Ergebnisse
Antwortverhalten
Die genannte Rücklaufquote ausgefüllter Fragebogen von
50,5 % wurde zunächst auf Geschlechtseffekte hin untersucht
(Tab. 1).
Tab. 1 Antwortverhalten in
Abhängigkeit vom Geschlecht (Häufigkeiten und Prozentwerte [in
Klammern])
Kategorie | männlich | weiblich | gesamt |
Angeschriebene | 98
(50,5) | 96 (49,5) | 194
|
Antworter | 38
(38,8) | 60 (61,2) | 98 |
Es zeigt sich dabei, dass von den 98 männlichen Probanden der
Ausgangsgruppe lediglich 38 (38,8 %) geantwortet haben. Für
die weiblichen Mitglieder der Untersuchungsgruppe ist das
Verhältnis wesentlich günstiger: Hier haben von
96 Angeschriebenen 60 (62,5 %) geantwortet.
Dieser statistisch nur schwach signifikante Unterschied im
Antwortverhalten (Chi-Quadrat = 3,60;
p < 0,10) mag zum einen auf generelle geschlechtsspezifische
Differenzen in der Mitwirkungsbereitschaft bei derartigen Befragungen beruhen.
Zum anderen könnten weitere Gründe ursächlich wichtig sein, wie
z.B. die Möglichkeit, dass die Männer der Untersuchungsgruppe in
einem viel höheren Ausmaß als die Frauen schon von psychischen,
insbesondere suchtbedingten Störungen betroffen waren, aufgrund derer sie
nicht bereit oder in der Lage waren, zu antworten. Auch die Bereitschaft, sich
kritisch mit der eigenen Familiengeschichte und der Rolle der Eltern
auseinander zu setzen, mag geschlechtsspezifisch unterschiedlich sein.
Soziodemografische Daten und zentrale lebensgeschichtliche
Ereignisse
Die Auswertung der Fragebogendaten fokussierte zunächst auf
soziodemografische Daten bezüglich der Kindheit und Jugend der Befragten:
Als Einzelkinder wuchsen 17 (17,3 %), als
Älteste in einer Geschwisterfolge 43 (43,9 %), als Mittlere
9 (9,2 %) und als Jüngste 29 (29,6 %) auf.
Sechs der Probanden sind aufgrund von Trennungen bzw. Scheidungen der Eltern
mit Halb- oder Stiefgeschwistern aufgewachsen.
Zum Zeitpunkt des Kinder- bzw. Jugendseminars betrug das
Durchschnittsalter der Probanden 13,0 Jahre (Std. abw.: 3,12 Jahre). Die
durchschnittliche Katamnesedauer, d.h. die Dauer vom Zeitpunkt des Seminars in
der Fachklinik bis zur vorliegenden Erhebung, beläuft sich auf 7,66 Jahre
(Std. abw.: 2,90 Jahre).
Neben diesen soziodemografischen Daten aus der Kindheit und Jugend
der Befragten interessierten zentrale lebensgeschichtliche Erfahrungen und
Erlebnisse der jungen Erwachsenen. So berichten 6 (6,2 %), dass
sie schon einmal in einem Heim untergebracht waren, 7 (7,1 %)
lebten - zumindest zeitweise - bei Pflegeeltern. Von allen
Antwortern haben 27 (27,5 %) eine Trennung der Eltern erlebt.
Für 15 (55,5 %) von diesen bedeutete dies nach eigener
Einschätzung ein negatives Ereignis. 67 (68 %) berichten von
Schulproblemen. Von den 98 Antwortern sind 26 (26,8 %) schon
einmal psychologisch oder psychiatrisch behandelt worden. 9
(34,6 %) von diesen bewerten dies negativ.
Atmosphäre in der Herkunftsfamilie
Bezüglich der erlebten Atmosphäre (Tab. 2) berichten zwischen 14,6 % und
56,1 % der Probanden von problematischen Erfahrungen. Je nach
Beurteilungsbereich schwankt dieser Wert: Eine gewalttätige
Familienatmosphäre berichtet etwa jeder Siebte (14,6 %),
eine unfreundliche bzw. kalte etwa jeder Vierte (25 % bzw.
