Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) traf die Definition: ¿Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit Begriffen einer aktuellen oder potenziellen Schädigung beschrieben wird¿ [6]. Darin relativierte sie den Bezug von Schmerzen zu Organschädigungen, wies aber nicht auf die Krank machende Kraft in somatischer, psychischer und sozialer Hinsicht hin. Der Philosoph H. Schmitz (1981) hob die Dynamik des Geschehens hervor: ¿Schmerz ist nicht ruhige Empfindung oder Gefühl, sondern ein Drang, der durch Widerstand gehemmt wird, für den Gepeinigten zugleich dessen eigener Zustand und ein ihn angreifender Widersacher¿.
Schmerz als Bewusstseinsinhalt
Schmerz als Bewusstseinsinhalt
Das Bewusstsein ist ein unmittelbares Faktum mit den Kennzeichen der Erlebnisqualität und Intentionalität. Es beschäftigt sich mit etwas, bezieht sich auf Objekte - nämlich auf Gegenstände im Raum, Ereignisse in der Zeit oder auf andere Bewusstseinsinhalte. In diesem Beitrag soll die Bedeutung der bewussten Aspekte hervorgehoben werden, und die Relativierung des Bezugs zur Nozizeption soll erfolgen.
Bei einem nozizeptiven Input aus der Peripherie sind auch die Umstände des Ereignisses wichtige Einflussgrößen. Tatsächlich kann ein Schmerzerlebnis sogar auf eine gravierende Schädigung in der Körperperipherie oder des Nervensystems ausbleiben, wie bei schweren Verletzungen im ersten Weltkrieg [3] und im zweiten Weltkrieg [1] beobachtet wurde. Andererseits gibt es Schmerzsyndrome ohne zu Grunde liegende organische oder pathophysiologische Erklärung. Sie können auf eine Psychogenese zurückzuführen sein oder ihre Erklärung im Rahmen von depressiven Störungen und anderen funktionellen Dysregulationen wie Coenästhopathien bei affektiven, schizoaffektiven und schizophrenen Psychosen finden [5]. Bei chronischen Schmerzzuständen kommt intrapsychischen und psychosozialen Aspekten und Momenten eine weitaus größere Bedeutung zu als bei den flüchtigen physiologischen Empfindungen einer drohenden Körperschädigung oder bei vorübergehendem akuten Schmerz.
Bewusstsein beinhaltet zwar Wahrnehmung, aber auch Gefühl, Vorstellung, Denken, Wunsch und Befürchtung. Gerade auf dem Gebiet des Schmerzes ist die Wahrnehmung keinesfalls nur das Abbild oder die übereinstimmende Transformation physikalischer Reize und einströmender physiologischer Impulse aus Umgebung oder innerem Milieu. Vielmehr fließen zurückliegende Ereignisse der Nozizeption oder einer psychischen Schädigung in Zustandekommen und Ausgestaltung des Schmerzerlebnisses ein. Auch Lernvorgänge und Konditionierungen wirken mit. Die aktuelle Wahrnehmung wird auf ihre Bedeutung geprüft, mit Erinnerungen verglichen und in die Situation eingeordnet.
Die Verarbeitung in Abhängigkeit nozizeptiv oder erlebnisreaktiv bereits eingetretener Veränderungen auf molekularbiologischer, neurophysiologischer und psychologischer Ebene ist von erheblicher Bedeutung. Sie bestimmen nicht nur Entstehung, Ausmaß und Qualität des Schmerzes, sondern auch den weiteren Verlauf, wie verschiedene Studien ergaben. Die Stellungnahme der gewordenen Persönlichkeit mit ihren Bewältigungsmechanismen bzw. Ressourcen beeinflusst sogar Schmerzempfindungen aus organischen Läsionen wie Bandscheibenvorfällen.
Eine interdisziplinäre Untersuchung von Wittek, Spring und Wörz (1978) bei 50 Patienten, die neurologisch, psychiatrisch und fachpsychologisch unter Verwendung von Tests vor ihrer Bandscheibenoperation, drei Monate und ein Jahr danach untersucht worden waren, ergab bei 18 Patienten eine neurotische Störung, in deren Folge bei 15 Patienten hochsignifikant eine Symptomverschiebung auftrat. Diese Patienten profitierten nicht wesentlich von der Operation [15].
