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DOI: 10.1055/s-2003-37446
Zürich sehen und sterben
Fragwürdige Freitodhilfeangebote in der SchweizAssisted Suicide in ZurichQuestionable Suicide Assistance Offers in SwitzerlandPublication History
Publication Date:
24 February 2003 (online)
- Diskussionen vor allem ums Verfahren
- Exit International
- Rasante Zunahme
- Sterben vor der Kamera
- Kosten für den Staat
Im Windschatten der heftigen Auseinandersetzungen um die aktive Sterbehilfe und deren Legalisierung in den Niederlanden und in Belgien sowie der Hilfe zum ärztlich begleiteten Suizid im US-Bundesstaat Oregon, hat sich in der Schweiz eine Entwicklung vollzogen, die zur Unruhe Anlass gibt. Hierzulande sind derzeit drei Sterbehilfe- bzw. „Freitodhilfe-Organisationen” am Werk, die sich zum Anliegen gemacht haben, sterbewilligen Menschen zum Tod durch eigene Hand zu verhelfen.
Voraussetzung für solche Hilfe ist eine schwere Erkrankung, die auch ärztlich attestiert sein sollte. Voraussetzung ist ebenfalls die Mitgliedschaft in einer dieser Organisationen, möglichst über einen Zeitraum von drei Monaten hinaus, die einmalige Zahlung einer Eintrittsgebühr von etwa Fr. 100,- und einen Jahresbeitrag von etwa Fr. 25 - 50,-. Dies genügt, um Hilfe anzufordern, wenn der Ernstfall eingetreten ist.
Die Sterbehelfer, sie nennen sich Freitodbegleiter, von Exit, Dignitas und jener neuen Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, auch psychisch Kranke in den Tod zu begleiten, kommen ins Haus, bereiten das Suizidmittel (10 g eines rasch wirkenden Barbiturates) vor, begleiten den Sterbewilligen, während er dieses Mittel in aufgelöster Form zu sich nimmt, warten den Tod ab, verfertigen ein Protokoll und informieren die Polizei.
Das Verfahren hat Routine. Möglich geworden ist es durch eine „liberale” Gesetzgebung im Hinblick auf eine Hilfe zum Suizid im Schweizerischen Strafgesetzbuch. Auch die Untersuchung und Abwicklung der unnatürlichen Todesfälle durch Polizei und Staatsanwaltschaft ist in den meisten Kantonen zur Routine geworden.
Etwa 200 Schweizer jährlich beenden ihr Leben mittlerweile auf diese Weise. Es handelt sich meist um ältere Menschen, meist um allein stehende Menschen, überwiegend um Frauen. Suizidforscher schätzen, dass etwa zwei Fünftel bis die Hälfte aller Suizide in der Schweiz von Menschen über 65 auf diese Weise zustande kommen.
#Diskussionen vor allem ums Verfahren
Es hat immer wieder Diskussionen über das Wirken dieser Organisationen gegeben. Diese kreisten meist um das Verfahren, nicht um die Tatsache an sich. Exit beispielsweise, die älteste dieser Organisationen hatte zu den besten Zeiten 70 000 Mitglieder. Die Schweizerische Gesellschaft zur Suizidprophylaxe im Kontrast dazu hat etwa 70 Mitglieder. Solche Zahlenrelationen geben zu denken. Zu denken gibt auch eine Diskussion, die der Verfasser dieses Beitrages bei der Veranstaltung der Depressiven-Selbsthilfeorganisation Equilibrium vor drei? Jahren in Basel erlebt hat. Eine größere Zahl von Mitgliedern bekannten sich zur Exit-Mitgliedschaft. Sie wollten auch als Depressive nicht auf ihr Recht verzichten, deren Dienste in Anspruch zu nehmen. Die Warnung der Psychiater, den Depressiven in der Depression könne leicht etwas geschehen, was im Sinne von keinem der Beteiligten sein könnte - am wenigsten im Sinne der Betroffenen fand überwiegend kein Gehör. (Könnte die Exitmitgliedschaft bei diesen Leuten nicht auch das Gefühl einer Pseudoautonomie vermitteln, die dann selbst wieder einen salutogenetischen Effekt haben könnte?)