28,9 %), eine unberechenbare bzw. verlogene Atmosphäre haben
35,2 % bzw. 45,4 % erlebt. Noch höhere Werte
ergeben sich für die meisten weiteren Merkmale: bedrückt
(41,7 %), disharmonisch (41,8 %), hemmend
(42,3 %), verlogen (45,4 %), instabil
(54,7 %) und angespannt (56,1 %). Auffällig
ist dabei besonders, dass die Indikatoren für mangelnde Stabilität und erhöhten
intrafamilialen Stress die jeweils höchsten Werte
erreichten.
Tab. 2 Atmosphäre in der
Herkunftsfamilie (alle Angaben in
Prozent)
| | mit
| mit
| mit zwei
| mit Eltern
|
| alle | suchtkrankem | suchtkranker | suchtkranken | ohne
dauerhafte |
| | Vater | Mutter | Elternteilen | Abstinenz |
Kategorie | n = 98 | n = 61 | n = 24 | n = 13 | n = 26 |
disharmonisch | 41,8 | 41,8 | 38,1 | 54,5 | 50 |
kalt | 28,9 | 25,9 | 28,6 | 54,5 | 23,1 |
verschlossen | 42,7 | 43,6 | 42,9 | 33,7 | 60 |
unberechenbar | 35,2 | 33,1 | 33,7 | 22,2 | 54,2 |
gewalttätig | 14,6 | 16,7 | 0 | 30 | 20 |
verlogen | 45,4 | 43,6 | 47,6 | 50 | 57,3 |
bedrückt | 41,7 | 40,7 | 42,9 | 50 | 40 |
hemmend | 42,3 | 43,6 | 42,9 | 40 | 57,7 |
unfreundlich | 25 | 23,6 | 19 | 44,4 | 42,3 |
instabil | 54,7 | 51,9 | 57,1 | 55,6 | 72 |
angespannt | 56,1 | 52,7 | 61,9 | 54,5 | 76,9 |
Bei einer Differenzierung der Antworten nach Subgruppen (Probanden
mit suchtkrankem Vater, mit suchtkranker Mutter, mit zwei suchtkranken
Elternteilen und mit einem Elternteil, der nach der Therapie keine dauerhafte
Abstinenz erreichte) zeigen sich erhebliche weitere Unterschiede.
Während die Probanden mit ausschließlich suchtkrankem
Vater (n = 61) im Wesentlichen um oder leicht unter den
Prozentwerten der Gesamtgruppe liegen, zeigen sich für die Probanden mit
suchtkranker Mutter (n = 24) bei einigen Werten
stärkere Abweichungen. So berichten diese Jungerwachsenen von einer
weniger gewalttätigen (0 % bei suchtkranken Müttern im
Vergleich zu 16,7 % bei suchtkranken Vätern) und weniger
unfreundlichen (19 % im Vergleich zu 23,6 %)
Familienatmosphäre. Andererseits erlebten sie in höherem Maße
Instabilität (57,1 % im Vergleich zu 51,9 %)
und Anspannung (61,9 % im Vergleich zu 52,7 %).
Erstaunlich ist auch der differenzielle Einfluss der mütterlichen
Abhängigkeit auf die Familienatmosphäre: Weniger interaktioneller
Stress durch Gewalt, Aggressivität und Unfreundlichkeit bei höherem
intrapsychischem Stress durch Anspannungen und Instabilität herrschen hier
vor.
