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DOI: 10.1055/s-2002-35517
Entwicklung von Standards in der Substitutionsbehandlung Heroinabhängiger
The Development of Guidelines in Methadone Maintenance Treatment of Heroin Addicts
Prof. Dr. Michael Krausz
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg, c/o Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
20246 Hamburg, Martinistr. 52
Email: krausz@uke.uni-hamburg.de
URL: http://www.zis-hamburg.de
Publication History
Publication Date:
19 November 2002 (online)
- Vorbemerkung
- Bereiche der Standarddiskussion in der Substitutionsbehandlung
- Konsequenzen
- Was heißt das für die Fachgesellschaften?
Vorbemerkung
Die Beschäftigung mit der Substitutionstherapie Heroinabhängiger, ihre Qualifizierung und Ermöglichung auch gegen politische Widerstände war für die Deutsche Gesellschaft für Drogen und Sucht (DGDS) und ist für die daraus u. a. hervorgegangene Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin ein zentrales Anliegen. Viele Pioniere der Substitutionsbehandlung, wie Rainer Ullmann, Jörg Gölz und Inge Hoenekopp haben zusammen mit vielen anderen die Breschen geschlagen, die auch in unserem Land über viele Jahre Auseinandersetzung die bessere Verfügbarkeit und Qualität heute durchsetzen helfen. Es hat sich seit den ersten Bemühungen in den 80er-Jahren viel verändert. Mit der Einigung Ende diesen Jahres ist die gleichzeitige Multimorbidität nicht mehr Voraussetzung für die Substitution, es reicht die Opiatabhängigkeit als Indikation. In der kommenden Phase geht es um die Qualifizierung und Integration der Substitution in umfassendere Behandlungskonzepte der Sucht und ihrer Begleiterkrankungen.
#Vorgeschichte
Ungefähr 10 Jahre nach den USA hat auch in Deutschland eine intensivere Diskussion um die Standards in der Suchtbehandlung begonnen, wobei die Substitutionsbehandlung insgesamt der entwickeltste und kontroverseste Bereich dieser Debatte gewesen ist, gerade aufgrund seiner hohen gesundheitspolitischen Brisanz. Gründe für die erhöhte Aufmerksamkeit in der Diskussion um die Standards sind vielfältig, vorrangig aber sicher auch die veränderte rechtliche Rahmensituation mit dem Sozialgesetzbuch fünf (SGB V), das fachliche Standards als wesentliche Grundlage auch für die Entscheidungen über die Kostenübernahme und andere damit zusammenhängende haftungsrechtliche Entscheidung ansieht.
Die verschiedenen Fachgesellschaften in Deutschland, insbesondere die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie und die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin, haben mit Beginn des Jahres 2000 verschiedene Vorschläge zur Diskussion gestellt, die seitdem in verschiedenen Zusammenhängen weiter entwickelt und diskutiert werden (www.DGSuchtmedizin.de).
#Gründe für Standards
Was für fachliche und patientenzentrierte Gründe gibt es, sich über Standards in der Behandlung, gerade in der Substitution, Gedanken zu machen?
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Es gibt eine intensive Entwicklung im Bereich der Substitutionsforschung, deren Erfahrungen in der Praxis verankert werden müssen. Die Diskussion und Entwicklung von Standards ist ein wichtiges Mittel, um einen Theorie/Praxis-Transfer gerade angesichts sich erweiternder Behandlungsmöglichkeiten sicherzustellen.
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Bezüglich der Indikationsstellung und der verschiedenen Interventionsstrategien gibt es viele unterschiedliche Auffassungen, die teilweise nicht modernen therapeutischen Ansätzen entsprechen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, Minimalbedingungen an das Setting, die verwendeten Interventionen und auch die Kontraindikation festzulegen.
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Schon jetzt versuchen sich Kostenträger aus notwendigen Interventionen herauszuhalten. Die Diskussion und Festlegung von Standards in der Suchtmedizin sichert die Finanzierung und ist eine wichtige Grundlage auch in der Auseinandersetzung mit den Kostenträgern.
