Das Besondere an der Heavy-user-Forschung ist, dass sie sich seit über 20 Jahren mit
Engagement einer Patientengruppe widmet, für die es keine einheitliche Bezeichnung
gibt, die nach wie vor einer klaren Definition entbehrt und deren tatsächliche Existenz
immer noch nicht zweifelsfrei feststeht.
Personen, die medizinische Leistungen stark in Anspruch nehmen, werden in der Versorgungsforschung
wahlweise als „heavy user”, „high utilizer”, „frequent repeater” oder „multiple recidivists”
bezeichnet, aber auch die Kombinationen „high user”, „heavy utilizer” und „frequent
user” sind möglich. Dies ist ein Bonus für die sprachliche Vielfalt, aber nicht für
die inhaltliche Präzision. Die babylonische Sprachverwirrung macht Literaturrecherchen
zu einer Sisyphosarbeit und lässt die Wahrscheinlichkeit, einen vollständigen Überblick
über den Stand der Forschung zu gewinnen, drastisch sinken.
Patienten, die bestimmte medizinische Versorgungsangebote überdurchschnittlich häufig
nutzen, gibt es in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung, vom Krisentelefon bis
zum Krankenhaus. Da die stationäre Versorgung jedoch sehr kostenintensiv ist, hat
eine überproportionale Inanspruchnahme in diesem Bereich besondere Bedeutung und bildet
folgerichtig den Fokus der Heavy-user-Forschung.
Während schon seit den 70er Jahren Untersuchungen zu den Ursachen und Prädiktoren
stationärer Wiederaufnahmen durchgeführt wurden, sind heavy user stationärer Behandlung
erst seit den 80er Jahren ein Schwerpunkt der psychiatrischen Versorgungsforschung.
Das besondere Interesse an heavy usern erklärt sich dadurch, dass vermutet wird, die
starke Leistungsinanspruchnahme dieser Patientengruppe sei unter bestimmten Bedingungen
vermeidbar. Die Versorgungsforschung versucht deshalb, die Ursachen intensiver Inanspruchnahme
zu identifizieren sowie geeignete alternative Therapieangebote und Interventionsmöglichkeiten
abzuleiten.
Dieses Forschungsziel macht eine Differenzierung zwischen „starker” und „normaler”
Nutzung medizinischer Versorgung notwendig. Die meisten Studien orientieren sich dazu
an der Häufigkeit der Patientenkontakte mit bestimmten Einrichtungen, finden aber
keine einheitliche Definition dafür, wie viele Kontakte im Beobachtungszeitraum erfolgen
müssen, damit von starker Inanspruchnahme gesprochen werden kann. Dies ist nicht verwunderlich,
da nur schwer zu begründen ist, warum beispielsweise drei stationäre Aufnahmen pro
Jahr eine „starke” Nutzung darstellen sollen, während zwei Krankenhausaufenthalte
in dieser Zeit noch „normal” sind. Das bedeutet: Bislang ist es nicht gelungen, einen
Punkt zu finden, in dem sich Patienten mit einer stärkeren Inanspruchnahme eindeutig
von Patienten mit einer geringeren Inanspruchnahme unterscheiden. Wenn man bei dem
gewählten Beispiel bleibt, gilt das, was für „heavy user” mit mindestens drei Aufnahmen
herausgefunden wurde, in abgeschwächter Form auch noch für „Normalnutzer” mit zwei
Aufnahmen. Heavy user und Normalnutzer können demnach bislang nur quantitativ, aber
nicht qualitativ voneinander abgegrenzt werden. Die Entscheidung, ab wann von heavy
use gesprochen wird, ist daher willkürlich und bleibt letztlich den einzelnen Autoren
überlassen.
Aufgrund der genannten definitorischen Probleme, aber auch infolge unbefriedigender
Studienergebnisse, bezweifeln einige Autoren sogar, dass es heavy user als eigenständige
Patientengruppe mit spezifischen Merkmalen überhaupt gibt [1]. Dagegen sind andere Forscher so überzeugt von der Existenz der heavy user, dass
sie bereits detaillierte Subgruppenprofile erarbeitet haben [2]
[3]
[4].
In Anbetracht der beschriebenen Verwirrung verwundert es nicht, dass, wenn es um heavy
user geht, immer wieder der Begriff „Phänomen” auftaucht. Eine Bezeichnung, die einen
ebenso mystischen wie unwissenschaftlichen Beigeschmack hat. Wird die Heavy-user-Forschung
damit zum paranormalen Grenzbereich der Psychiatrie - sozusagen zur Paraversorgungsforschung?
