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DOI: 10.1055/s-2003-38519
Medizinische Versorgung gestalten - evidenz-basierte Medizin als Chance
Shaping Medical Care - The Chance Offered by Evidence-Based MedicinePublication History
Publication Date:
16 April 2003 (online)
Am 21. September, einen Tag vor der Bundestagswahl, äußerte sich der Präsident der Bundesärztekammer in einem Interview einer großen westdeutschen Tageszeitung zu Fehlern der früheren Gesundheitsministerin Fischer: „Ihr Glaube, durch Qualitätsverbesserung und Effizienzsteigerung eine langfristige Konsolidierung des Gesundheitssystems hinzubekommen, ist irrig.” Nun ist in diesen Wochen zur Gesundheitspolitik und damit zur Gestaltung der Versorgung einiges geschrieben worden. Vieles war dabei in der Diktion sicher wahlkampfbedingt, aber in den Äußerungen wird natürlich auch eine inhaltliche Grundüberzeugung deutlich, die den Wahltag überdauern wird. Ich möchte die in der zitierten Äußerung durchschimmernde Sicht, dass eigentlich außer „Mehr Geld ins System” nichts getan werden müsse, zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen machen und damit auch das Stichwort „Ressourcen” des diesjährigen Tagungsthemas mit in den Blick nehmen.
Im Juli 2002 wurden in kurzer Abfolge drei hochrangige Studienergebnisse veröffentlicht, die geeignet sind, in den betroffenen medizinischen Versorgungsbereichen für Umwälzungen und Neuorientierung zu sorgen:
Im JAMA erschien der Bericht über eine Studie mit dem programmatischen Titel „Women’s Health Initiative”, die 16 000 Patientinnen umfasste. Die Studie wurde nach 5 Jahren Laufzeit im Mai 2002 abgebrochen, als erkennbar wurde, dass sich die jahrelang ohne ausreichende Grundlage reklamierten Vorzüge einer Hormonsubstitution in der Postmenopause als nicht haltbar herausstellen würden. Ein Nutzen war nicht nachweisbar, dafür Schäden wahrscheinlich. Die Kosten für diese also vermutlich nicht sinnvolle Maßnahme werden für Deutschland auf mindestens 500 Mio €/Jahr geschätzt.
Zum zweiten erschien im New England Journal of Medicine eine wohl mutig zu nennende, kontrollierte Studie, in der der Nutzen einer verbreitet angewandten hochinvasiven Intervention am Kniegelenk (sog. „Knorpel-Toilette”) bei Patienten mit Gonarthrose untersucht wurde. Die Studie an 180 Patienten zeigte, dass die pathophysiologisch nicht unplausible invasive Prozedur keine besseren Kurz- und Lang(!)zeitergebnisse zeigte als eine Plazebo-Operation ohne Arthroskopie. Die Kosten für die bei diesen Patienten offensichtlich eher schädliche invasive Variante werden für die USA mit ca. 3 Mrd. Dollar pro Jahr angegeben.
Und schließlich wurden im Lancet die Ergebnisse der Heart Protection Study mit 20 000 Teilnehmern publiziert, die zeigten, dass eine Anwendung von Statinen in der Sekundärprävention der KHK und bei Risikopatienten deutliche Effekte auf relevante Zielereignisse hat, und zwar weitgehend unabhängig vom individuellen Risiko. Die Ergebnisse zeigten auch, dass die Einnahme verschiedener Vitamine keinerlei protektiven Einfluss auf die gleichen Ereignisse hatte. Über mögliche Kosten wird zzt. breit debattiert.
Alle drei Studien zeichnen sich dadurch aus, dass sie strukturell einfach und zielorientiert sind, methodisch sehr sorgfältig und nahe an der tatsächlichen Versorgungssituation. Sie stellen so glaubwürdige und relevante Beiträge aus der Wissenschaft für die konkrete Ausgestaltung der Versorgung dar. Nebenbei liefern diese drei Studien als Hattrick einen erneuten eindrücklichen Beleg dafür, dass pathophysiologische Gedankenspiele des „Wie” grundsätzlich den empirischen Daten des „Ob” nachstehen sollten, wenn es um Versorgungsentscheidungen zum Nutzen von Patienten geht.
Keine dieser Studien wurde in Deutschland gemacht und - man muss es einfach sagen - wäre in der deutschen Medizin- und Versorgungslandschaft realisierbar gewesen. Es sind aber genau solche Ergebnisse von Studien mit diesen Qualitätsmerkmalen, die geeignet sind, Auswirkungen auch auf die deutsche Versorgung zu nehmen. Sie machen damit den Kern der Möglichkeiten evidenz-basierter Medizin aus: aus fundierten empirischen Ergebnissen Entscheidungen für die Ausgestaltung der Versorgung zu treffen und auf ihre Umsetzung zu dringen. Welche Relevanz solchen Studien zukommt, zeigen die zahlreichen Presseberichte insbesondere zur WHI-Studie sowie das nun endlich erfolgende Umdenken der Frauenärzte, das in den letzten Jahren durch kein Argument zu erreichen schien. Ein besserer Beleg für die Potenz solcher Studien, die Durchschlagskraft methodisch hochqualitativer empirischer Indizien und damit natürlich für das Konzept einer evidenz-basierten Medizin ist kaum vorstellbar, oder, wie es ein Endokrinologe formulierte: „Im Moment erleben wir ein Stück Medizingeschichte.”