Im Rahmen einer multidisziplinären Untersuchung von 1541 stationären Patienten mit ¿Failed back-syndrom¿, d.h. erfolglos operierten Rückenschmerzpatienten, wurden 78 Patienten herausgegriffen, bei denen alle vorherigen Aufzeichnungen des Krankheitsverlaufs (psychosoziale Vorgeschichte, Aufnahmen bildgebender Verfahren und Testergebnisse) eine genaue
Beurteilung zum Zeitpunkt der Operationen ermöglichten [8]. Die Kriterien für die operative Intervention der amerikanischen Fachgesellschaften der Neurochirurgen und Orthopäden waren bei der ersten Operation in 55 % der Fälle nicht und nur in 26 % vollständig erfüllt. Bei der Mehrzahl der Untersuchten lag eine offene psychiatrische Krankheit vor, in 44 % eine Persönlichkeitsstörung, die schon vor dem Schmerzbeginn bestand. Bei 85 % der Patienten wurde eine Depression diagnostiziert, so wie bei den chronischen Schmerzpatienten dieser neurochirurgischen Abteilung generell.
Angst und Schmerz
Angst und Schmerz
Akute Schmerzzustände sind nach Beobachtungen von Sternbach (1968) eher mit Zeichen der Angst und Überaktivität, chronische eher mit abnormem Krankheitsverhalten verbunden. Beim akuten Schmerz steigen Herzfrequenz und Blutdruck, es kommt aber auch zu einer Dilatation der Pupillen, zu Schwitzen, Hyperventilation, Überaktivität und zu Fluchtverhalten. Wir denken bei dieser Konstellation an die Notfallreaktion Cannons, verbunden mit einer Sympathikusüberaktivität, die den Organismus beziehungsweise das Individuum auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Während sie bei realer physischer Gefahr sinnvoll ist, kann sie in anhaltender Verlaufsform schädigend werden.
Akuter Schmerz ist oft von Angst und Distress begleitet, ist aber auch selbst ein wichtiger Stressor. Bei heftigem Ausmaß oder bei Überinterpretation können sich Unruhe, Schlaflosigkeit und psychophysische Destabilisierung einstellen.
Wirken Schmerzzustände lange auf den Betroffenen ein, führen sie oft zu Erschöpfungszuständen. Es entwickelt sich dann das so genannte allgemeine Adaptationssyndrom nach Selye, wobei die emotionalen und affektiven Reaktionen denjenigen von Niederlagen entsprechen (depressive Stimmung, Gefühl der Schwäche, des Ausgeliefertseins und Verzweiflung).
Angst tritt als Warnsignal oder im Rahmen einer primären Angststörung auf. Bei Rückenschmerzen handelt es sich dabei um einen Prädiktor der Chronifizierung [14]. In diesem Fall begünstigt die Angst muskuläre Verspannungen, welche über den psychophysischen Mechanismus Schmerzen im Bereich von Nacken, Rücken, Kopf mit Gesicht und Extremitäten hervorrufen können. Auch Fibromyalgiesyndrome (Synonym: generalisierte Tendomyopathien) haben einen Bezug zu vorausgehender oder aktueller Angsteinwirkung [2].
Angst und Depression
Angst und Depression
Bei der Mehrzahl depressiver Störungen treten auch Angstsymptome als Teil der Erkrankung auf, und umgekehrt entwickeln sich bei Angststörungen oftmals sekundäre Depressionen. Überhaupt ist die Komorbidität mit psychiatrischen Störungen für die wichtige generalisierte Angststörung typisch. Nur bei etwa einem Drittel der Fälle tritt sie allein auf - bei zwei Dritteln hingegen in Kombination [7].
Da es sich nicht um eine starre Organschädigung oder Krankheit handelt, sind im Verlauf typischerweise Fluktuationen und Metamorphosen in andere Ausdrucksformen zu beobachten: Eine Untersuchung von Maier (1998) ergab bei Patienten in Allgemeinpraxen mit generalisierter Angststörung, dass nach einem Jahr in 23 % der Fälle wieder eine solche Störung diagnostizierbar war, in 29 % eine somatoforme Störung, in 19 % eine depressive Episode, und in 37 % wurde keine psychische Störung mehr erhoben. Ganz ähnlich verhält sich die so genannte ¿somatoforme Störung¿ im Verlauf, was in diesem Zusammenhang an die alte Bezeichnung der Syndromverschiebung erinnert.