Ein wesentlich klareres Bild bezüglich dysfunktionaler und
pathogener Bedingungen in suchtbelasteten Familien ergibt sich bei
Berücksichtigung der beiden letzten Subgruppen: Dies sind Probanden, von
denen beide Elternteile suchtkrank waren (n = 13) oder bei
denen das suchtkranke Elternteil nach der Therapie in der Fachklinik keine
dauerhafte Abstinenz erreichte (n = 26). Wenn beide
Elternteile suchtkrank sind, wird die Familienatmosphäre etwa doppelt so
häufig als kalt (54,5 % im Vergleich zu
28,9 %), gewalttätig (30 % im Vergleich zu
14,6 %) und unfreundlich (44,4 % im Vergleich zu
25 %) eingeschätzt. Eine weniger deutliche Steigerung ergibt
sich für die atmosphärischen Variablen „disharmonisch”,
„verlogen” und „bedrückt”. Interessanterweise
zeigen sich die Variablen „verschlossen” und
„unberechenbar” im Vergleich zur Gesamtgruppe erniedrigt, was
- sollte es angesichts der relativ kleinen Stichprobe kein Zufallseffekt
sein - an den speziellen Bedingungen der Suchtbelastung beider
Elternteile liegen könnte. Möglicherweise sind die Abläufe in
diesen Familien, auch wenn sie negativ erscheinen, für die Kinder
berechenbarer und offener als in Familien mit nur einem alkoholabhängigen
Elternteil. Die klinische Erfahrung jedenfalls unterstützt eine derartige
Hypothese eher.
Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie
Neben der familiären Atmosphäre in der Herkunftsfamilie
wurden die ehemaligen Seminarteilnehmer auch nach Gewalterfahrungen befragt.
Tab. 3 zeigt die Angaben zu den körperlichen
(physischen) Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie:
Tab. 3 Körperliche Gewalt in
der Herkunftsfamilie (alle Angaben in
Prozent)
| | mit
| mit
| mit zwei
| mit Eltern
|
| alle | suchtkrankem | suchtkranker | suchtkranken | ohne
dauerhafte |
| | Vater | Mutter | Elternteilen | Abstinenz |
Kategorie | n = 98 | n = 61 | n = 24 | n = 13 | n = 26 |
täglich | 3,1 | 5,5 | 0 | 0 | 3,8 |
oder fast
täglich | | | | | |
oft
| 6,1 | 9,1 | 0 | 9,1 | 3,8 |
(mehr als 5x
monatl.) | | | | | |
manchmal
| 4,1 | 3,6 | 4,8 | 9,1 | 3,8 |
(bis zu 5x
monatlich) | | | | | |
selten | 36,7 | 40 | 23,8 | 36,3 | 50 |
(höchstens 1x
im Monat) | | | | | |
nie | 50 | 41,8 | 71,4 | 45,5 | 38,6 |
Physische Gewalt tritt insgesamt häufiger auf, wenn der Vater
oder beide Elternteile suchtkrank sind. Dies bestätigt klar die
bereits unter der Fragestellung der Familienatmosphäre gefundenen
Ergebnisse. Tägliche oder fast tägliche Gewalt (wie z. B.
Prügel, Schläge, Tritte usw.) berichten insgesamt 3,1 %
aller Befragten, aber 5,5 % aller Befragten mit einem
alkoholabhängigen Vater. Nimmt man die Personen hinzu, die zumindest
häufig physische Gewalt in der Familie erlebt haben (oft: mehr als 5-mal
monatlich), so ergeben sich folgende Quoten: Die Gesamtgruppe
(n = 98) berichtet in 9,2 % aller Fälle
von täglicher oder häufiger physischer Gewalt in der
Herkunftsfamilie, diejenigen mit einem suchtkranken Vater zu
14,6 % und diejenigen mit zwei suchtkranken Elternteilen zu
9,1 %. Interessanterweise wird im Falle ausschließlicher
mütterlicher Abhängigkeit in keinem einzigen Fall von derartig
häufiger körperlicher Gewalt berichtet (0,0 %!).
Ein etwas anderes Bild ergibt sich hinsichtlich seelischer
Gewalterfahrungen (z. B. Drohen, Brüllen, Entwerten) in der
Herkunftsfamilie. Hier berichten immerhin 18,3 % aller Befragten
von täglichen bzw. fast täglichen Erfahrungen psychischer Gewalt, wie
z. B. Schreien, Drohen oder Liebesentzug. Bei Hinzunahme der Kategorie
mit der zweithöchsten Frequenz von Gewalterfahrungen (oft: bis zu 5-mal im
Monat) steigert sich die Quote auf 35,6 %. Dies spricht für
ein hohes intrafamiliales Konflikt- und Spannungsniveau, wie dies auch schon
bei der Auswertung der familienatmosphärischen Daten deutlich wurde.