Einen Aufschrei in den Medien hat es nur einmal gegeben, als der Kantonsarzt von Basel-Stadt den Suizid einer 30-jährigen depressiven Frau in letzer Minute verhinderte.
#Exit International
In den letzen beiden Jahren hatte eine neue Entwicklung eingesetzt. Zum einen hat ein Exponent und Mitbegründer von Exit eine Organisation von Exit-International gegründet und mit wechselhaftem Erfolg versucht die Idee ins Ausland, insbesondere nach Deutschland, zu exportieren. Die deutschen Staatsanwaltschaften blieben nicht untätig. Zu einer Verurteilung kam es unseres Wissens aber lediglich wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, nicht aber wegen unerlaubter Sterbehilfe. Zum anderen hat die Organisation Dignitas im Zürcher Stadtteil Wiedikon eine Wohnung für an- bzw. durchreisende Suizidwillige aus dem Ausland eingerichtet.
#Rasante Zunahme
Darüber berichtet der Journalist Lukas Häuptli im Zürcher Tagesanzeiger (23.1.03 Seite 15), ein Artikel, der auch von Alison Langley in The New York Times vom 4. Februar 2003 aufgenommen wurde. Immer mehr „Sterbetouristen” aus dem Ausland reisten zu ihrem Freitod nach Zürich, schreibt er. Innerhalb von zwei Jahren habe sich ihre Zahl verzwanzigfacht. Mitte Januar sei der bislang letzte Freitodwillige in dieser Wohnung verstorben. Er sei 74 Jahre alt und schwer krank gewesen, er sei aus Liverpool angereist: Um 10.15 Uhr sei er in der Wohnung eingetroffen, um 15.00 Uhr habe er das Glas mit dem tödlichen Mittel getrunken, das ihm ein Dignitas-Arzt verschrieben habe. Ein paar Minuten später sei er tot gewesen.
Die Zahl ausländischer Sterbetouristen, die in Zürich ihren Suizid vollziehen, weckt laut Häuptli Bedenken. Im Jahr 2000 seien es 3 gewesen, 2001 37 und im Jahr 2003 55. Das teile die Zürcher Kriminalpolizei mit.
Die meisten der Freitodtouristen stammen aus Deutschland, die restlichen aus Österreich, Frankreich, Israel, den USA oder dem Libanon. Es gebe zwei wichtige Bedingungen für die Begleitung: Ein Arzt müsse eine „hoffnungslose Krankheit” oder eine „unzumutbare Behinderung” diagnostizieren. Die Sterbebegleiter würden abklären, ob die Betroffenen ihren Suizidentscheid bei uneingeschränkter Urteilsfähigkeit fällten. Kosten würden den Sterbetouristen nicht in Rechnung gestellt, wie Dignitas Generalsekretär Ludwig Minelli aussage. Voraussetzung sei die Mitgliedschaft. Bei diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass sich die Zahl der Dignitas-Bewerbungen innerhalb eines Jahres verdoppelt hat. Mit 2400 liegt sie allerdings immer noch weit niedriger als die von Exit.
#Sterben vor der Kamera
Besorgnis bereitet in der Stadt, das betont auch Lukas Häuptli, dass ausländische Sterbetouristen bei ihrem Suizid in Zürich immer häufiger von Journalisten begleitet werden, insbesondere von Fernsehteams. Auch wenn gewisse Beitrage (z. B. Tod auf Bestellung - Die letzte Reise des Frank Coiffier, MDR, 11.7.2002, 22.35 Uhr) eine ambivalente bis kritische Haltung vermitteln, ersetzten sie doch die eigentliche Werbung für die Organisation und seien mit ein Grund für den massiven Zulauf. Beim Suizid eines 81-jährigen Deutschen, so Häuptli, zählte die Polizei Anfang Januar fünf Zeitungsjournalisten und sieben Fernsehteams. Diese Medienpräsenz sei problematisch zitiert Häuptli einen Staatsanwalt, der bei der Zürcher Justizdirektion für das Thema Sterbehilfe zuständig ist: Der Druck steige gewaltig. Man müsse sich vorstellen was passiere, wenn sich der Freitodwillige im letzten Moment anders entscheiden möchte.