Es hieße zweifellos, Ihre Geduld über Gebühr zu strapazieren, wenn jetzt eine Definition evidenz-basierter Medizin folgen würde. Ich gehe davon aus, dass sie Ihnen geläufig ist, und will auch mit einer Nichterwähnung zu verstehen geben, dass ich Ihre Kenntnis in diesem Kreis für selbstverständlich halte. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass ich hier über einen Themenbereich spreche, der manchmal mit dem spezifischen Begriff „Evidence-Based Health Care” belegt wird. Ich ziehe die Erweiterung des Verständnisses von evidenz-basierter Medizin über die einzelne ärztliche Entscheidung hinaus auf Systementscheidungen vor. Die Trennung ist ohnehin artifiziell und die Grenzen sind fließend.
EbM als Chance? Ich gehe davon aus, dass es schon eine fast zwangsläufige Konsequenz gibt: Der Kraft guter empirischer Indizien kann sich, die WHI-Studie zeigt es einmal mehr eindrucksvoll, auf Dauer niemand entziehen. Evidenzbasierte Medizin, die auf diese Kraft setzt, wird zu einer Versachlichung der Diskussion führen. Sie kann dazu beitragen, dass offensichtliche Probleme in der medizinischen Versorgung, seien sie „Über-”, „Unter-” oder „Fehl-”, nicht an den falschen Ecken mit den falschen Mitteln kuriert werden. Sie kann dazu beitragen, dass Erfolg versprechende Maßnahmen durchgesetzt werden und Überflüssiges abgeschafft wird. Sie kann Zurückhaltung bei so genannten Innovationen - der Begriff ist kein Qualitätsmerkmal! - nahe legen. Überhaupt: Eine evidenz-basierte Medizin ist zweifellos eine Handlungsweise, die häufiger Dinge bleiben lässt. Sie ist damit ein klarer Gegenentwurf zu dem unter Ärzten weit verbreiteten „ut aliquid fiat”, dem Selbstverständnis, dass „irgendetwas” passieren muss.
Wie man an den erwähnten Studien sieht, ist die Methode, mit der man zu versorgungsrelevanten Erkenntnissen über den Nutzen von medizinischen Entscheidungen gelangen kann, sehr gut etabliert und - dies erkennt man auch - breit anwendbar. Neben den genannten drei aktuellen gibt es eine Reihe weiterer Studien, denen eine ähnlich Weichen stellende Funktion zukommt, denkt man etwa an die CAST-Studie, UKPDS oder auch die großen Interventionsstudien zur Krebsfrüherkennung und zur Primär- und Sekundärprävention der koronaren Herzkrankheit.
Viel weniger gut etabliert ist dagegen, wie man denn die Ergebnisse solcher Studien für die Gestaltung der Versorgung nutzen kann. Oder anders: Welche Maßnahmen könnten ergriffen werden, um evidenz-basierte Ergebnisse in der Versorgung zu etablieren? Wie kann EbM für die Gestaltung der Versorgung benutzt werden? Und auch: Ist wirklich die reflexhafte Antwort „Mehr Geld ins System” die einzig Erfolg versprechende?
Als zurzeit am höchsten gehandeltes und am konkretesten umgesetztes Vehikel, Erkenntnisse evidenz-basierter Medizin an den richtigen Ort zu bringen, werden evidenz-basierte Leitlinien angesehen. Diese stellen so etwas wie ein bez. konkreter Entscheidungsnotwendigkeiten stark vorstrukturiertes Lehrbuch dar, das eher den Charakter eines Regelwerkes hat. Ein solches Regelwerk unterscheidet sich von einem Lehrbuch u. a. dadurch, dass den formulierten Regeln eine gewisse Verbindlichkeit zukommt, dass es also Begründungsaufwand bedeutet, von ihnen abzuweichen. Leitlinien werden viel versprechende Gestaltungsmöglichkeiten zugeschrieben: aktuelles, gesichertes Wissen genau an der Stelle, an der es gebraucht wird.