Kritiker sehen das wohl so.
Dennoch sind es nicht die definitorischen Unsicherheiten, die an der Heavy-user-Forschung
primär kritisiert werden. Der am häufigsten zu hörende Vorwurf lässt sich in einem
Wort zusammenfassen: Tautologie. Die Heavy-user-Forschung sei ein Zirkelschluss, heißt
es, und man müsse sich nicht wundern, dass Patienten die Versorgungsangebote stark
in Anspruch nehmen, heavy user sind, da man dies ja vorher so festgelegt habe.
Diese Kritik wäre berechtigt, wenn Patienten, die einmal heavy user sind, immer heavy
user bleiben würden. Viele Untersuchungen sprechen aber dafür, dass dies nicht so
sein muss. Zwar ist die frühere Intensität der Serviceinanspruchnahme ein wichtiges
Indiz für die künftige Nutzung medizinischer Versorgung, aber es müssen weitere Aspekte
hinzukommen, damit ein Patient, der letztes Jahr ein heavy user war, es auch im Folgejahr
sein wird. Die Forschung versucht deshalb, Prädiktoren zu identifizieren, mit denen
potenzielle heavy user möglichst am Anfang einer Phase überdurchschnittlich starker
Versorgungsinanspruchnahme erkannt werden können.
Ein zweiter Vorwurf, der weniger oft zu hören, aber nicht weniger ernst zu nehmen
ist, lautet: Stigmatisierung. Und in der Tat sind die Begriffe „heavy user” oder „high
utilizer” im deutschen Sprachgebrauch eher negativ konnotiert. Sie repräsentieren
die Perspektive der Kostenträger und implizieren, dass die so bezeichneten Patienten
medizinische Versorgung öfter als nötig in Anspruch nehmen. Weniger stigmatisierend
klingt dagegen die deutsche Übersetzung „Patienten mit starker Inanspruchnahme von
Versorgungsleistungen”. Diese Bezeichnung ist jedoch auch weniger prägnant und nicht
so etabliert wie die englischen Begriffe und wird daher in der Praxis eher als weiteres
Synonym verwendet.
Die Tatsache, dass bestimmte Patienten medizinische Versorgungsangebote überdurchschnittlich
häufig nutzen, muss aber nicht in jedem Fall einen negativen Beiklang haben. Aus der
Perspektive der betroffenen Einrichtungen könnten heavy user durchaus auch positiv
wahrgenommen werden. Immerhin sind sie nicht nur die eifrigsten Nutzer medizinischer
Versorgung, sondern auch diejenigen Patienten, die durch ihr ständiges Wiederkommen
das Behandlungsangebot und die Bemühungen des Personals auf ihre Weise besonders wertschätzen.
Insofern würde es nicht verwundern, wenn die Leiter medizinischer Einrichtungen sich
eine Einstellung zu Eigen machen würden, die Betriebswirtschaftler schon lange haben,
nämlich: „Heavy user sind Kunden, die im Gegensatz zu light usern ein Produkt besonders
häufig nachfragen und deshalb die Hauptzielgruppe des Marketing darstellen” [5].
Aber ganz so einfach scheint die Sache im Gesundheitswesen doch nicht zu sein. Medizinische
Versorgung zielt in erster Linie auf Heilung oder Rehabilitation - also auf eine Verbesserung
des gesundheitlichen Status quo, die langfristig dazu führt, dass eine Behandlung
immer seltener benötigt wird. Bei heavy usern lässt sich ein solches Inanspruchnahmemuster
jedoch nicht beobachten. Das behandelnde Personal hat deshalb oft das Gefühl, den
betroffenen Patienten nicht richtig helfen zu können. Daher wird es nicht daran denken,
die Versorgungsinanspruchnahme von heavy usern durch Marketing gezielt zu fördern,
sondern eher resigniert als erfreut reagieren, wenn ein Patient zum zehnten Mal innerhalb
eines Jahres zur stationären Aufnahme erscheint.
Starke Inanspruchnahme medizinischer Versorgung hat aber noch eine andere, tatsächlich
positive Seite: die Fähigkeit der Patienten, einen Ausweg aus einer für sie unbefriedigenden
Situation zu finden. So stellten Lewis u. Hugi im Ergebnis einer qualitativen Untersuchung
fest: „The continued use of inpatient facilities reflects less the inadequacy of clinical
services or the severe disability of clients that it does the purposeful behavior
of resource-poor citizens who can avail themselves of these stations when they feel
it is necessary. The hospital … is used by the chronically treated as a social resource,
not a clinical resource” ([6], S. 218).