Für diese Variable zeigt sich unter Betrachtung der
geschlechtsspezifischen Eltern-Abhängigkeitsbelastung (Vater vs. Mutter
vs. beide) ein anderes Bild als bei der physischen Gewalt: Suchtkranke
Mütter weisen bei der täglichen psychischen Gewalt eine höhere
Quote auf als nicht suchtkranke Mütter, was sich jedoch bei der Kategorie
„oft” deutlich ins Gegenteil zu Lasten der suchtkranken
Väter verkehrt (25,5 % im Vergleich zu 4,8 %).
Die am stärksten belasteten Gruppen sind jedoch wiederum die mit zwei
suchtkranken Elternteilen und mit einem Elternteil, der nach der Therapie keine
dauerhafte Abstinenz erreicht hat. So erfahren hier 9,1 % bzw.
7,8 % aller Probanden niemals psychische Gewalt, im
Unterschied zu immerhin 21,4 % der Gesamtgruppe.
Bewertung der Eltern und der eigenen Kindheit und Jugend
In den folgenden Tab. 4 und
5 sind die Ergebnisse der Einschätzung von Vater
und Mutter während Kindheit bzw. Jugend bezüglich wichtiger
Erlebensbereiche wiedergegeben. Die Probanden wurden mittels bipolarer
sechsstufiger Items befragt, wie sie Mutter bzw. Vater in ihrer Kindheit und
Jugend erlebt hatten. In den beiden Tabellen sind jeweils die positiven Pole
der Items (wichtig - unwichtig; liebenswert - nicht liebenswert;
positiv - negativ; verständnisvoll - verständnislos)
wiedergegeben. Inhaltlich zeigt sich, dass die Mütter von der Gesamtgruppe
der Befragten günstiger eingeschätzt wurden als die Väter. Dies
mag zum einen damit zusammenhängen, dass Mütter in der Erziehung der
Kinder eine wichtigere und entscheidendere Rolle einnehmen als Väter, zum
anderen aber auch an der Tatsache liegen, dass mehr Väter als Mütter
der Stichprobe suchtkrank waren. Im Einzelnen wurden die Mütter im
Unterschied zu den Vätern zu 89,6 % im Vergleich zu
73,7 % als wichtig, zu 88,4 % im Vergleich zu
64,6 % als liebenswert, zu 76,6 % im Vergleich zu
62,4 % als positiv und zu 78,9 % im Vergleich zu
52,7 % als verständnisvoll eingeschätzt.
Tab. 4 Wie erlebten Sie
während Ihrer Kindheit und Jugend Ihre Mutter? (alle Angaben in
Prozent)
| | mit
| mit
| mit zwei
| mit Eltern
|
| alle | suchtkrankem | suchtkranker | suchtkranken | ohne
dauerhafte |
| | Vater | Mutter | Elternteilen | Abstinenz |
Kategorie | n = 98 | n = 61 | n = 24 | n =13 | n = 26 |
wichtig | 89,6 | 96,3 | 71,4 | 80 | 88,5 |
liebenswert | 88,4 | 94,5 | 65 | 88,9 | 96,2 |
positiv | 76,6 | 85,2 | 57,1 | 50 | 79,2 |
verständnisvoll | 78,9 | 90,7 | 60 | 50 | 80 |
Tab. 5 Wie erlebten Sie
während Ihrer Kindheit und Jugend Ihren Vater? (alle Angaben in
Prozent)
| | mit
| mit
| mit zwei
| mit Eltern
|
| alle | suchtkrankem | suchtkranker | suchtkranken | ohne
dauerhafte |
| | Vater | Mutter | Elternteilen | Abstinenz |
Kategorie | n = 98 | n = 61 | n = 24 | n = 13 | n = 26 |
wichtig | 73,7 | 70,9 | 85,7 | 62,5 | 68 |
liebenswert | 64,6 | 63,6 | 81 | 44,4 | 52 |
positiv | 62,4 | 55,6 | 85 | 50 | 41,7 |
verständnisvoll | 52,7 | 47,3 | 75 | 42,9 | 36 |
Wenn die Untergruppe mit ausschließlich suchtkranken
Vätern betrachtet wird, erhöhen sich die Werte für die
Mütter um 6 % bis knapp 12 % für die
einzelnen Kategorien, während sich die Einschätzung der Väter
noch weiter verschlechtert. So werden nur noch etwas mehr als die Hälfte
(55,6 %) aller Väter als positiv eingeschätzt und sogar
nur noch 47,3 % als verständnisvoll. Interessanterweise sind
es aber immer noch 70,9 % aller Väter, die als wichtig
eingestuft werden.