Die ersten 1000 Leitlinien, die sich deutschsprachig im Internet fanden, haben jedoch - so kann man pauschalierend feststellen - zunächst einmal einen erschreckenden Einblick geliefert, was nach Ansicht von Fachgesellschaften und Berufsverbänden deutschen Patienten medizinisch zugemutet werden sollte - wobei das „Was” sowohl die fehlende Evidenzbasierung als auch schlicht die Masse kennzeichnet. Inzwischen sind z. B. seitens der AWMF oder der Deutschen Krebsgesellschaft zwar neue Weichenstellungen erfolgt. Diese erscheinen jedoch halbherzig und aktuelle Beispiele zeigen, dass die Erstellung von Leitlinien weiter durch Interessenverflechtungen, Industrieeinflüsse und auch überstrapazierte Konsensvorgaben beeinträchtigt wird.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Erwartungen, die an die Implementierung von Leitlinien geknüpft werden, realistisch sind: So sehr Leitlinien der strukturierten, aktuellen Information dienen können und auch einen edukativen Anspruch haben: Sind sie in der Lage, Verhalten wesentlich zu verändern? - Empirische Resultate hierzu sind widersprüchlich. Und: Ist die Möglichkeit, Verstöße gegen die niedergelegten Regeln zu erkennen und ggf. zu sanktionieren, überhaupt eine praktikable Option? Meine Antwort ist ein zurückhaltendes Ja für den Einzelfall, etwa im Zusammenhang mit Fehlervorwürfen, aber große Skepsis für die Systemebene. Diese Skepsis begründet sich schlicht durch Aufwand für Dokumentation und Überprüfung einerseits und durch die für die große Masse von Leitlinienempfehlungen praktische Unmöglichkeit, dokumentierte Gründe für das immer zulässige Abweichen von Leitlinien-Empfehlungen zu kontrollieren. (Ausnahmen mögen spez. Empfehlungen ohne relevante Abweichungsmöglichkeit sein, eine kleine Minderheit in Leitlinien.) Das „Ja” ist insofern eingeschränkt, als Sanktionen durch Leitlinien möglicherweise erleichtert, aber nicht erst ermöglicht werden. Der „allgemein anerkannte Stand” wird zwar aufgeschrieben und muss nicht erst durch gerichtlich bestellte Gutachter festgestellt werden. Der Grundsachverhalt, nach dem ein Arzt gut beraten ist, ein Vorgehen, das von einem „allgemein anerkannten Stand” abweicht, zu begründen und zu seinem eigenen Schutz zu dokumentieren, gilt auch jetzt schon. Leitlinien würden also nur durch den aktuell niedergelegten Wissensstand die Ausgangslage deutlicher als bisher werden lassen.
Ich sehe eine weitere Relativierung für viele momentan kursierende Leitlinien: Sie können sicher ihre normative Funktion erfüllen durch Aufschreiben all dessen, was einer Profession zu einem Thema wichtig ist. Das mag relevant sein und der Selbstvergewisserung dienen, aber es ist zu wenig. Wesentliches Ziel von Leitlinien muss die praktische Entscheidungsunterstützung der Behandler vor Ort sein und hier gehen sehr viele der momentan existierenden Leitlinien am Bedarf vorbei. Wir brauchen Problemorientierung statt internistische Lehrbücher, also mehr von der Sorte „Brennen beim Wasserlassen” und weniger von der Sorte „Diabetes mellitus”. Ich befürchte, dass Letztere, mit großem Aufwand erstellt, nur eine sehr begrenzte Rolle in der praktischen Gestaltung der Versorgung spielen werden.
Erlauben Sie mir zu dieser Thematik eine kurze Abschweifung: Wiederholt, so auf einer Diskussionsveranstaltung auf der GMDS-Tagung Mitte September, wird für die Erstellung von Leitlinien und die Erarbeitung anderer EbM-Erkenntnisse eine unabhängige Institution gefordert, meist nicht ohne einige Seitenhiebe auf die angeblich unfähige Selbstverwaltung und auf andere als „nicht unabhängig” abgestrafte Institutionen. Diese Forderung erscheint aus mehreren Perspektiven schwer nachvollziehbar: Zum einen ist es trotz ständig wiederholter Kolportage schlicht unrichtig, dass etwa bei der Erarbeitung der medizinischen Anforderungen für die strukturierten Behandlungsprogramme nach § 137 f SGB V im Wesentlichen politische Interessen ausgeklüngelt wurden. Wenn man diese Arbeit und die Ernsthaftigkeit der medizinischen Erwägungen beobachtet hat, so grenzen manche Charakterisierungen durch Außenstehende an üble Nachrede.
Zum Zweiten ist die Forderung nach einem Deus-ex-machina-Institut wohl kaum mit der gleichzeitig erhobenen Forderung nach Konsens unter allen (sic!) Beteiligten kompatibel. Zum Dritten würde eine solche Institution den Top-down-Eindruck solcher Arbeit noch verstärken und die Akzeptanz noch mehr verringern.
Viertens übersieht der neidische Blick auf das NICE in England, dass dieses nicht primär deshalb ein Vorbild ist, weil es sich um NICE handelt, sondern, weil es in England angesiedelt ist und die dortige Versorgung beeinflusst. Deutschland gehört noch nicht zum Evidenz-Gürtel, in dem empirische Indizien den Stellenwert genießen wie in Großbritannien, Holland oder Skandinavien.
Fünftens ist das entscheidende Defizit nicht die Problemerkennung und Evidenzgenerierung, sondern die praktische Umsetzung in der Versorgung.
Und schließlich - sechstens - sollte die so genannte Unabhängigkeit als das benannt werden, was sie ist, nämlich eine Fiktion.
