deceased with prior imprisonment died within the first 10 days after release. These were 40 drug users of whom 8 died on the day when leaving the prison. Predictors of early death were younger age at time of release, but also experience of multiple imprisonment, a long lifetime period in prison and a not too short period of the most recent imprisonment. Particularly periods between 3 and 6 months appeared to be frequent in the study group. Loss of opiate tolerance, frequent fluctuation between prison and freedom but also the risk management skills - which could be more effective in older age groups - have a relevant impact on overdose risk after release from prison.

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Einleitung

Todesfälle von Konsumenten illegaler Substanzen sind sowohl in der polizeilichen Statistik wie aus Kohortendaten heraus in Deutschland sowie in anderen EU-Staaten nach wie vor überwiegend kausal durch akute Opiatintoxikationen bedingt. Auch wenn bis zu 50 % der Heroinabhängigen mindestens einen Suizidversuch in ihrem Leben unternehmen [1], ist offensichtlich die überwiegende Anzahl der Vergiftungsfälle nicht (para)suizidal intendiert. Der Anteil indirekt kausaler Rauschgifttodesfälle beträgt in der bundesdeutschen Polizeistatistik ca. 15-20 % [2] und ist durch Drogenfolgeerkrankungen, Unfälle und gewaltsame Suizide heterogen zusammengesetzt. Strategien zur Überlebenssicherung müssen breit gefächert angelegt sein, doch ist ein besonderer Schwerpunkt präventiver Strategien nach wie vor im Bereich der Prophylaxe von akzidentiellen Überdosierungen anzusiedeln. Diverse bundesdeutsche Studien [3 ;6] haben typische Risikokonstellationen von Drogentodesfällen durch Überdosierung beleuchtet und wiederholt auf die besondere Bedeutung von Toleranzbrüchen gegenüber der abhängigkeitsbildenden Substanz, insbesondere Opiaten, hingewiesen. In einem erheblichen Anteil solcher Todesfälle erscheinen entsprechend die nachgewiesenen Morphinkonzentrationen im Blut, selbst bei Monointoxikationen, vergleichsweise niedrig [4] [7]. Gleiches gilt für nicht tödliche Drogennotfälle durch Überdosierung [9] [10]. In Querschnittsstudien erwiesen sich insofern fatale Überdosierungen nach Entzugsversuchen, Wiedereinstiege älterer Konsumenten und Erstkonsumsituationen nach eventuell erzwungener Abstinenz als Risikocluster. Die achtfache Erhöhung des Mortalitätsrisikos im Zeitraum von 12 Monaten nach Ausscheiden aus einer (drogenfreien) Behandlung kann hier eine ihrer Ursachen haben [11].

Wiedereinstieg nach Haftentlassung ist eine weitere klassische Konstellation, zumal ein erheblicher Anteil Drogenabhängiger eine hohe Fluktuation zwischen kurz- bis mittelfristigen Aufenthalten in Strafhaft und Perioden in Freiheit durchlebt. Kraus et al. [5] fanden in Baden-Württemberg 1999 einen Anteil von 25 % aller Todesfälle mit vorausgehender Haftentlassung oder Beendigung/Abbruch einer Therapie. Heckmann et al. [3] fanden unter den Drogentoten der Jahre 1992/93 56 % mit Hafterfahrung und 10 % mit einem Haftaufenthalt in den letzten 30 Tagen vor dem Tod bei offensichtlich bestehender zusätzlicher Dunkelziffer.

Als mögliche Ursachen für eine Risikoerhöhung sind die schlagartige Änderung von Konsumgewohnheiten mit einem Abbruch erzwungener oder freiwilliger Abstinenz im Vollzug, eine Unterschätzung des Reinheitsgrades von Drogen im Straßenhandel im Vergleich zu vollzugsintern im Umlauf befindlichem Stoff, ein Erfahrungsverlust im Risikomanagement während längerer Strafhaft und die besonders sensible psychosoziale Situation nach Entlassung zu nennen, die je nach Verlauf sowohl hedonistische wie kriseninduzierte parasuizidale Konsummuster provozieren kann.

Die Auswirkungen des Toleranzbruchs werden individuell vom Ausmaß des plötzlichen Wechsels in Konsumfrequenz und -menge sowie bezüglich der Applikationsform nach Eintritt in Haft, von der Erhaltung einer Basistoleranz in Haft je nach Behandlungssetting, der Art des Strukturüberganges in Freiheit z. B. über den offenen Vollzug, vor allem aber auch von der Risikomanagementkompetenz des Konsumenten und nutzbaren Ressourcen an der Schnittstelle zum kommunalen Hilfesystem abhängen.