Die Untergruppe mit ausschließlich suchtkranken Müttern
imponiert mit Vätern, die für alle Kategorien bessere Werte als die
Mütter aufweisen. So werden die nicht suchtkranken Väter im
Unterschied zu den suchtkranken Müttern zu 85,7 % im
Vergleich zu 71,4 % als wichtig, zu 81 % im
Vergleich zu 65 % als liebenswert, zu 85 % im
Vergleich zu 57,1 % als positiv und zu 75 % im
Vergleich zu 60 % als verständnisvoll eingeschätzt.
Offenbar gelingt es einem Großteil der jeweils nicht suchtkranken
Elternteile in der Beziehungsqualität zu ihren Kindern, die erlebten
Defizite im Verhältnis zu den jeweils suchtkranken Elternteilen
auszugleichen.
Bei den beiden weiteren Untergruppen, den Probanden mit zwei
suchtkranken Elternteilen und mit Eltern ohne dauerhaften Therapieerfolg,
zeigen sich differenziell interessante Effekte: Während die Mütter
sich in der Beurteilung kaum von den Müttern der anderen Gruppen
unterscheiden (ungünstige Ausnahme: „positiv” und
„verständnisvoll” in der Subgruppe mit zwei suchtkranken
Elternteilen), weichen die Werte für die Väter für alle
Kategorien deutlich nach unten ab. So werden nur noch 44,4 % der
Väter in der Gruppe mit zwei suchtkranken Elternteilen als liebenswert und
42,9 % als verständnisvoll bewertet. Bei den Eltern ohne
dauerhaften Therapieerfolg sind die entsprechenden Werte mit
41,7 % bzw. 36 % sogar noch geringer.
Die Einschätzung der Eltern während der Kindheit und
Jugend der Probanden ist zwar nur ein globaler und wenig differenzierter
Indikator für eine Vielzahl von Interaktionserfahrungen. Die eruierten
Zahlen machen jedoch schon zahlreiche Tendenzen in Richtung problematischer
intrafamilialer Beziehungen deutlich. Diese Belastungen nehmen
erwartungsgemäß zu, wenn beide Elternteile suchtkrank sind (hier
jedoch vornehmlich bezüglich der Väter) und wenn ein Elternteil seine
Suchtkrankheit nicht dauerhaft überwindet.
Abb. 1 Einschätzung der
Kindheit (bis 12. Lebensjahr).
Abb. 2 Einschätzung der Jugend
(12. bis 18. Lebensjahr).
Auf einer differenzierteren Ebene liegt die getrennte
Einschätzung der Kindheit (Lebenszeit bis zum Alter von 12 Jahren) und der
Jugend (zwischen 12 und 18 Jahren), die bei den Probanden anschließend
erfragt wurde. Dafür wurden wiederum vier bipolar konstruierte,
sechsstufig skalierte Attribute verwendet: unglücklich -
glücklich, chaotisch - geordnet, unbehütet - behütet
und unsicher - sicher. Somit konnte jeder Befragte für die ersten 18
Jahre seiner Lebenszeit acht Urteile abgeben. Während von allen 98
Probanden ca. ein Fünftel (je nach Beurteilungsreiz zwischen
17,5 % für unbehütet und 23,7 % für
chaotisch bzw. unsicher) ihre Kindheit überwiegend negativ beurteilten,
ist diese Quote im Falle väterlicher Abhängigkeit um durchschnittlich
6,1 % geringer, während sie im Falle mütterlicher
Abhängigkeit um durchschnittlich 7,9 % erhöht ist. Die
sich dadurch ergebende Spannweite von 14 % zwischen den
durchschnittlichen Beurteilungswerten für die Kindheit bei
väterlicher bzw. mütterlicher Abhängigkeit macht die
signifikante Rolle der Mutter als Hauptbezugsperson im Leben eines Kindes sehr
deutlich. Für einzelne Werte ergeben sich noch Steigerungen, wenn wiederum
die beiden restlichen Subgruppen, jene mit zwei abhängigen Elternteilen
und mit Eltern, die nach der Therapie ohne dauerhafte Abstinenz bleiben,
betrachtet werden. Bei der Gruppe mit zwei abhängigen Elternteilen sind es
immerhin jeweils 36,4 % der Antworter, die ihre Kindheit als
unglücklich und unsicher einstufen. Bei den Probanden, deren Eltern
weiterhin abhängig waren, sind es 34,6 %, die ihre Kindheit
als chaotisch einstufen.