Die Methodik der klinischen Epidemiologie und anderer Methodenwissenschaften, das Vorgehen bei systematischen Reviews und insbesondere auch die immer wieder herausgestellte Forderung nach Transparenz sind vielmehr gerade deshalb so wichtig, weil jede und jeder voreingenommen und in dem einen oder anderen Sinne abhängig ist. Die für EbM erarbeitete Vorgehensweise ermöglicht es gerade, den Einfluss dieser Abhängigkeiten zu kontrollieren, sie zwar nicht auszuschalten, aber erkennbar werden zu lassen. Es erscheint mir daher viel bedeutsamer, Transparenz und hohe Qualität zu fördern und auch für die eigene Arbeit zu fordern. Beklagenswerte Beispiele schlechter Arbeit im Zusammenhang mit evidenz-basierter Medizin in Deutschland sind nicht auf Abhängigkeit, sondern banal auf mangelnde Kompetenz zurückzuführen.
Nach Einschätzung eines bekannten deutschen Gesundheitsökonomen gibt es drei wesentliche Anreize, die einen Behandler dazu bringen können, etwas Erwünschtes zu tun: Geld, Geld und Geld. Selbst wenn man eine abweichende Meinung insofern vertritt, dass es noch andere wesentliche Beweggründe geben könnte - die, so stellen wir uns vor, etwas mit dem ärztlichen Ethos zu tun haben sollten -, so wird man wohl kaum daran vorbei kommen, dass es ergänzende Anreize geben muss und dass diese ohne eine finanzielle Komponente wirkungslos bleiben werden: Finanzielle Anreize für gute Medizin, und zwar nur für den Erfolg, nicht für die Menge. Vorschläge hierfür gibt es zahlreiche, die auch teilweise in Einzelverträgen umgesetzt und erprobt werden.
Am einfachsten auszusprechen ist sicher die Sanktionierung derjenigen, die sich nicht an Vorgaben (Leitlinien) halten. Ich halte dies, wie gesagt, nur sehr begrenzt für durchführbar. Ebenso wäre ein Bonus für leitliniengerechtes Verhalten vorstellbar mit demselben Praktikabilitätsproblem und der durchaus skurrilen Folge, dass Behandler besonders belohnt würden, wenn sie sich normal, nämlich nach anerkanntem Stand des Wissens, verhalten.
Beide Vorschläge wagen zudem nicht den wesentlichen Schritt: die Orientierung der Honorierung am konkret erzielten Ergebnis.
In einer vor kurzem vorgestellten Untersuchung aus dem St.-Josef-Krankenhaus in Bochum wurde festgestellt, dass zwei Drittel aller notwendigen Rezidiveingriffe nach Krampfaderoperationen in unvollständigen Primärresektionen ihre Ursache hatten, sprich: in qualitativ unzureichenden Behandlungen. Es liegt förmlich auf der Hand, nach finanziellen Regelungen zu suchen, die solche ungenügende Qualität sanktionieren und hohe Qualität belohnen. Nahe liegende Möglichkeiten sind z. B., Vergütungen erst dann auszuzahlen, wenn - innerhalb angemessener Frist - keine Komplikation aufgetreten und kein Rezidiveingriff notwendig geworden ist. Oder es könnten Verträge mit Garantieklauseln geschlossen werden, d. h. also, notwendig werdende Rezidivbehandlungen werden - innerhalb angemessener Frist - durch die Erstvergütung abgedeckt. Selbstverständlich sind dabei die Vergütungen für komplikationslose Eingriffe so zu wählen, dass eine „unvermeidliche” Rate von Komplikationen, sozusagen ein Basisrisiko, finanziell berücksichtigt wird. Nur wer mehr unbefriedigende Ergebnisse produziert, zahlt drauf, wer unter dem Niveau bleibt, spart und verdient. Das Basisrisiko könnte regelmäßig angepasst, sprich natürlich: gesenkt werden, um weitere Anreize zu setzen. Betriebswirtschaftler und Versicherungsmathematiker wären zweifellos in der Lage, solche Vergütungsmodelle zu kalkulieren.
Lassen Sie mich auch ein anderes Konzept erwähnen, das in unserem Hause diskutiert worden ist: In der Krebsfrüherkennung ergibt sich die Schwierigkeit, dass man im Rahmen der technischen Möglichkeiten eines Verfahrens Anreize für eine möglichst sensitive und spezifische Anwendung setzen muss: Möglichst jeder Tumor, aber eben auch nur die Tumoren sollen entdeckt und invasiv angegangen werden. Das momentane System begünstigt das genaue Gegenteil: Es führt, etwa bei der Suche nach Hautkrebs, zu Überversorgung, indem finanziell eine schlechte Spezifität, nämlich die Entfernung jedes auch nur im Ansatz verdächtigen Befundes, gefördert und gleichzeitig das Bemühen um eine hohe Sensitivität, d. h. eine sehr sorgfältige Inspektion der Haut, nicht belohnt wird.