In Deutschland fehlen größere Kohortenstudien zum Mortalitätsrisiko mit einem Aussagehorizont zu spezifischen Schutzfaktoren weitgehend, allenfalls liegen retrospektive Analysen von regional und zeitlich begrenzten Todesfallkollektiven vor. Stets ist es ein Problem, die multifaktorielle Kausalität im Umfeld der tragischen Endkonstellation einer Suchterkrankung integrativ zu betrachten. Auch die vorliegende Studie kann lediglich einen Faktor, den Einfluss von Hafterfahrungen auf die Mortalität, näherungsweise analysieren, wobei im Mittelpunkt der Versuch einer Bestimmung und Quantifizierung eines Zeitraums mit besonders hohem Risikoimpact nach Verlassen der Gefängnistore steht. Überlegungen zur Prävention und zur Schnittstellenproblematik aus Sicht der Suchthilfeversorgung schließen sich an.

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Methode

Ausgangspunkt war die Datenbank des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Hamburg mit Informationen zu allen 1213 polizeilich registrierten Drogentodesfällen in Hamburg der Jahre 1990 bis 1997. Sämtliche Inhaftierungszeiten ab 1985 dieser weit überwiegend auch in der Rechtsmedizin hinsichtlich der exakten Todesursache untersuchten Verstorbenen wurden unter Beachtung datenschutzrechtlicher Voraussetzungen anhand von Identifikatoren im Zentralregister des Hamburger Strafvollzugs in der JVA Fuhlsbüttel erhoben. Darüber hinaus wurden Haftgründe und Entlassungsumstände aufgenommen. Es erfolgte ein univariater Vergleich von soziodemografischen und mortalitätsbezogenen Variablen bei Personen mit und ohne Hafterfahrung. Für die Darstellung der Zeitintervalle zwischen Entlassungsdatum und Tod wurde eine Survival-Funktion, die Sterbetafel (bei Abwesenheit sog. zensierter Fälle), genutzt. Mit der Dauer des Zeitintervalls korrelierende Faktoren wurden einer multiplen Regressionsanalyse nach logarithmischer Transformation der abhängigen Variablen „Zeitintervall” unterzogen. Unabhängige Variablen waren Alter bei Tod, Geschlecht, Nationalität, Dauer der letzten Inhaftierung, Anzahl der Inhaftierungen, Alter bei erster Hafterfahrung, Lebenszeitdauer in Haft und Todesursache. Die Datenanalyse erfolgte mit dem Statistikprogramm SPSS, Version 10.0.

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Ergebnisse

340 Todesfälle (28 % des Gesamtkollektivs) waren jemals seit 1985 im Hamburger Strafvollzug aufhältig gewesen (33 % der Männer, dagegen nur 16 % der weiblichen Todesfälle).

Die Personen mit Hafterfahrung verstarben durchschnittlich mit 33 Lebensjahren rund 3 Jahre später als solche, die niemals im Gefängnis gewesen waren (p < 0,001). Sie starben signifikant häufiger an Drogenfolgeerkrankungen (p < 0,01) und hatten signifikant höhere Prävalenzen bei Infektionserkrankungen zum Todeszeitpunkt (HIV 9,1 versus 5,7 %, durchgemachte Hepatitis B 51,4 versus 34,9 %, Hepatitis C 63,8 versus 44,2 %).

Bei Personen mit Gefängniserfahrung betrug das Zeitintervall von der letzten Haftentlassung bis zum Tod druchschnittlich 322 Tage (Streubreite 0-4700 Tage). 14 Personen (4,1 % derjenigen mit Haftvorgeschichte) waren bereits während der Haftzeit verstorben, darunter eine Frau. Todesursachen waren bei diesen Fällen in 50 % akute Intoxikationen (überwiegend nach mehr als einem Jahr Haftzeit). In vier Fällen lagen Drogenfolgeerkrankungen zugrunde (n = 2 Leberversagen nach Hepatitis C, Lungenentzündung, AIDS, zwei nicht definitiv geklärt), in einem Fall war ein Suizid durch Erhängen in Haft als kausal mit Drogenabhängigkeit verknüpft gewertet worden.