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Die Standards sollten auch die Grundlage und der Rahmen für gemeinsame Weiterbildungsveranstaltungen z. B. im Rahmen der Allgemeinmedizin sein, die bis heute maßgeblich in verschiedenen Bereichen der ambulanten suchtmedizinischen Versorgung tätig ist.
Bereiche der Standarddiskussion in der Substitutionsbehandlung
An der Standarddiskussion der Substitutionsbehandlung beteiligen sich verschiedene fachliche und drogenpolitische Gruppen wie die Bundesärztekammer, die Gesellschaft für akzeptierende Drogenarbeit Akzept, die Deutsche Gesellschaft für Suchttherapie und Suchtforschung, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) als wichtige Fachgesellschaft im Bereich Psychiatrie/Psychotherapie, die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin und andere. Die fachliche Diskussion wird im Wesentlichen um einige Bereiche geführt, die im Nachfolgenden kurz als Übersicht dargestellt werden sollen.
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Indikationsstellung zur Substitution
Die Frage der Indikationsstellung zur Substitution ist eine der am längsten umstrittenen Fragen. Dies lässt sich u. a. an den verschiedenen bundesdeutschen Methadonprogrammen ablesen, die teilweise sehr hochschwellig sind und teilweise niedrige Zugangsvoraussetzungen haben. Nach langjähriger Erfahrung in den Anfang 2000 und 2002 beschlossenen Richtlinien der Bundesärztekammer (BUB) werden nunmehr auch für die Substitution keine weiteren schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen vorausgesetzt, sondern alleine die Opiatabhängigkeit ist ausreichende Voraussetzung für diesen Behandlungsansatz. Trotzdem gibt es im Bereich der Standards in diesem Feld auch für einzelne Programme verschiedene Regelungen.
Erst mit der Einigung zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und dem Bundesausschuss „Ärzte und Krankenkassen” der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Ende 2002 ist die Substitution auf der Basis der Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung ohne restriktive Einschränkungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zugelassen, mehr als 35 Jahre nach den ersten positiven Erfahrungen mit der Substitution in den USA!
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Diagnostik
Die von den Kostenträgern erstatteten Kontrollen z. B. auf Beikonsum im Rahmen der Urinanalytik sind lediglich ein Kostengesichtspunkt und nicht an therapeutischen Notwendigkeiten ausgerichtet. Outcome-Diagnostik über das Konsummuster hinaus wird bisher im Rahmen von Standards kaum geregelt, obwohl die hohe Quote von zusätzlichen psychischen Störungen oder somatischer Erkrankung den Verlauf der Substitution mit Sicherheit beeinflusst, so dass die Frage eines regelmäßigen Screenings Gegenstand der Standarddiskussion ist. Gerade in diesem Bereich macht sich das Spannungsfeld zwischen Kostenargumenten und notwendigen medizinischen Maßnahmen extrem deutlich. Auch auf der Seite der Substituierenden sind oft die ökonomischen Argumente für das Vorgehen ausschlaggebend.
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Psychosoziale Betreuung
Das Ausmaß der Standardisierung und Qualitätssicherung bei der psychosozialen Betreuung in der Substitution ist sehr unterschiedlich, obwohl die Notwendigkeit einer über die Verabreichung und Substitution hinausgehenden Therapie unbestritten ist. Auch hier gibt es ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen dem, was die Kostenträger bereit sind zu übernehmen (in Deutschland keine Leistung), und dem, was im Rahmen von therapeutischen Standards als regelhaft notwendig empfohlen wird (z. B. Bühringer et al. 1995). Mit der weiteren Forschung und dem Wirksamkeitsnachweis standardisierter psychosozialer Interventionen wird auch hier eine neue Diskussion im Rahmen der Standards bezüglich der notwendigen Verbesserung der psychosozialen Betreuung und ihrer Finanzierung durch die GKV erfolgen müssen.