Ein System, das solche medizinisch unerwünschten Anreize setzt, muss verändert werden. Warum also nicht die Vergütung an den histologischen Befund koppeln, und zwar radikal so, dass die Leistungen „Inspektion der Haut” und „Exzision von verdächtigen Befunden” insgesamt nur dann vergütet werden, wenn der histologische Befund bestimmte Malignitätskriterien erfüllt. Für die Inspektion ohne Folgemaßnahmen gibt es also ebenso kein Geld wie für die Exzision eines gutartigen Befundes - jedenfalls nicht direkt und damit nicht mengenstimulierend. Die Vergütung für einen exzidierten malignen Befund wird aber so hoch angesetzt, dass sie eine bestimmte Anzahl von Inspektionen ohne Folgen und eine bestimmte Zahl von eigentlich überflüssigen Exzisionen abdeckt. Sie müsste so gewählt werden, dass Behandler, die jetzt schon sorgfältig arbeiten, keine Änderung ihrer Gesamteinkünfte aus diesen Leistungen erfahren. Diejenigen, die bei jedem Patienten einen Befund exzidieren, würden jedoch Einbußen erfahren und diejenigen, die ein besonders gutes Auge, Beurteilungsvermögen oder Erfahrung haben, also diejenigen, die wir uns alle wünschen, sollen profitieren. Um ihren finanziellen Ertrag zu maximieren, müssen Behandler zunächst eine sehr sorgfältige Inspektion vornehmen (Maximierung der potenziellen Einnahmequellen und Optimierung der Sensitivität) und dann die zu exzidierenden Befunde mit Bedacht auswählen (Minimierung des Aufwands, Optimierung der Spezifität). Man kann das Konzept unmittelbar auf die Entdeckung und Entfernung von Dickdarmadenomen und weitere ähnlich strukturierte Probleme übertragen. Da es sich hier um einen fallbezogenen Anreiz handelt, ist das System in der Lage, auf Weiterbildung oder Erfahrungszuwachs eines Behandlers zu reagieren.
Ich möchte nicht dahingehend missverstanden werden, dass ich die Meinung verträte, das ganze Gesundheitssystem sei auf solche finanziellen Anreize umzustellen. Aber da, wo es solche Möglichkeiten gibt, sollten sie genutzt, wenigstens erprobt und einer Evaluierung unterzogen werden. Die Diskussionsverbotsschilder, die einige meinten aufstellen zu müssen, als der VdAK-Vorsitzende Rebscher vor 2 Jahren auf solche Anreizmöglichkeiten hinwies, sind unangebracht. Diese finanziellen Anreize haben auch nichts damit zu tun, dass man etwa der Meinung wäre, Gesundheit wäre eine Handelsware, ein Geschäft wie jedes andere auch. Sie dienen schlicht dazu, medizinisch Erwünschtes zu fördern und sind breitflächigen Kontroll- und Überprüfungsmaßnahmen allemal vorzuziehen.
Neben der zu übergehenden Kritik vom Charakter des „Ham wa ja noch nie gemacht” sind andere kritische Bewertungen ernster zu nehmen. Zu nennen sind die eher ideellen Abgrenzungen zwischen dem Arzt und dem Mechaniker, die zwar im Kern richtig sein mögen, aber das momentan gültige System offensichtlich auch nicht sehr tief greifend beeinflussen konnten und können. Und zu nennen sind insbesondere Bedenken, die auf Selektionseffekte durch Abschiebung, Zuweisung usw. hinweisen und beruhen.
Solche Selektionseffekte, so bedenkenswert sie sind, werden aber fast ebenso reflexhaft vorgebracht wie die berühmte „Verunsicherung der Patienten”, die bei jeder kritischen Meinungsäußerung beklagt wird. Sie verlieren dadurch viel von ihrer Argumentationskraft.
Festzustellen ist jedenfalls, dass das momentane System auch deshalb unbefriedigend ist, weil es nicht etwa keine finanziellen Anreize setzt, sondern dies in extenso in die falsche Richtung tut, indem ganz primär Menge und nicht Güte belohnt wird. Dies führt, so ist es vielfältig, auch im Gutachten des Sachverständigenrats zur „Über-, Unter- und Fehlversorgung”, beklagt worden, zu erheblichen Leistungsüberhängen, sprich Geldverschwendung und Gefährdung von Patienten. Durch Aktivitäten zur Qualitätssicherung wird dieser Tendenz in vielen Fällen nicht etwa gegengesteuert, sondern sie wird eher gefördert. Es scheint sofort jedes Versuchs wert, dieses Gefährdungspotenzial durch ein geeigneteres System zu vermindern.