Gegen solche Argumente haben sich Vertreter der Freitodorganisationen bereits früher gewehrt - auch im Hinbllick auf die Präsenz von Medienvertretern: die Sterbewilligen bestimmten dies selbst. Überdies habe die neuere Entwicklung zu einem „Medienmoratorium” geführt. Der Vertreter von Dignitas dazu laut Häuptli: „Wir müssen in Ruhe unsere Arbeit machen”. Bei der Bevölkerung in der Umgebung der Wohnung hat sich Unruhe ausgebreitet. Häuptli zitiert eine Nachbarin, die meint, jedesmal wenn wieder ein Sarg aus dem Treppenhaus weggetragen werde stelle sich eine Art Gruseleffekt ein.
#Kosten für den Staat
Ein Nebeneffekt dieser makabren „Freitodhilfe” wird von Häuptli angesprochen. Suizidexperten haben sich schon länger die Frage gestellt, wer denn für die Folgekosten solcher organisierter Freitodereignisse aufkomme. Es handelt sich schließlich um unnatürliche Todesfälle, die ein polizeiliches, staatsanwältliches und gerichtsmedizinisches Ermittlungsverfahren nach sich ziehen müssen. Dies kostet den Kanton Zürich pro Sterbetourist Fr. 3000,- bis Fr. 5000,-. Zwar sei es in Zürich im Gefolge solcher Suizidereignisse nie zu einem Strafverfahren gekommen. Aber bei der Staatsanwaltschaft äußert man sich besorgt: Wenn die Zahl ausländischer Sterbetouristen weiter derart ansteige, müsse man sich überlegen, ob nicht eine Art Verursacherprinzip für die Kostenerstattung eingeführt werden müsste.
Häuptli schließt seinen Bericht: In der Schweiz ist Sterbehilfe erlaubt - im Gegensatz zu praktisch allen anderen europäischen Ländern. Allerdings bietet in Zürich nur Dignitas Begleitungen für ausländische „Sterbetouristen” an; Exit verzichtet grundsätzlich darauf. Auf politischer Ebene in Bern ist gegenwärtig ein Vorstoß der Appenzeller FDP-Nationalrätin Dorle Vallender hängig. Sie verlangt unter anderem, dass Sterbehilfe nur bei Personen mit dem Wohnsitz in der Schweiz geleistet werden darf.
Obwohl es sich bei dem Berichteten über eine Schweizer Besonderheit handelt, ist sie auch für Leserinnen und Leser der Psychiatrischen Praxis in anderen Ländern von Belang. Es ist noch nicht lange her, dass einer der Verfasser dieser Zeilen einen alarmierten Anruf eines Psychiaters einer deutschen Universitätsklinik erhielt, in der eine psychische Kranke die Behandlung abgebrochen habe, um sich nach einem vorangegangenen Vorstellungstermin nach Zürich zu begeben und sich dort mit fremder Hilfe das Leben zu nehmen.
Asmus Finzen, Basel
Martin Eichhorn, Basel
PS: Nach Fertigstellung dieses Editorials erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Beitrag von Konrad Mrusek, einem der besten und empatischsten Schweizkenner, ein Beitrag zum gleichen Thema mit dem gleichen Titel: Offenbar drängt er sich auf. Nach langem Nachdenken haben wir entschieden, ihn bei der Drucklesung nicht zu ändern.