Z Sex Forsch 2003; 16(1): 1-31
DOI: 10.1055/s-2003-38720
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Paar in der Gegenwartskunst [1]

Reimut Reiche
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Publication Date:
16 April 2003 (online)

Zusammenfassung

Psychoanalytische Kunstkritik hat sich bislang vor allem im kunsthistorisch Tradierten bewegt und sich dem noch Ungesicherten nur selten genähert. Das gilt für die Literatur, vor allem aber für die bildende Kunst. Der Autor macht dagegen den Versuch, die Gegenwartskunst psychoanalytisch zu fassen. Ausgewählt hat er dafür einige Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern sowie eine Briefmarke, auf denen Paare, genauer gesagt, liebende Paare repräsentiert sind. Wie, so fragt er, wird das Paar heute ins Bild gesetzt? Und wie kann man sich den Repräsentationen des Paares in der Gegenwartskunst psychoanalytisch nähern? Methodisch, so erläutert der Autor, indem man damit beginnt, womit auch jede Deutung in der psychoanalytischen Situation beginnt, nämlich mit der Oberfläche. An den detaillierten Deutungen der von ihm ausgewählten Kunstwerke demonstriert der Autor, dass man nicht nur mit der Oberfläche beginnen sollte, sondern dass man sich mit der Oberfläche ziemlich lange beschäftigen muss, um zu jenen Verdichtungen zu gelangen, die eine Deutung und damit einhergehend eine tiefere Einsicht ermöglichen.

1 Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung zum Thema Symbolisierung und ihre Störungen am 21. November 2002 in Frankfurt am Main

Literatur

  • 1 Bastian H. Hirsch. In: Gallwitz K (Hrsg). Joseph Beuys - Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch 1958-1985. Katalog. Bern: Benteli; 1986. S. 26
  • 2 Chicago J, Lucie-Smith E. Der andere Blick - Die Frau als Modell und Malerin. München: Knesebeck; 2000
  • 3 Giddens A. Transformation of intimacy. Cambridge: Polity Press 1992 (dt.: Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag; 1993)
  • 4 Gorsen P, Kuder U. Rückblick auf ein ruiniertes Paar: Adam und Eva in der Kunstgeschichte. In: Nabakowski G, Sander H, Gorsen P (Hrsg). Frauen in der Kunst, Bd. 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1980. S. 178-189
  • 5 Hentschel L. Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne. Marburg: Jonas Verlag; 2001
  • 6 Hollein M, Grunenberg C. Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, 28. September bis 1. Dezember 2002. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz; 2002
  • 7 Lauter R. Anmerkungen zu Lucian Freuds Bild Afternoon in W 11. In: Lauter R (Hrsg). Für Jean-Christophe Ammann. Festschrift. Frankfurt/M.: Societäts-Verlag; 2001. S. 224-231
  • 8 Maek-Gérard M. Johannes Vermeer - Der Geograph und der Astronom nach 200 Jahren wieder vereint. Katalog. Frankfurt/M.: Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie; 1997
  • 9 Nochlin L. The Origin of the World. In: Faunce S, Nochlin L. Courbet reconsidered. New Haven, London: New Haven University Press; 1988. S. 176-178
  • 10 Paas S. Paare. In: Hofmann W (Hrsg). Eva und die Zukunft. Das Bild der Frau seit der Französischen Revolution. München: Prestel; 1986. S. 165-207
  • 11 Reiche R. Postfeministische Kunst - ein männlicher Blick. In: Reiche R. Mutterseelenallein. Kunst, Form und Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Stroemfeld; 2001. S. 149-195 (zit. als 2001 a)
  • 12 Reiche R. Was ist virtuell am virtuellen Raum?. In: Burkholz R et al (Hrsg). Die Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur - im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft; 2001. S. 235-269 (zit. als 2001 b)
  • 13 Reiche R. Rezension des Buches Pornotopische Techniken des Betrachtens von Linda Hentschel.  Z Sexualforsch. 2002;  15 161-163
  • 14 Schneider G. Das schwarze Quadrat auf weißem Grund von Kasimir Malewitsch - ein identitätstheoretisch fundierter psychoanalytischer Zugang zum Suprematismus. In: Schneider G (Hrsg). Psychoanalyse und bildende Kunst. Tübingen: Edition Diskord; 1999. S. 223-248
  • 15 Sigusch V. Kultureller Wandel der Sexualität. In: Sigusch V (Hrsg). Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 3., neu bearb. und erweit. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2001
  • 16 Waldeis P. Erste gemeinsame Untersuchung des Geographen und des Astronomen. In: Maek-Gérard 1997. S. 38-48
  • 17 Wheelock A K. Der Astronom und der Geograph. In: Maek-Gérard 1997. S. 14-22
  • 18 Zizek S. Die Moderne und das Erhabene im Stalinismus.  Parkett. 2000;  58 10-14