Wird nun im Unterschied zur Kindheit das Jugendalter betrachtet,
nach unserer Definition die Altersspanne zwischen 12 und 18 Jahren, ergeben
sich fast durchweg höhere Werte. Etwas mehr als durchschnittlich
30 % der Einschätzungen fallen bei der Gesamtgruppe nunmehr
negativ aus. Dabei überwiegen die Elemente „Chaos”
(35 %) und „Unsicherheit”
(34 %). Wiederum verringern sich die Werte bei der Subgruppe mit
suchtkrankem Vater, während sie sich für die Gruppe mit einer
suchtkranken Mutter nicht mehr durchweg erhöhen. Dennoch ist es
bemerkenswert, dass 40 % der Probanden mit einer suchtkranken
Mutter ihre Jugend als unsicher erlebten. Noch deutlicher wird die
„instabile” Jugend bei den beiden restlichen Subgruppen: Jeweils
60 % der Antworter mit zwei suchtkranken Elternteilen erlebten
ihre Jugend als unglücklich bzw. unbehütet. Bei der Gruppe mit Eltern
ohne dauerhaften Therapieerfolg sind es nunmehr 53,8 %, die ihre
Jugendzeit als chaotisch beurteilen.
Derzeitige Lebenssituation und Problembereiche
58 (59,2 %) leben derzeit mit ihrer leiblichen
Mutter in einem Haushalt, 51 (52 %) mit ihrem leiblichen Vater.
Insgesamt leben 61 (62,2 %) mit mindestens einem leiblichen
Elternteil zusammen in einem Haushalt. In 8 (8,2 %) Fällen
leben die Probanden mit ihren Großeltern in einem Haushalt. 39
(39,8 %) Personen leben in einem Haushalt, in dem auch
Geschwister sind. Eigene Kinder, mit denen sie zusammenleben, haben schon 7
(7,1 %) ehemalige Seminarteilnehmer. 21 (21,4 %)
der Befragten leben mit einem festen Partner zusammen. 11
(11,2 %) der Antworter leben alleine.