40 Personen, also 11,7 % derjenigen mit Haftvorgeschichte, waren innerhalb von 10 Tagen nach Entlassung verstorben. Von ihnen starb jeder Fünfte (n = 8) unmittelbar am Tag der Entlassung.

Abb. [1] zeigt für beide Geschlechter den Verlauf einer Sterbekurve über das erste Jahr nach Entlassung späterer Drogentodesfälle hinweg. Dabei gibt es bei Frauen eine Tendenz zu einem zweiphasigen Verlauf mit einer zunächst weniger stark ausgeprägten Frühmortalität, jedoch einer diskreten Risikozunahme gegenüber Männern mehr als ein Jahr nach Entlassung. Männer zeigen eine besonders hohe Mortalität in den ersten 10 Tagen, insgesamt entspricht der Langzeitverlauf einer angenäherten Exponentialfunktion.

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Abb. 1 Überlebensfunktion nach Haftentlassung.

Nur bei 7 % des Kollektives mit Hafterfahrung war eine Entlassung in eine stationäre therapeutische Einrichtung erfolgt (Validität des Haftregisters diesbezüglich jedoch fraglich, möglicherweise Untererfassung). Unter diesen 23 Personen mit Anschlusstherapie starben 5 (22 %) binnen der ersten 10 Tage nach Entlassung, d. h. ein höherer Anteil als bei Personen mit Entlassung ohne Anschlusstherapie (4 durch Intoxikation). Selbst ein Haftende mit Entlassungsadresse „ohne festen Wohnsitz” war „nur” in 21 % (ausschließlich Intoxikationen), also nicht häufiger als bei Entlassung in Therapie, mit Tod innerhalb von 10 Tagen verbunden.

Flucht als Entlassungsgrund scheint ein besonders hohes Mortalitätsrisiko zu bergen, da von 11 späteren Drogentodesfällen, deren Entlassungsumstände als „Flucht” bewertet wurden, 8 binnen 10 Tagen verstarben. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass die nicht reguläre Rückkehr in manchen Fällen gerade durch den Tod während eines Ausgangs bedingt gewesen sein dürfte, so dass die schneller als die Todesnachricht offenbar werdende Nicht-Rückkehr vollzugsintern zunächst als „Flucht” gewertet und anschließend in der Dokumentation nicht geändert worden sein könnte.

Von den 40 Frühtodesfällen waren 30 regulär entlassen wurden, 2 verstarben während eines Hafturlaubs. 92 % von ihnen erlitten akute Intoxikationen (vgl. 70 % im Gesamtkollektiv).

Eine Regressionsanalyse zeigt als Prädiktoren eines frühen Todes nach Gefängnisaufenthalten im Vergleich zu Spättodesfällen

  • jüngeres Lebensalter (< 30 Jahre) bei Haftende (siehe auch Abb. [2]), jedoch

  • eine bereits größere Hafterfahrung in der Vorgeschichte,

  • eine größere Lebenshaftzeitsumme sowie

  • eine längere Dauer des letzten Haftaufenthaltes, vor allem Aufenthaltdauern zwischen drei und sechs Monaten. Wie Abb. [3] zeigt, geht das Risiko eines frühen Versterbens im Anschluss an die Entlassung nach längeren Haftzeiten als 6 Monate tendenziell wieder zurück.

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Abb. 2 Überleben nach Altersgruppe.

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Abb. 3 Überleben und Dauer letzer Haft.

Ein unmittelbares Abbild des Verlustes der Opiattoleranz als wesentliche Ursache für viele Frühtodesfälle gibt schließlich Abb. [4]: Bis 1997 verstarben 43 % aller Personen mit akuten Intoxikationen als Todesursache, jedoch ohne lebenszeitbezogene Hafterfahrung, an Morphin-Monointoxikationen. Bei Personen mit Hafterfahrung und Tod innerhalb Haft oder einem kurzen Intervall bis zum Tod nach Entlassung liegen die Anteile an Morphin-(Heroin-)Monointoxikationen sehr hoch, sinken jedoch bereits innerhalb der ersten Woche nach Entlassung wieder ab. Mischintoxikationen treten sofort wieder hervor, wobei diese aufgrund der Toleranzproblematik umso risikoreicher sind. Letztlich erleiden Personen mit Hafterfahrung einen signifikant höheren Anteil an Mischintoxikationen auch im Langzeitverlauf als solche ohne Gefängnisaufenthalt. Dies deutet auf einen riskanteren Konsumstil von Personen mit hoher Kriminalitätsbelastung hin, auch da sich unter den Todesfällen ohne Hafterfahrung vereinzelte Probierer und Gelegenheitskonsumenten befinden dürften.