Depression und Schmerz
Depression und Schmerz
Bei chronischen Schmerzpatienten können depressive Störungen das primäre Problem, konstitutive Komponente, Teil der Persönlichkeit im Sinne eines melancholischen Persönlichkeitstypus nach Tellenbach, Verarbeitungsmuster oder Folge einer schmerzhaften Organkrankheit im Sinne eines algogenen Psychosyndroms sein: Bei einer Minorität von etwa 5 % chronischer Schmerzpatienten liegen primär schwere depressive Störungen (früher: endogene Depressionen) vor. Die Kriterien für die Diagnose einer Major Depression sind bei etwa jedem vierten Patienten erfüllt [Tabellen 1] und [2]:
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In Anbetracht der häufigen Prävalenz depressiver Störungen können sie koinzident mit organisch bedingten Rückenschmerzen auftreten.
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Bei depressiven Störungen treten Schmerzerlebnisse in der Mehrzahl der Fälle als Symptom oder dominierende Beschwerde auf. Als so genannte larvierte Depression können sie Anlass für lange Fehldiagnostik und therapie sein. Auch Persönlichkeitsstörungen können ähnliche Beschwerden und Symptome wie Organkrankheiten hervorrufen und unkritische beziehungsweise nicht interdisziplinär arbeitende Operateure zu unangemessenen Interventionen verleiten [8].
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Das gleichzeitige Vorliegen eines Schmerzzustandes mit einer Depression erhöht nach vielen Erfahrungen die Wahrscheinlichkeit der Selbsttötung. Systematische Untersuchungen zu dieser Thematik sind allerdings spärlich. Im Rahmen einer Studie gaben beispielsweise Patienten mit chronischen Bauchschmerzen eine zwei- bis dreifach höhere Frequenz von Suizidgedanken und versuchen im Vergleich zu Personen ohne Bauchschmerz an [9].
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Ein depressiver Verarbeitungstypus kann auch zur Perpetuisierung von Beschwerden beitragen. Eine depressive Stimmungslage entwickelt sich im Zusammenhang mit beruflichen oder privaten Belastungen oder Spannungssituationen, anhaltendem Stress, Verlust naher Angehöriger durch Tod oder Scheidung.
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Isolation, eine physisch oder sozial herbeigeführte Vereinzelung und Vereinsamung als ein innerseelischer Leidensprozess können ebenfalls zur Chronifizierung beitragen.
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Anhaltende unerträgliche Schmerzen führen zu einem davon abweichenden psychopathologischen Zustandsbild mit missmutig-trauriger Verstimmung, Reizbarkeit, Einengung von Erlebnisfähigkeit und Interessen, zu Schlafstörungen und fakultativ zu Suizidalität - dem algogenen Psychosyndrom.
Die mit belastungsabhängigem Schmerz verbundenen motorischen und sozialen Einschränkungen, die mit Arbeitsunfähigkeit verknüpften finanziellen Einbußen, Depression, Schlaflosigkeit und Angst können verminderte Belastbarkeit, verringerte Teilnahme an Therapiemaßnahmen, Rückzug und gesellschaftlichen Abstieg herbeiführen. Auf Grund dieser komplexen funktionellen Zusammenhänge ist hier der Begriff der Komorbidität aus Denk- und Sprachgründen problematisch. Es handelt sich ja nicht um eine umschriebene, von der Ätiologie oder durch die Pathophysiologie determinierte Entität, sondern vielmehr um Störungen mit fließenden Übergängen sowohl bei der Querschnittsbetrachtung als auch im Verlauf.
Auf der makroskopischen Ebene des in Praxis oder Klinik tätigen Arztes ist die sorgfältige Schmerzanalyse besonders wertvoll. Hier ist zu beachten, dass die verschiedenen Phänomene - Zeitcharakteristika, Lokalisation, Qualität, Intensität, Modulation, Auswirkungen und damit verbundene Beeinträchtigungen - nicht zerstückelt werden können, sondern im Rahmen des ganzheitlichen Bewusstseins in einem funktionellen Zusammenhang stehen. Hierfür gibt es zum Teil auch empirische Belege: Ein heftiger akuter Schmerz bei Herpes zoster oder einer akuten Lumbago chronifiziert eher als ein leichter. Er ist also selbst ein Chronifizierungsprädiktor, und kann so die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen und die Persönlichkeit verändern.