Es gibt einen weiteren Problembereich, von dem ich glaube, dass er nur durch intelligente finanzielle Anreizsysteme, nicht einfach durch „mehr Geld ins System” gelöst werden kann. Im Zuge der Entwicklung verschiedener Innovationen werden immer wieder Verfahren entwickelt, für die nach Kriterien der EbM ein Nutzen, ggf. sogar eine Notwendigkeit angenommen werden kann, die sich dann allerdings nur auf sehr begrenzte Indikationen bezieht. Beispiele sind etwa die Protonentherapie oder bestimmte Immun-Apherese-Verfahren. So wichtig es also sein könnte, diese Verfahren bestimmten, insgesamt wenigen, Patienten zur Verfügung zu stellen, so unerwünscht ist es andererseits, dass eine Systemeinführung in kurzer Zeit zu unkontrollierter Mengenausweitung führt, was in unserem System so sicher ist wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche. Einen Großteil dieser Mengenausweitung durch Indikationsausweitung wird man den Behandlern zuschreiben müssen, einen Teil jedoch auch Lokalpolitikern, die Kliniken und Großgeräte zur eigenen Profilierung ins Land stellen und für ihre Amortisierung sorgen müssen. Geldverschwendung ist aber nur ein Aspekt. Der andere ist, dass die Selbstverwaltung zzt. nur eine einzige effektive Handhabe hat, die Mengenausweitung zuverlässig zu unterbinden, nämlich, die Innovation erst gar nicht in den GKV-Leistungskatalog aufzunehmen. Damit steht aber ein Verfahren, das nach den Kriterien evidenz-basierter Medizin möglicherweise wirklich sinnvoll ist, den Versicherten der GKV nicht zur Verfügung. Nicht wegen hoher Risiken oder hoher Kosten des Verfahrens selbst, sondern wegen unzureichender Steuerbarkeit der Anwendung. Man kann diese Problemlage durchaus auch auf andere Bereiche ausdehnen, in denen nicht die Mengenausweitung, sondern die in der Praxis nicht zureichend sicherzustellende Qualität der Versorgung die Einführung einer Maßnahme behindert. Diesen Problemen ist in dem momentanen System nicht effizient beizukommen, zu Lasten der Patienten. Auch hier könnten spezifisch ausgestaltete finanzielle Anreize, die Missbrauch möglichst unattraktiv machen, einen Erfolg versprechenden Weg darstellen.
Ich habe mich hier auf finanzielle Anreize für Behandler konzentriert, will dies aber nicht als Beschränkung verstanden wissen. Solche Anreize sind natürlich auch für Versicherte, Patienten und auch für die weiteren Beteiligten, etwa die Krankenversicherungen, anwendbar und von Bedeutung. Es wäre damit z. B. anzustreben, dass GKV und PKV ein besonderes Interesse haben, eine qualitativ hochwertige, evidenz-basierte Versorgung zu finanzieren, und zwar eben ein größeres Interesse, als ihre Kunden mit halbseidenen Maßnahmen und so genannten Innovationen zu locken. Die Diskussion zu diesem Thema muss zweifellos mit Bedacht geführt werden: Manche Anreizideen (Stichwort „Vorsorgemuffel”) halte ich für hochproblematisch, da sie ohne ausreichende empirische Grundlage massiv in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen eingreifen, speziell die Freiheit, nach Abwägung der relevanten Informationen „Nein” sagen zu können.
Neben effektiven Anreizen ist eine zweite bedeutende Gestaltungsmaßnahme, die mit dem Kern evidenz-basierter Medizin unmittelbar zusammenhängt, die Schaffung von Transparenz zwischen allen Beteiligten. Die Transparenz betrifft dabei besonders die Partei Patient, wo sie sowohl in der medizinisch-fachlichen Dimension im Sinne eines „shared decision making” als auch in der versorgungsregelnden Dimension geschaffen oder ausgebaut werden muss. Dass dies erfolgreich sein kann, zeigt eine Studie, die an der Universität Nottingham durchgeführt wurde. Patienten mit akuten Atemwegserkrankungen wurde nach sorgfältiger Untersuchung ein Rezept für ein Antibiotikum mitgegeben. Gleichzeitig wurden diese darüber informiert, dass in ihrer Situation eine Antibiotika-Verschreibung eigentlich nicht notwendig sei (auch dies ein Bereich bekannter Überversorgung). Es wurde ihnen selbst jedoch die letzte Entscheidung darüber überlassen, ob sie sich doch mit einem Antibiotikum sicherer fühlten, bzw. es wurde ihnen übertragen, auf eine Verschlechterung ihrer Symptome zu achten und dann das Antibiotikum zu nehmen. Das Ergebnis dieser Informationspolitik war, dass die Anwendung der Antibiotika gegenüber einer Kontrollgruppe um 25 % zurückging. Das „sharing uncertainty”, wie es die Autoren nennen, ist für deutsche Patienten eher ungewohnt. Es sind aber vermutlich solche Strategien, die Patienten angemessen zu informieren, ihre Präferenzen zwar ernst zu nehmen, ihnen aber doch medizinisch klare Hinweise zu geben, sie also entsprechend ihren eigenen Fähigkeiten angemessen zu beteiligen, die für eine Umsetzung von nutzbringenden Erkenntnissen effektiv sind.
Zu diesem partnerschaftlichen statt paternalen Verhältnis gehören auch Informationsangebote für Patienten, die evidenz-basierte Erkenntnisse für medizinische Laien verständlich aufbereiten. Viele, teilweise sehr gelungene Beispiele insbesondere im Internet zeigen die Entwicklungsmöglichkeiten auf. In ihrer Ablehnung von autoritäts-(eminenz-)basierten Informationsmonopolen unterstützt das Konzept einer evidenz-basierten Medizin aber nicht nur die Vermittlung der Erkenntnisse selbst, sondern sie hält grundsätzlich die Möglichkeiten bereit, den Weg, der zu diesen Erkenntnissen geführt hat, für jeden offen zu legen.