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Abb. 4 Anteil an Morphin-Monointoxikationen unter allen Todesfällen durch Intoxikation.

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Diskussion

Hafterfahrung ist ein weniger unabhängiger Risikofaktor für eine erhöhte Sterblichkeit von Drogenkonsumenten als vielmehr Ausdruck der mit ihr ursächlich verknüpften Faktoren besonders schwerer Abhängigkeit, Risikobereitschaft bezüglich Konsum wie Kriminalität, aber auch erhöhter gesundheitlicher Belastung wie z. B. erhöhter Infektionsgefährdung. Während der Inhaftierung im Normalvollzug ist eher von einem herabgesetzten Risiko der akzidentiellen Überdosierung auszugehen, da Drogenverknappung unter Vollzugsbedingungen im Allgemeinen zu einer erheblichen Senkung der Konsumfrequenz führen wird. Eine hohe Haftzeitsumme geht mit Verlängerung der Abhängigkeitsdauer, aber dabei trotz Behinderung von Entwicklungsaufgaben mit einer höheren Lebensdauer einher [3]. Substitution im Gefängnis kann - wie für Substitution in Freiheit in zahlreichen Studien nachgewiesen - eine weitere stabilisierende, überlebenssichernde Maßnahme sein, wenn auch eine von Daniels [12] beobachtete Weitergabe von Methadon außerhalb ärztlich kontrollierter Vergabe nach Möglichkeit zu vermeiden ist.

Die Aufnahme einer Substitutionsbehandlung nach Entlassung kann durch Überschätzung der aus dem Vollzug „mitgebrachten” bzw. berichteten Opiattoleranz ein Intoxikationsrisiko bergen wie auch die gleichzeitige Einnahme mehrerer Einzeldosen außerhalb von Methoden therapeutischen Zugangs die die Mehrzahl der Mischvergiftungen bei schottischen Haftentlassenen betraf [13].

Ein ähnlicher Ansatz wie in der vorliegenden Hamburger Studie ist 1988 auch von Harding-Pink und Fryc [14] gewählt worden, die im Kanton Genf in der Schweiz rechtsmedizinische Autopsie- und Haftdaten verknüpft haben. 42 % der Todesfälle, die innerhalb von 5 Jahren nach der Entlassung aufgetreten waren, waren auf Vergiftungen zurückzuführen. 67 % der Todesfälle traten im ersten Jahr nach Haftentlassung auf (im Gegensatz zu 22 % bei anderen Todesursachengruppen). Harding-Pink und Fryc beschrieben einen 45-Tage-Zeitraum nach Entlassung mit einer Mortalitätsrate von 60 Todesfällen auf 1000 Personenjahre, wobei es sich um Heroin-/Morphin- oder Methadonintoxikationen handelte, oft in Verbindung mit Alkohol und Benzodiazepinen. Seymour et al. [13] zeigten, dass zwischen 1990 und 1997 mehr als jeder zehnte Drogentodesfall (13 %) eine Person betraf, die innerhalb eines Monats nach Haftentlassung verstorben war. 62 % dieser Fälle konzentrierten sich auf die erste Woche in Freiheit, 22 % auf den Tag der Entlassung. Bei den innerhalb der ersten zwei Tage nach Entlassung Verstorbenen lag in ca. 50 % der Fälle eine reine Heroinvergiftung vor, später überwogen Mischintoxikationen v. a. mit Morphin und Benzodiazepinen. Damit handelt es sich bei den Hamburger Daten um sehr ähnliche Beobachtungen. Auch 23 % der von Heckmann et al. [3] näher untersuchten Drogentodesfälle in drei deutschen Metropolen waren nach einer Abstinenzsituation im letzten Monat, teilweise nach Haftentlassung, aufgetreten, 25 % von ihnen innerhalb der ersten Woche nach Entlassung. Kraus et al. [6] beschreiben für bayrische Drogentodesfälle des Jahres 1999 in 7,5 % vorausgehende Haftentlassungen in den letzten 3 Monaten. 47 % hatten noch keine Haftstrafen verbüßt. In der Parallelstudie in Baden-Württemberg fanden Kraus et al. 56 % ohne frühere Haftstrafen [5]. Die Hamburger Daten unterschätzen die lebenszeitbezogene Gesamthafterfahrung möglicherweise um 10 bis 15 %, da nur der Zugriff auf Hamburger Vollzugsdaten möglich war. Die Häufigkeit der Haftentlassungssituation dürfte aber allenfalls gering unterschätzt worden sein, da ein sofortiger geografischer Wohnortwechsel nach Verlassen einer Haftanstalt und Versterben an entferntem Ort eher selten anzunehmen ist. Die Abknickung der Sterbekurve nach etwa 10 Tagen definiert in der vorliegenden Studie besonders gut die Zeitdauer eines klar erhöhten Risikoimpacts. Eine in Edinburgh durchgeführte Studie mit Daten einer Klinikkohorte HIV-infizierter, aber nicht an AIDS erkrankter männlicher Drogenabhängiger zeigte bei einem Abgleich mit Haftentlassungsdaten aus 12 Jahren, dass sich innerhalb der ersten beiden Wochen nach Entlassung ein besonderes Risiko ergab. Während in den ersten 14 Tagen auf 1000 Tage im Risiko 1,02 Todesfälle auftraten, waren es später lediglich 0,029 Todesfälle. Daraus wurde abgeleitet, dass in den ersten 14 Tagen nach Haftentlassung das Risiko einer letalen Intoxikation etwa 35fach erhöht war, bezogen auf alle Todesursachen etwa 22fach [15]. Möglicherweise liegen die Mortalitätsraten unter HIV-negativen Drogenkonsumenten niedriger [16], wenn auch seit einigen Jahren nicht mehr von einer klar erhöhten Suizidalität HIV-positiver Personen auszugehen ist.