Stets kritisch zu beleuchten ist die Frage des post hoc oder propter hoc, also einer möglichen Ursache-Wirkungsbeziehung. Die Reaktionsform ist bei komplexen Schmerzsyndromen nicht determiniert. Möglicherweise sind die verschiedenen Phänomene auf der Ebene des Bewusstseins mit unbewussten psychodynamischen Prozessen verbunden, auf jeden Fall sind sie aber mit außerbewussten komplexen Abläufen auf neurophysiologischer und molekularbiologischer Ebene assoziiert. Und das bedeutet bei chronischen Schmerzsyndromen immer ein gewisses Maß an Unbestimmtheit.
Therapieansätze
Therapieansätze
Während die behavioristischen Therapien auf die allgemeine Aktivitätssteigerung und den Abbau belastender Tätigkeiten zielt, werden über den kognitiven Ansatz die Steigerung von Einsicht, sozialer Fertigkeiten und Kontakte angestrebt. Ziel ist dabei, die zwischenmenschliche Kommunikation zu verbessern und auszubauen. Das altbewährte und bekannte Training zu konstruktivem Denken wird systematisch gefördert, wie das auch schon eine lange Tradition bei der Hypnose und dem autogenen Training hat.
Ablenkung von Schmerz und Uminterpretation einer Schmerzempfindung können als kognitive Bewältigungsformen die individuelle Schmerztoleranz bei akutem Schmerz erhöhen. Gleichzeitig kann darin aber auch eine Chronifizierungsgefahr begründet sein, wenn Signale der Nozizeption nicht beachtet werden und keine entsprechende Abhilfe geschaffen wird. Wird eine biomechanische Überlastung durch Fehlhaltung nicht durch Entlastung oder Positionswechsel behoben, wird dadurch auch der gesundungsfördernde Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, Kräftigung und Lockerung verhindert. Diese gegenläufigen Momente implizieren, dass das Ausgangsniveau zu beachten ist und zusätzlich zur Analyse des spezifischen Krankheitsprozesses die Diagnostik von Persönlichkeit, von möglichen psychischen Störungen erfolgen muss und dass soziale Faktoren einzubeziehen sind.
Während die Symptomatik den eigentlich leicht zu beschreitenden Weg zur Diagnose auf bewusster Ebene darstellt, eröffnet die Symbolik den Zugang zu teilbewussten und unterbewussten Prozessen. Bei älteren Menschen ergeben sich hier jedoch schon auf Grund kognitiver Defizite, von organischen Wesensänderungen oder den mit zunehmendem Alter linear sich häufenden Demenzen unüberwindliche Schwierigkeiten. Der Weg zur tiefenpsychologisch orientierten Behandlung ist dadurch oft versperrt, eine solche ist nicht durchzuführen.
In medikamentöser Hinsicht haben die alten trizyklischen Antidepressiva, insbesondere Amitriptylin, Clomipramin, Doxepin und Imipramin den Vorteil, dass sie sozusagen drei Medikamente in einer Substanz sind - nämlich Antidepressiva, Analgetika und Anxiolytika. Auf Grund ihrer anticholinergen und teils kardialen Nebenwirkungen und den damit verbundenen durchaus gefährlichen Risiken ist ihr Anwendungsbereich eingeschränkt. In dieser Hinsicht sind die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), dual am serotonergen System angreifende, selektiv noradrenerg wirkende Substanzen ohne anticholinerge Effekte günstiger. In der Praxis bedeutet dies, dass bei solchen Psychopharmaka die Kombination mit Analgetika parallel erfolgen muss.
Tab 1. Endogene Depressionen bei chronischen Schmerzpatienten
Autoren
|
Jahr
|
n
|
%
|
Pilowsky et al.
|
1977
|
100
|
6
|
Wörz
|
1980
|
100
|
5
|
Kramlinger et al.
|
1983
|
100
|
5
|
Krishnan et al.
|
1985
|
71
|
14
|
Large
|
1986
|
50
|
2
|
Pilowsky
|
1987
|
394
|
6
|
Durchschnitt
|
6
|
Tab 2. Major Depression bei chronischen Schmerzpatienten
Autoren
|
Jahr
|
n
|
%
|
Kramlinger et al.
|
1983
|
100
|
25
|
Reich et al.
|
1983
|
43
|
23
|
Katon et al.
|
1985
|
37
|
14
|
Haley et al.
|
1985
|
63
|
49
|
Krishnan et al.
|
1985
|
71
|
44
|
Fishbain et al.
|
1986
|
283
|
5
|
Large
|
1986
|
50
|
8
|
France et al.
|
1987
|
73
|
43
|
Durchschnitt
|
26 (nach 11)
|