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Einsatz von Substitutionsmitteln/DosierungSchließlich ist auch der gesamte Einsatz von Substitutionsmitteln sowie deren Aufdosierung oder Entgiftung von ihnen ein zentraler Bestandteil von Standards im Rahmen der Qualitätssicherung. Gerade mit der besseren Verfügbarkeit verschiedener Substanzen wird die Frage der Differenzialindikation, zu der bisher kaum Forschung verfügbar ist, in den nächsten Jahren eine immer größere Rolle spielen. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe gesicherter Erkenntnisse, die über Jahrzehnte teilweise - insbesondere was zum Beispiel die Methadondosis angeht - erfolgreich ignoriert wurden. So gibt es bis heute in vielen Ländern Regelungen zur durchschnittlichen Methadondosis, die eindeutig auf eine Unterdosierung und damit mangelhaft wirksame Intervention hinauslaufen und möglicherweise einen Teil der Therapieversager erklären (Guidelines der Bundesärztekammer).
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Qualifikation
Mit der Etablierung der Substitutionstherapie als Standard stellt sich auch die Frage der notwendigen Qualifikation für deren Durchführung. Die bundesweite Regelung zur suchtmedizinischen Grundversorgung ist ein erster Schritt in diese Richtung, der sich allerdings in den nächsten Jahren sicher noch modifizieren wird. Wo die Suchtmedizin und auch die Substitutionsbehandlung letztendlich angesiedelt sein werden und welcher Anteil an psychiatrisch/psychischtherapeutischer oder somatischer Qualifikation notwendig sein wird, ist bisher zwischen den verschiedenen Fachgesellschaften noch nicht geregelt. Es ist auch ein wichtiger und interessanter Aspekt der Standarddebatte.
Standarddiskussion in der Suchttherapie generell
Standards in anderen Indikationsgebieten der Psychopharmakotherapie über Suchterkrankung liegen bisher lediglich teilweise in den USA vor (APA Standards Treatment of Substance Abuse). Die Diskussion in Deutschland hat dazu in verschiedenen Fachkreisen, Gesellschaften und Qualitätszirkeln u. a. begonnen. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten 2 bis 3 Jahren auch ähnlich entwickelte und möglicherweise auch gemäß der Richtlinien der Ärztlichen Zentralstelle für Qualitätssicherung zertifizierte Richtlinien z. B. für die Entgiftungsbehandlung, die Behandlung von Komplikationen wie dem Delir, die Behandlung somatischer Folgeerkrankungen bei Suchtkranken u. a. vorliegen werden.
Die Erarbeitung von Standards im Bereich der Substitution, der Suchttherapie und speziell der Suchtmedizin ist im Interesse der Betroffenen dringend notwendig, stößt aber auf enorme Probleme, die nur zum Teil aus der schwierigen klinischen Materie herrühren. Dies lässt sich schon an dem Umgang mit der Diskussion um die Substitution Jahrzehnte nach ihrer internationalen, klinischen Einführung zeigen. Viele Regelungen auch in den entsprechenden Gesetzen enthalten auch heute noch zahlreiche Regelungen, die sich nicht aus der Forschung o. a. begründen lassen. Was erschwert diese Entwicklung?
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Mangel an klinischer Forschung und „evidence based medicine”
Im Vergleich zu der sozialmedizinischen und klinischen Bedeutung von Sucht sind die verfügbaren Forschungsmittel und die in Europa vorhandene wissenschaftliche Infrastruktur unzureichend bis nicht vorhanden. Trotz größerer Aufmerksamkeit in den letzten Jahren werden in Europa unter 5 % der weltweiten Aufwendungen in diesem Bereich getätigt. Konsequenterweise gibt es zu vielen Interventionen und Versorgungssettings keine empirische Basis im Ergebnis von Studien.