Nach wie vor konnte keine Studie nachweisen, dass die Blutspiegel der zum Tode führenden Substanzen bei Todesfällen nach Haftentlassung durchschnittlich niedriger liegen als bei Kontrollgruppen [13], sicherlich auch, da oft sehr kleine Kollektive verglichen werden, und vor allem, da bei Mischvergiftungen eine solche Bewertung prinzipiell schwierig bleibt. Opiat-Toleranzbruch ist aber auch nicht mehr und nicht weniger als ein Mosaikstein im komplexen Geschehen an der Schnittstelle zur Freiheit.

Es ist nicht leicht, den hohen Anteil kurzfristig Verstorbener nach Entlassung in stationäre Therapie z. B. gemäß § 35 BtMG zu bewerten. Wenn mangelnde Vorbereitung einer solchen Maßnahme möglicherweise zu spontaner Überforderung und Therapieflucht führt, verstärkt ein Widerruf vorzeitiger Entlassung durch die Strafvollstreckungskammern zusätzlich den psychosozialen Druck und kann zu einer weiteren Labilisierung des Konsumverhaltens führen. Ebenso existieren beispielsweise in Deutschland keine Evaluationsdaten bzw. vielerorts zu gering ausgebildete qualitätssichernde Strukturen bei der Überführung von entlassenen Strafgefangenen aus haftinterner in ambulante kommunale Substitution. Die therapeutische Schnittstelle bedürfte jedoch in Deutschland eingehender wissenschaftlicher Evaluation, da manche Problempatienten sie gerade nach wenigen Konsumjahren mehrfach im Jahr durchlaufen. Die vorliegende Studie gibt konkrete Hinweise auf die am höchsten gefährdete Zielgruppe für intensivierte Bemühungen um aufsuchende Risikoberatung rechtzeitig vor Haftende, Planung des therapeutischen Übergangs und entsprechend komplementäre Übernahme durch die kommunale Versorgung. Es sind weniger ältere Langzeitstrafgefangene, sondern drogenkonsumierende Häftlinge im mittleren Stadium ihrer Erkrankung, also nach einigen Konsumjahren, mittlerweile schon mehrjähriger Vollzugskarriere und mittelfristigen Strafdauern, d. h. wenige Monate absitzend. Es sind dies die Personen, die aufgrund unzureichender Reststrafenzeiträume auch von existierenden Abstinenzerprobungsstationen (zumeist 1 Jahr Reststrafe gefordert) nicht profitieren und möglicherweise am ehesten einer strukturierten Entlassungsplanung sowie Kontaktaufnahme durch externe Drogenberater entgehen, aber natürlich nach mehr als drei Monaten bereits einen massiven Toleranzbruch erlitten haben können.