1 Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung zum Thema Symbolisierung und ihre Störungen am 21. November 2002 in Frankfurt am Main

2 Die strukturelle Seite dieses Problems habe ich in einer Untersuchung der Verwendung von Raum im Kunstdiskurs bearbeitet und dort die Unterscheidung von Raum ersten Grades und Raum zweiten Grades zu Hilfe genommen (vgl. Reiche 2001 b).

3 Zur Geschichte dieses Bildes, seines Auftraggebers und seiner wechselnden Besitzer vgl. Nochlin (1988: 176-178)

4 In den kunsttheoretischen Diskursen ist der Ausdruck Symbol/symbolisieren gänzlich außer Gebrauch gekommen. Hat das nur mit dem Veralten von Begriffen zu tun, die sich, ebenso wie Metaphern, abnutzen, oder mit einem regelrechten Paradigmenwechsel? Offenkundig ist jedenfalls, dass im Sprechen über Kunst die strukturalistische Semantik in ihren unterschiedlichen Ausfächerungen bei Eco, Barthes, Foucault und Lacan die Führung übernommen und Freud ersetzt hat. Von Symbolen und Symboliken zu sprechen rückt den Sprecher alsbald in eine schwüle Nähe zu Böcklin, Deutschrömertum und dergleichen. Und so spreche auch ich zum Beispiel bei Judy Chicago (s. u.) nicht davon, das verfaulende Bein des Mannes symbolisiere die verfaulende patriarchalische Ordnung, sondern repräsentiere sie.

5 Selten ist die ungetrübte, glückliche Einheit des Menschenpaares in der Kunst dargestellt, schreibt Sigrun Paas (1986: 166) anlässlich der großen Ausstellung Eva und die Zukunft - Das Bild der Frau seit der Französischen Revolution in der Hamburger Kunsthalle.

6 Eine letzte Heimstatt hatte es vorübergehend im Sozialistischen Realismus - und dort interessanterweise in einer lkonografie, die sich an die Alten Meister direkt anlehnt.

7 So im Katalog der Ausstellung Shopping, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2002 (vgl. Hollein und Grunenberg 2002)

8 Dieser Betrachter taucht nicht nur in der Rolin-Madonna (1435) oder im Arnolfini-Doppelbildnis (1434) auf, aber an diesen beiden Bildern wurde der Topos Betrachter-im-Bild kunsthistorisch besonders gründlich bearbeitet.

9 Bleibt die Frage: Ist er denn etwa in ihrer Ferne oder in ihrer Abwesenheit fähig, sie zu befriedigen?

10 Vgl. etwa die Betonbauerbrigade von Wolfgang Peuker (1975), die formal aufgebaut ist wie eine Gruppe von römischen Soldaten, die Jesus ans Kreuz schlagen. Oder die Arbeiterinnen auf dem Mittelteil des Tryptichons Frauen von Petra Flemming (1974), die gruppiert sind wie die horchenden und tuschelnden Dienstmägde vor dem Palast des Herodes während des Verhörs Jesu.

11 Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGBL)

12 Abgebildet in: Chicago und Lucie-Smith (2000: 99)

13 Claes Oldenburgs Bedroom Ensemble und Sylvie Fleurys Paraphrase darauf habe ich besprochen in dem Kapitel Postfeministische Kunst meines Buches Mutterseelenallein (Reiche 2001).

14 Ausführlich besprochen von Gerhard Schneider (1999)

15 Beispielhaft für die vielen Kopien/Variationen sei hier auf das Bild Sign for a Lesbian Bar (1994) von Christina Schlesinger verwiesen (abgebildet in: Chicago und Lucie-Smith 2000: 174).

16 Adam und Eva nach dem Sündenfall (1867), Kunsthalle Hamburg

17 Im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main

18 Ebenfalls im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main

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