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Vermischung mit ideologischen Debatten und dem Kampf um Meinungsführerschaften
Bis in die 90er-Jahre z. B. war die Unterstützung der Substitutionsbehandlung im Rahmen vieler Fachgesellschaften, wie der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie oder der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS), eine Minderheitenposition. Gerade an dieser Frage konnte man und kann man die Belastung der Auseinandersetzung um die beste Behandlung Opiatabhängiger mit „Ideologien” jenseits der Wissenschaft beobachten.
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Beteiligung verschiedener Fachgebiete und Berufgruppen
In der Suchttherapie arbeiten verschiedene Fachdisziplinen zwischen Sozialarbeit und Infektiologie, Psychotherapie und Allgemeinmedizin mehr oder weniger natürwüchsig zusammen. Das gemeinsame Rational des Handelns ist oft gewachsen und historisch erklärbar (genauso wie die Finanzierungswege),<!?breakb b16> aber nicht unbedingt sinnvoll im Sinne der Anforderung einer<!?breakb b16> modernen Patientenversorgung. Standards definieren Notwendigkeiten und sind möglicherweise der rationale Rahmen für Versorgungsstrukturen und damit die Verteilung von Ressourcen. Darum wachen Standespolitiker aller Berufsgruppen mehr oder weniger erfolgreich darüber.
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Stigmatisierung von Suchtpatienten durch Kostenträger
Es gibt mehrere Bereiche der Medizin, insbesondere der psychosozialen Fächer, in denen notwendige und anerkannte therapeutische Leistungen nicht von der GKV übernommen werden, hingegen andere Bereiche, die aufgrund erfolgreicher Lobbypolitik vollkommen überbewertet werden. Die Suchtmedizin ist mit Sicherheit ein extremes Beispiel für die anhaltende Benachteiligung von Patientengruppen. Z.B. wird bis heute die anerkannterweise notwendige psychosoziale Behandlung oder Psychotherapien für Abhängige nicht getragen.
Konsequenzen
Die größer werdende Schere zwischen Behandlungsmöglichkeiten und therapeutischem Fortschritt einerseits und der Begrenzung der Mittel erzwingt einen rationaleren Umgang mit diesem Thema. Entweder schaffen die Fachgesellschaften, Selbsthilfe, Wissenschaft und Politik es, verbindliche Grundlagen zu definieren oder aber sie müssen die Verantwortung für ein zunehmend ineffizientes unter seinen Möglichkeiten arbeitendes Hilfesystem übernehmen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Folgen bezüglich der Arbeitsplätze in diesem Bereich.
Die Standarddiskussion in den USA kann in diesem Zusammenhang einige Anregungen bieten. Insbesondere scheint die Einbeziehung von Öffentlichkeit sowie engagierter Fachleute und Laien aus anderen Gebieten ein guter Weg zu sein, um die allgemeine Akzeptanz von Standards zu erhöhen. Das National Institute of Health (NIH) leistet hier wichtige logistische Integrationsarbeit.
Die Kompetenz für diesen Prozess ist auch in Deutschland vorhanden. Man muss allerdings begreifen, dass es sich um einen langfristigen Prozess, einen anderen Umgang mit der Medizin und ihren Rationalen handelt und nicht um die Fleißarbeit selbst ernannter Experten.
#Was heißt das für die Fachgesellschaften?
Die verschiedenen Fachverbände zwischen Suchtmedizin, Suchtforschung und Allgemeinmedizin spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Es ist notwendig, die vorhandenen inhaltlichen Differenzen im Rahmen der Vorschläge der Ärztlichen Zentralstelle für Qualitätssicherung auszudiskutieren und Richtlinien zu erarbeiten, die den Leistungserbringern mehr Sicherheit und Orientierung im Sinne einer besseren Patientenversorgung liefern.
Literatur bei den Autoren
Prof. Dr. Michael Krausz
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg, c/o Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
20246 Hamburg, Martinistr. 52
Email: krausz@uke.uni-hamburg.de
URL: http://www.zis-hamburg.de
Prof. Dr. Michael Krausz
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg, c/o Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
20246 Hamburg, Martinistr. 52
Email: krausz@uke.uni-hamburg.de
URL: http://www.zis-hamburg.de