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Prävention

Präventive Überlegungen sollten sicherlich zunächst auf die Frage der verstärkten Nutzung von Alternativen zum Strafvollzug für suchtkranke Täter fokussieren, wobei derzeit noch kaum absehbar ist, wie nachhaltig die bereits gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten in Deutschland eigentlich genutzt werden. Für die Gruppe der Personen mit kurzen Haftstrafen von bis zu wenigen Monaten ist dies eine ganz entscheidende Frage. Weiter sollte Prävention auf die Prüfung ausreichender Ressourcen für eine aufsuchende Drogenberatung in Haft fokussieren, wobei nicht nur externe Suchthilfeinstitutionen, sondern auch die vollzugsinterne gesundheitliche Versorgungsstruktur mit der Frage der Attraktivität der Inanspruchnahme eines möglichst breit gefächerten Therapieangebots parallel zur kommunalen Situation in Freiheit und die Vernetzung von Angeboten intra- und extra muros gemeint sind. Externe Berater können jedoch - personelle und materielle Ausstattung vorausgesetzt - in besonderer Weise die Kontinuität zwischen drinnen und draußen durch persönliches Case-Management sicherstellen und genießen mitunter einen entsprechenden Vertrauensbonus gegenüber der Anstaltsmedizin. Harm-Reduction-Angebote, sofern bislang regional überhaupt vorhanden, sollten sehr gezielt in jeder Phase des Vollzugsaufenthaltes Safer-Use-Beratung auf die Entlassungssituation hin integrieren - je früher dies ansetzt, desto besser, denn Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern über den genauen Entlassungszeitpunkt, z. B. auch durch individuell nicht absehbare Ereignisse wie der Zahlungsleistung zur Beendigung von Ersatzfreiheitsstrafen, erfolgen oftmals kurzfristig. Auch bei Abbruch einer abstinenzorientierten Behandlung müssen einem Häftling gezielt weitere Beratungsangebote zuteil werden, um den Standard zu erfüllen, der auch nach disziplinarischer Entlassung und Abbrüchen in der stationären Entzugstherapie in Freiheit gilt: Es müssen Möglichkeiten der Weiterbehandlung gesucht werden [17]. Eher eine Zukunftsvision ist der Ausbau von therapeutischen Gemeinschaften mit sequenzieller bindender Rückführung in die kommunale Versorgung hinein [18] - auch sie können nur so gut sein, wie es gelingt, einen möglichst großen Teil bislang nicht identifizierter Personen mit Suchtproblemen im Vollzug zu selbstverantwortlicher Teilnahme zu motivieren, z. B. über die Einbeziehung von Peers auf Seiten externer Beratungsstellen. Der sichtbare Erfolg erster Naloxonvergabeprojekte auch in Deutschland [19] gibt Anlass, die Mitgabe des Antidots bei Haftentlassung zu diskutieren. Gefragt sind Lösungen, die zur besseren Erreichbarkeit auch jener großen Gruppe zwischenzeitlich Abstinenter führen, die ihre Haftzeit „unauffällig” und ohne Kontakt zur Suchthilfe zu Ende bringen, nach der Entlassung aber einem hohen Rückfallrisiko ausgesetzt sind. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist zweifellos ein weiterer Ausbau der Schulungsangebote für professionelle Suchthelfer wie Vollzugsbedienstete, um ihnen die Vermittlung eines effizienten Safer-Use-Trainings zu ermöglichen.

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Literatur

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  • 19 Korporal J, Dangel-Vogelsang B. Prävention von Drogennot- und -todesfällen durch dezentrale gesundheitlich-soziale Versorgung und Stärkung der Selbsthilfe. Kraus L, Püschel K Prävention von drogenbedingten Not- und Todesfällen Freiburg i. Br; Lambertus 2002

Dr. Axel Heinemann

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Dr. Axel Heinemann

Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg

Butenfeld 34

22529 Hamburg

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Abb. 1 Überlebensfunktion nach Haftentlassung.

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Abb. 2 Überleben nach Altersgruppe.

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Abb. 3 Überleben und Dauer letzer Haft.

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Abb. 4 Anteil an Morphin-Monointoxikationen unter allen Todesfällen durch Intoxikation.