Tab. 6 Aktuell problematische
Lebensbereiche im Selbsturteil junger erwachsener Kinder aus suchtbelasteten
Familien (alle Angaben in Prozent)
| | mit
| mit
| mit zwei
| mit Eltern
|
| alle | suchtkrankem | suchtkranker | suchtkranken | ohne
dauerhafte |
| | Vater | Mutter | Elternteilen | Abstinenz |
Kategorie | n = 98 | n = 61 | n = 24 | n = 13 | n = 26 |
Ängste | 25,5 | 25,5 | 23,8 | 45,5 | 34,6 |
Depressionen | 21,4 | 24,1 | 19 | 27,3 | 26,9 |
Alkoholkonsum | 6,1 | 3,6 | 9,5 | 20 | 11,5 |
Drogenkonsum | 3,1 | 3,6 | 0 | 0 | 3,8 |
Essverhalten | 19,4 | 18,2 | 19 | 27,3 | 34,6 |
Glücksspiel | 3,1 | 3,6 | 0 | 9,1 | 7,7 |
Arbeitsstil | 16,3 | 9,1 | 23,8 | 36,4 | 19,2 |
sozial
abhängiges Verhalten | 17,3 | 20 | 19 | 10 | 38,5 |
Mangel an
Selbstwertgefühl | 30,6 | 25,5 | 42,9 | 18,2 | 30,8 |
Schuldgefühle | 18,4 | 18,2 | 19 | 27,3 | 26,9 |
Stimmungsschwankungen | 40,8 | 38,2 | 33,3 | 54,5 | 57,7 |
Schlaflosigkeit | 18,4 | 18,2 | 23,8 | 18,2 | 26,9 |
Zwänge | 18,4 | 14,8 | 23,8 | 36,4 | 38,5 |
dauernde
körperliche Beschwerden | 14,3 | 14,5 | 14,3 | 18,2 | 19,2 |
durchschnittliche
Anzahl der | | | | | |
benannten
Problembereiche | 2,29 | 2,1 | 2,71 | 2,63 | 3,38 |
Median
benannter | | | | | |
Problembereiche | 1 | 1 | 2 | 3 | 3 |
Auf die Frage, welche Verhaltensweisen sie in ihrem heutigen Leben
als problematisch erleben, benannten die 98 Probanden im Durchschnitt 2,29 von
15 Bereichen. Wie Tab. 6 außerdem zeigt, sind es
bei der Gruppe der Probanden mit suchtkranken Müttern 2,71, bei der mit
zwei suchtkranken Elternteilen 2,63 und bei der mit Eltern, die keine
dauerhafte Abstinenz erreichten, sogar 3,38 Problembereiche. Im Einzelnen sind
es Stimmungsschwankungen (40,8 %), die von der Gesamtgruppe am
häufigsten als problematisch genannt werden. Am zweithäufigsten ist
der Mangel an Selbstwertgefühlen (30,6 %) benannt. Bei den
klinisch psychologisch als schwerwiegender zu beurteilenden Symptomen stechen
Ängste (25,5 %), Depressionen (21,4 %),
problematisches Essverhalten (19,4 %) und Zwänge
(18,4 %) hervor. Insgesamt zeigt sich, dass ein Fünftel bis
ein Viertel der Untersuchungsgruppe nach den Selbstauskünften als
psychisch belastet anzusehen ist. Problematischen Alkoholkonsum berichten
6,1 %, problematischen Drogenkonsum 3,1 % der
Probanden. Einen problematischen Medikamentenkonsum berichten weniger als
1 % der Antworter, weshalb er in Tab. 6
auch nicht aufgenommen wurde. Werden wiederum die Subgruppen betrachtet, so
ergeben sich für die Gruppe mit einer suchtkranken Mutter auf einigen der
Problembereiche erhöhte Werte: Problematischer Alkoholkonsum wird von
9,5 %, problematischer Arbeitsstil von 23,8 % und
ein starker Mangel an Selbstwertgefühl von 42,9 % berichtet.
Bei der Gruppe mit zwei suchtkranken Elternteilen sind die Werte für
Ängste (45,5 %), problematischen Alkoholkonsum
(20 %), problematisches Essverhalten (27,3 %),
problematischen Arbeitsstil (36,4 %), Schuldgefühle
(27,3 %), Stimmungsschwankungen (54,5 %) und
Zwänge (36,4 %) deutlich erhöht. Erneut zeigt sich
diese Gruppe als eine besonders stark belastete Subgruppe erwachsener Kinder
aus suchtbelasteten Familien. Es ist jedoch auch hier hervorzuheben, dass ein
zahlenmäßig nicht unbedeutender Teil von ihnen keine
Problembelastungen benennt. Die Gruppe der Probanden mit Eltern ohne
dauerhaften Therapieerfolg ist besonders in den Bereichen Ängste
(34,6 %), problematisches Essverhalten (34,6 %),
sozial abhängiges Verhalten (38,5 %), Stimmungsschwankungen
(57,7 %) und Zwänge (38,5 %) belastet. Sie
weisen außerdem - wie schon angegeben - den höchsten
Median berichteter Problembereiche auf, so dass bei ihnen die stärkste
individuelle Multiproblembelastung vorliegen dürfte.