Es geht also um mehr: Die Kernfrage „What’s your evidence?” soll auch ein Patient an seinen Arzt richten können. Für Ärzte wird sich damit häufiger als bisher die Situation ergeben, dass ihnen informierte Patienten oder vielleicht zunächst Patienten mit Informationen, jedenfalls aber ernst zu nehmende Diskutanten, gegenüberstehen. Die auf der Hand liegende Folge ist, dass Ärzte das Definitionsmonopol dafür, was medizinisch notwendig und sinnvoll ist, verlieren werden oder jedenfalls grundsätzlich wandeln müssen. Dies ist schon deshalb konsequent, da das Konzept einer evidenz-basierten Medizin auch eine Reaktion auf einen Missbrauch dieses Monopols ist, wie er sich in den bereits erwähnten deutschsprachigen Leitlinien ausdrückt.
Die Herausforderung, die aus diesen Entwicklungen für die ärztliche Profession alter Prägung erwächst, sollte nicht unterschätzt werden. Reaktionen, etwa die des Präsidenten der Landesärztekammer Baden-Württembergs, Kolkmann, auf dem Deutschen Ärztetag in Rostock, zeigen, dass die Herausforderung gesehen, offenbar im Wesentlichen aber als Bedrohung wahrgenommen und mit heftiger Abwehr beantwortet wird. Eine solche Haltung wird die Position der Ärzteschaft in dieser nach meiner Einschätzung unumkehrbaren Entwicklung nicht stärken.
Transparenz ist aber in unserem System, wie jeder weiß, nicht nur eine Frage medizinischer Inhalte. Wenn Sie Ihr Auto in die Inspektion geben, den Bau Ihrer Garage bezahlen sollen oder auf eigene Rechnung einen Arzt aufsuchen: Sie werden eine detaillierte Rechnung über erbrachte (und über nicht erbrachte) Leistungen erhalten; nur nicht bei Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Kein Patient erfährt im herrschenden System, ob und welche Leistungen für ihn zwischen KV und Kassen finanziell geregelt werden. Dieser Zustand ist anachronistisch und unhaltbar. Er widerspricht dem Prinzip Transparenz, die natürlich auch immer eine vertrauensbildende Maßnahme ist, er ignoriert Möglichkeiten der Fehler- und Irrtumsbeseitigung und er begünstigt nebenbei die regelmäßig wiederkehrenden Rituale der Manipulationsvorwürfe und Gegendarstellungen, wie gerade vor wenigen Wochen wieder zu beobachten.
Dass diese Transparenz nicht bereits gängige Praxis ist, ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, als sie ja täglich, und vermutlich ohne Murren, bei PKV-Versicherten gepflegt wird. Worum es geht, zeigt folgendes Beispiel: Die Rechnung eines Urologen für die Behandlung eines Patienten mit liegendem Bauchdeckenkatheter, der komplikations- und reizlos war, enthielt statt der regelmäßigen Katheterwechsel Rechnungspositionen für die (regelmäßige) Neuanlage des Katheters. Man dürfte dies vermutlich Betrug nennen. Im Zusammenhang mit der Umsetzung evidenz-basierter Medizin wichtiger waren jedoch Rechnungspositionen über regelmäßige umfangreiche bakteriologische Untersuchungen, die vermutlich zwar gemacht, jedoch in dieser Situation unangemessen waren. Dieser Einzelfall ließe sich durch viele Berichte ergänzen, u. a. auch durch die Ergebnisse einer TV-Aktion, in der mit versteckter Kamera 10 Behandlungen eines angeblichen Patienten dokumentiert und mit den anschließenden Rechnungen verglichen wurden: 10 private Rechnungen, von diesen 10 waren 10 falsch. Wir haben kaum mehr als solche Anhaltspunkte und jeder hat seine persönlichen Erfahrungen - die berühmte interne Evidenz -, die zusammen allerdings Anlass genug sind, einen Missstand zu vermuten und ihn anzugehen.