Wenn man dieser Beobachtung glaubt, ist heavy use für die betroffenen Patienten alles
andere als ein Problem. Aber warum wird das „Phänomen” dann so hartnäckig untersucht?
Bei dieser Frage wird immer wieder damit argumentiert, dass die häufige Inanspruchnahme
stationärer Versorgung eine erfolgreiche Gemeindeintegration behindere und sich insofern
nachteilig auf die betroffenen Patienten auswirke. Aber das ist nur die professionelle
Sichtweise. Ob die Gemeindeintegration tatsächlich auch für heavy user ein vordringliches
Ziel ist, wissen wir nicht. Und wir wissen ebenso wenig, wie sehr heavy user wirklich
an ihrer starken Inanspruchnahme medizinischer Versorgung leiden.
Sehr wahrscheinlich ist heavy use eher ein Problem der Kostenträger und des behandelnden
Personals, als ein Problem der betroffenen Patienten.
Demnach geht es in der Heavy-user-Forschung auch darum, alternative Versorgungsangebote
zu konzipieren, die für die Patienten den gleichen Zweck erfüllen, wie die bislang
stark in Anspruch genommenen Dienste, aber weniger kostenintensiv und weniger auf
eine Einrichtung fixiert sind. Eine solche Möglichkeit bietet sich in erster Linie
bei Patienten, die medizinische Versorgung häufig aufgrund sozialer Probleme nutzen.
Dagegen sind Interventionen bei Patienten, die Behandlungsangebote primär aufgrund
einer akuten Verschlechterung ihres psychischen Zustands in Anspruch nehmen, eher
schwierig. Hier könnte nur mit besseren Therapiekonzepten reagiert werden, die bislang
jedoch nicht zur Verfügung stehen.
Ob es tatsächlich heavy user gibt, die primär soziale Unterstützung benötigen und
heavy user, die primär medizinische Probleme haben, muss noch untersucht werden. Da
sich die Schwere der Grunderkrankung und das Ausmaß sozialer Probleme aber gegenseitig
bedingen, kann man in der Praxis davon ausgehen, dass beide Faktoren eine Rolle bei
der starken Inanspruchnahme medizinischer Versorgung spielen. Daher ist es sinnvoll,
allen heavy usern alternative Versorgungsangebote zur Lösung sozialer Probleme zu
unterbreiten.
In mehreren Modellprogrammen konnte gezeigt werden, dass auf diese Weise nicht nur
die starke Inanspruchnahme teurer Versorgungsangebote zurückgeht, sondern dass sich
auch das soziale Funktionsniveau und die Zufriedenheit der Patienten verbessern [7]
[8]
[9]
[10]. Allerdings sind solche alternativen Versorgungsstrategien nur sinnvoll, wenn es
darum geht, die starke Inanspruchnahme kostenintensiver Leistungen zu reduzieren.
Das bedeutet, dass sich die Entwicklung und Evaluation geeigneter Interventionsprogramme
in erster Linie auf heavy user stationärer Versorgung konzentriert.
Heavy usern medizinischer Dienste, die nicht so kostenintensiv sind, können in der
Regel keine alternativen Versorgungsangebote unterbreitet werden. Hier ist das Personal
der jeweiligen Einrichtungen gefordert, den Kontakt mit den heavy usern selbständig
zu strukturieren und auf diese Weise sowohl für die Patienten, als auch für die Mitarbeiter
befriedigend zu gestalten.
Bislang war die Heavy-user-Forschung eine Domäne angloamerikanischer Wissenschaftler.
Seit einigen Jahren etablieren sich aber auch im deutschen Sprachraum zunehmend Arbeitsgruppen,
die sich mit dem Problem starker Inanspruchnahme medizinischer Versorgung auseinandersetzen.
In Deutschland wird dieses Forschungsgebiet seit dem Jahr 2000 im Rahmen eines Versorgungsforschungsprogramms
gezielt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie die Spitzenverbände
der gesetzlichen Krankenkassen gefördert.
Bleibt zu hoffen, dass es mit dem hierzulande neuen Forschungsbereich nicht nur gelingt,
die Untersuchungsansätze der anglo-amerikanischen Studien im deutschen Sprachraum
zu replizieren, sondern einen darüber hinausgehenden, eigenständigen Beitrag zur Aufklärung
des Heavy-user-Phänomens zu leisten. Offene Fragen gibt es genug.