Diskussion
Die vorliegende Untersuchung beschäftigte sich mit der
Langzeitentwicklung junger erwachsener Kinder aus suchtbelasteten Familien,
wobei ein Elternteil während der Kindheit oder Jugend der Befragten eine
stationäre Entwöhnungsbehandlung absolvierte.
Erfreulicherweise zeigte sich in unserer fremdanamnestischen
Katamnese, dass in nur 26 der 98 Fälle (26,5 %), die
antworteten, der suchtkranke Elternteil keine dauerhafte Abstinenz erreicht
hatte. Auch wenn es sich um eine hochselektive Klientel handelt, ist der zu
verzeichnende Erfolgswert von drei Vierteln (73,5 %) dauerhafter
Abstinenz bei einer durchschnittlichen Katamnesedauer von 8 Jahren als sehr gut
einzuschätzen. Werden die Eltern der nicht antwortenden ehemaligen
Seminarteilnehmer nach konservativem Vorgehen als rückfällig
eingestuft, ergibt sich eine vermutete Abstinenzquote für die gesamte
Untersuchungsgruppe von 37,1 % (72 von 194 ehemaligen Patienten).
Es ist jedoch mit Sicherheit davon auszugehen, dass dieser Wert den wahren Wert
unterschätzt.
Die Tatsache, dass nicht alle Befragten als Kinder unter der
Suchterkrankung ihrer Eltern erkennbar litten und in der aktuellen Situation
manifeste Störungen aufweisen, ist weiterhin bemerkenswert und deckt sich
mit den Ergebnissen der neueren Resilienzforschung [13]. Dies
unterstreicht die oft unterschätzte Heterogenität innerhalb der
Gruppe der Kinder von Alkoholikern und macht die Notwendigkeit differenzieller
Diagnose- und Präventionsstrategien deutlich [vgl. 1].
Unter differenzieller Betrachtung zeigen sich ungünstige Werte
vor allem dann, wenn beide Elternteile alkoholabhängig sind oder wenn bei
dem behandelten suchtkranken Elternteil keine dauerhafte Abstinenz eintritt.
Für manche Variablen ergeben sich ungünstigere Werte, wenn die
Mütter suchtkrank sind. Dies unterstreicht die herausragende Rolle der
Mutter-Kind-Beziehung für die seelische Gesundheit der heranwachsenden
Kinder. Allerdings spielen auch väterliche Verhaltensweisen (z. B.
physische Gewalt) eine deutlich beeinträchtigende Rolle für die
Entwicklung der Kinder.
In ihrer aktuellen Lebenssituation zeigen sich etwa
20 % bis 25 % der jungen erwachsenen Kinder aus
Suchtfamilien beeinträchtigt. Es bestätigt sich hierin die wiederholt
gefundene stärkere Belastung dieser Gruppe. Besonders hervorzuheben sind
die Belastungen der Probanden in den zentralen psychischen
Störungsbereichen Angst und Depression. Lachner u. Wittchen [2]
berichten in Übereinstimmung mit unseren Ergebnissen, dass knapp
30 % der Kinder von Eltern mit einer alkoholbezogenen
Diagnose im Alter zwischen 14 und 24 Jahren eine Angststörung,
24,8 % eine Phobie, und 13 % eine affektive
Störung aufweisen. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, gerade bei
frühen neurotischen Störungen von Kindern und Jugendlichen auf einen
eventuell vorhandenen familiären Lern- und Erfahrungshintergrund im
Bereich von Sucht und Abhängigkeitserkrankungen zu achten.
Ob die „wahre” Belastung bei der Gesamtheit der Kinder
aus suchtbelasteten Familien noch höher liegt, was durch die
Selektivität der Antwortergruppe nahe gelegt wird, muss zunächst
offen bleiben. Auch das Fehlen von Vergleichsgruppen Jungerwachsener, die in
normalen familiären oder anderweitig dysfunktionalen Kontexten
aufgewachsen sind, schränkt die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ein.
Solche Studien werden derzeit durchgeführt, um hier weiteren Aufschluss zu
bringen.