Es spricht nur wenig dagegen, dass die Verhältnisse in der GKV denen der PKV wenigstens insofern ähnlich sind, als dass mehr Geld verbraucht wird als notwendig ist. Die beständige Klage, dass die Umsetzung evidenz-basierter Medizin Geld verschlinge, weil die Behandler erst dann wirklich das machen, was notwendig ist, entbehrt so lange jeder Glaubwürdigkeit, wie keine Bereitschaft erkennbar ist, sich über den tatsächlichen medizinischen Versorgungsbedarf klar zu werden, sowie transparent werden zu lassen und darzulegen, was tatsächlich in der Praxis passiert. Die Aussage des Präsidenten der Bundesärztekammer auf der ersten Seite des Deutschen Ärzteblatts Anfang September, „Versicherte dürfen nicht länger um ihren berechtigten Anspruch auf eine medizinisch hochwertige Versorgung betrogen werden. Deshalb brauchen wir Ehrlichkeit in der Diskussion”, erweist sich daher, nach initialem ungläubigen Innehalten, als eine sehr zu unterstützende Botschaft: Vor immer mehr Geld ins System steht zunächst der Kassensturz, vielleicht ein Offenbarungseid, in dem die Leistungserbringer transparent darlegen, was sie in welcher Weise, in welchem Umfang und mit welchem Nutzen mit dem vorhandenen Geld anstellen. Ich bin sicher, dass unser Präsident mit seinem Aufruf zur Ehrlichkeit diese der ärztlichen Profession sehr gut zu Gesicht stehende selbstkritische Bestandsaufnahme nur gemeint haben kann. Nur ein Hinweis: Der Aufwand eines von vielen als sinnvoll erachteten Mammographie-Screenings wird mit 250 Mio. €/Jahr geschätzt. Wenn man den geschätzten Aufwand für die postmenopausale Hormonsubstitution von ca. 500 Mio. €/Jahr einspart und teilweise umwidmet, bliebe noch eine Viertel Milliarde für andere sinnvolle Maßnahmen übrig.
Solche Einspar- und Umwidmungsmöglichkeiten haben aber neben der finanziellen auch noch eine andere Dimension. Es gibt nämlich in vielen Analysen zu Versorgungsdefiziten das bemerkenswert konsistente Ergebnis, dass eine Unterversorgung von Hochrisikopatienten oder gar Schwerkranken einer Überversorgung von Niedigrisikopatienten gegenübersteht, also eine Variante des „Inverse Care Law”, das Julian Tudor Hart vor 30 Jahren beschrieben hat. Man kann an diese Beobachtung eine Reihe spannender Hypothesen knüpfen: Zum Beispiel könnte es sich um ein Ausweichen in weniger aufwändige und belastende Arbeitsbereiche handeln; es könnte die Folge einer erfolgreichen Marktstrategie der pharmazeutischen Industrie sein, die den weitaus größeren Markt der Gesunden entdeckt hat und systematisch ausbaut; und es könnte auch eine unerwünschte Nebenwirkung einer Präventionswertschätzung sein, die natürlich von niemandem so gemeint war, dass die wirklich Leidenden vernachlässigt werden sollten. Wenn Schwartz also in einem kürzlich publizierten Interview in der ZEIT erneut darauf hingewiesen hat, dass etwa ein Drittel aller erbrachten Leistungen überflüssig ist, dann sollte damit nicht nur Geldverschwendung assoziiert werden und nicht nur die zweifellos richtige Idee, dass man mit den Ressourcen bestehende Löcher stopfen könnte. Es sollte vielmehr ins Bewusstsein gelangen, dass die Überversorgung eine Richtung hat, eine qualitative und damit auch ethische Dimension, indem sie Mittel von der Versorgung der wirklich Bedürftigen, derjenigen Patienten, die ursprünglich einmal im Zentrum der medizinischen Bemühungen standen und primär stehen sollten, abzieht. Diese Fehlallokation zu identifizieren, klar zu benennen und anzugehen ist eine sozialmedizinische und ärztliche Aufgabe. Sie ist allerdings wesentlich anspruchsvoller, als ständig „neue Wege der Finanzierung medizinischer Innovationen” einzufordern.
Evidenzbasierte Medizin steht für einen neuen ethischen Imperativ der Medizin. Der Imperativ umfasst Transparenz, Partizipation, Orientierung am medizinischen Nutzen, Gerechtigkeit und sparsamen Umgang mit Ressourcen, alles in allem sozusagen Nachhaltigkeit in ärztlichem Handeln. Die ärztliche Profession ist grundsätzlich frei, sich diesen Prinzipien anzuschließen. Sie hat die Möglichkeit, sie von innen, transparent nach außen, mit Leben zu füllen und damit deutlich zu machen, dass sie die Chancen, die eine evidenz-basierte Medizin für die Gestaltung der Versorgung bietet, erkennt. Sie hat die Möglichkeit, effektive Regulative zu etablieren, sie hat selbst die Möglichkeit, für die nutzbringendste Verteilung der vorhandenen Ressourcen zu sorgen. Sie hat die Möglichkeit und das Recht, nach Nutzung aller Möglichkeiten der Effizienzsteigerung nach mehr Geld zu rufen.
Es sollte aber jedem klar sein: Wenn die Neuorientierung zur Nachhaltigkeit nicht von innen, aus der Ärzteschaft kommt, wenn nicht bald und konsequent die Chancen, die eine evidenz-basierte Medizin bietet, gesehen und erkennbar genutzt werden, dann werden andere dies in die Hand nehmen.
Die „zentrale Profession des deutschen Gesundheitswesens” mag dann zwar weiterhin im Deutschen Ärzteblatt beschworen werden. Sie wird aber einmal mehr ihren Verlust an Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten beklagen.
Prof. Dr. Jürgen Windeler
MDS Essen, Fachbereich Evidenz-basierte Medizin
Lützowstraße 53
45141 Essen