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DOI: 10.1055/s-2003-40778
Plädoyer für die forensische Nachsorge
Ergebnisse einer Evaluation forensischer Ambulanzen im RheinlandPlea for Forensic AftercareResults from an Evaluation of Forensic Ambulances in Germany (Area: „Rheinland”)
Dr. med. Dieter Seifert
Institut für Forensische Psychiatrie · Rheinische Kliniken/Universitätsklinikum Essen
Virchowstraße 174
45147 Essen
Email: d.seifert@lvr.de
Publication History
Publication Date:
21 July 2003 (online)
Zusammenfassung
Die Wiedereingliederung von Patienten aus dem forensischen Maßregelvollzug in die Gesellschaft gilt als eine ebenso schwierige wie wichtige Aufgabe. Derzeit bestehen in Deutschland nur vereinzelt spezialisierte forensische Ambulanzen, obwohl seit Jahren deren Existenz von Fachleuten gefordert wird. Im Folgenden werden Ergebnisse einer Evaluation forensischer Ambulanzen im Rheinland vorgestellt mit dem Ziel, „Mindeststandards” bzw. Eckpfeiler erfolgreicher Ambulanztätigkeit unter Berücksichtigung aller am Reintegrationsprozess beteiligten Stellen zu erarbeiten bzw. zu vermitteln.
#Abstract
The reintegration of patients from forensic hospitals into society is as difficult as important. At present only a few specialized forensic ambulances can be found in Germany although experts have been demanding an extension of these institutions for years. In the following we will present results from an evaluation study of forensic ambulances in Germany (area: „Rheinland”). Our target is to develop minimum standards or essential pillars for successful ambulance work by taking all participants of the reintegration process into account.
#Einleitung
Die Forensische Psychiatrie steht seit nunmehr einem Jahrzehnt wiederholt im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Thematisch geht es um Therapiemöglichkeiten psychisch kranker Rechtsbrecher, um deren Gefährlichkeitseinschätzung und vor allem um die Qualität der Gutachten. Die Frage einer fachgerechten Nachsorge wird vergleichsweise wenig reflektiert. Während die Allgemeinpsychiatrie mittlerweile über ein weitgehend flächendeckendes psychosoziales Netzwerk verfügt, lässt sich dies für den forensischen Bereich bislang nicht behaupten. Wiedereingliederung gehört zu den Grundaufgaben des psychiatrischen Maßregelvollzugs. Die strafrechtliche Unterbringung nach § 63 StGB ist zwar primär zeitlich unbefristet, jedoch kann das Gericht gemäß § 67e StGB jederzeit - spätestens nach einem Jahr - prüfen, „ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen ist”. Anders als im Strafvollzug tritt bei allen Patienten, die aus einer Maßregel (§ 63 StGB) bedingt entlassen werden, automatisch Führungsaufsicht ein. Der entlassene Patient wird einem Bewährungshelfer unterstellt, der ihm „helfend und betreuend zur Seite” stehen soll (§ 68a Abs. 2 StGB). Hiermit war vom Gesetzgeber bei der Strafrechtsreform 1975 eine Unterstützung bei der Rückkehr in die Gesellschaft intendiert, zugleich zielte es auf den kontrollierenden Aspekt der maximal 5 Jahre andauernden Führungsaufsicht ab.
Im Gegensatz dazu war bislang eine ärztliche/psychotherapeutische Nachsorge von Gesetzes wegen nicht vorgeschrieben, obwohl sich die Fachleute bereits seit vielen Jahren grundsätzlich darüber einig sind, dass nach der stationären Unterbringung im Maßregelvollzug eine forensisch-psychiatrische Nachsorge - u. a. auch zur Verhinderung erneuter Delinquenz - sinnvoll wäre (u. a. [1] [2]). Faktisch konnte dies aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht realisiert werden. So fand Ritzel [3], dass in den 70er-Jahren lediglich jeder dritte Patient ambulant nachbetreut wurde und dies zum überwiegenden Teil nicht durch einen Facharzt. Seitdem sind viel versprechende Anstrengungen zur Verbesserung ambulanter Versorgungsstrukturen dieser Klientel unternommen worden. 1987 wurde in Berlin die erste bundesdeutsche forensisch-psychiatrische Fachambulanz aufgebaut [4]. Ein Jahr später eröffnete Gießen eine ambulante Nachbetreuungseinheit für die in Hessen untergebrachten Patienten [5] [6]. Vom Bundesgesundheitsministerium wurden Modellerprobungen in Düren, Lippstadt, Haina, Moringen und Stralsund durchgeführt [7]. Allerdings kamen noch 1996 Nedopil u. Banzer [8] in ihrem Übersichtsartikel zu dem Resümee: „Outpatient treatment of forensic patients is still in an experimental stage in Germany.” Auch heute noch muss unverändert die forensische Nachsorge als defizitär bezeichnet werden. Von einem flächendeckenden Versorgungsangebot - so wie in den Modellerprobungen als Ergebnis formuliert - ist man noch weit entfernt.
Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen mit der Novellierung des Maßregelvollzugsgesetzes im Juni 1999 (MRVG-NW) die entlassenden Einrichtungen zur Nachsorge ihrer Patienten verpflichtet[1]. Allerdings ist man nicht in allen Punkten der zuvor befragten Expertenkommission gefolgt. Kritisiert wurde vor allem, dass man versäumt hat, die ambulante Nachsorge durch die Einrichtung selbst vorsehen zu lassen [9]. Dies wurde mit der letzten Änderung des Gesetzes (11.6.2002) nachgeholt und zudem die Finanzierung durch das Land geregelt.
Im Folgenden werden Ergebnisse eines vom Landschaftsverband Rheinland finanzierten Forschungsprojektes vorgestellt. Die derzeit insgesamt drei im Landesteil Rheinland bestehenden forensischen Ambulanzen (Düren, Essen und Langenfeld) wurden evaluiert und daraus folgernd Mindestanforderungen im Sinne von Leitlinien für eine effektive Nachsorgeambulanz formuliert.
#Material und Methoden
Ziel des Projektes war zum einen die Evaluation der Arbeit der forensischen Ambulanzen unter verschiedenen, vom Landschaftsverband Rheinland vorgegebenen Aspekten (Auswirkungen ambulanter Nachsorge auf Verweildauer, Rückfälligkeit etc.), und zum anderen sollten aus diesen Ergebnissen Mindestanforderungen an ambulante forensische Nachsorge abgeleitet werden.
Die bei dieser Untersuchung verwendeten Fragebogen (Basisdaten/A-Form und „Klinische Verlaufseinschätzung”/B-Form) waren unter Rücksprache mit den Vertretern der an der Untersuchung beteiligten Ambulanzen und in Anlehnung an den im hiesigen Institut entwickelten Prognosefragebogen [10] [11] erstellt worden. Zudem wurden ergänzende Fragestellungen aus der Basisdokumentation Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) berücksichtigt [12]. Insgesamt gingen die Daten von 95 Patienten in die Untersuchung ein (vgl. Abb. [1]). Die Basisdaten (soziodemografische Daten, Angaben zur Straftat und forensischen Vorgeschichte etc.) wurden durch Aktenanalyse gewonnen und der Fragebogen zur „Klinischen Verlaufseinschätzung” wurde jeweils von dem mit dem Probanden vertrautesten Klinikmitarbeiter (Psychologe, Arzt, Pädagoge, o. ä.) beantwortet. Sämtliche Ambulanzmitarbeiter sowie 24 Mitarbeiter komplementärer Einrichtungen mit und ohne Kontakt zu forensischen Ambulanzen und 20 Mitarbeiter der Bewährungshilfe und Führungsaufsichtsstellen wurden mittels auf die verschiedenen Untersuchungsziele abgestimmten semistrukturierten Leitfäden interviewt. Die Rückfälligkeit der beurlaubten bzw. entlassenen Probanden wurde anhand von Bundeszentralregisterauszügen erfasst. Das Instrument zur Tätigkeitsdokumentation wurde unter Berücksichtigung der Kategorien der Personalverordnung Psychiatrie [13] sowie der Angaben von Ernst u. Young [14] entwickelt. Die Erfassung erfolgte im Anschluss an einen eintägigen Probelauf an fünf aufeinander folgenden Tagen.
Untersucht wurden insgesamt 95 Probanden, die während des Zeitraums 1995 bis einschließlich 2000 entweder langfristig beurlaubt bzw. gem. § 67d Abs. 2 (1) StGB bedingt entlassen waren und unter Führungsaufsicht standen oder die im Rahmen der Entlassungsvorbereitung von den Ambulanzen zum Untersuchungsbeginn (April 2000) betreut wurden (s. Abb. [1]).
#Ergebnisse
Bezüglich der soziodemografischen Daten zum Zeitpunkt der Unterbringung ist festzustellen, dass knapp zwei Drittel der Patienten (65,7 %) ledig sind, ein Fünftel (21,2 %) ist geschieden oder getrennt lebend und lediglich jeder Achte (13 %) lebt in fester Partnerschaft. Ein Drittel der Patienten (35 %) hat keinen oder den Sonderschulabschluss, während zwei Drittel (65 %) über einen Hauptschulabschluss oder eine höhere Schulbildung verfügen. Vor dem Unterbringungsdelikt waren über die Hälfte der Patienten (58 %) arbeitslos, die übrigen war entweder in ganz- bzw. halbtägiger (15 %) oder sonstiger Beschäftigung (27 %), wie schulischer/beruflicher Ausbildung oder wechselnder Gelegenheitsarbeiten etc., tätig. Insgesamt waren 3 von 4 Patienten (73 %) mit durchschnittlich 4,5 verübten Delikten vorbestraft. Die Unterbringungsdauer lag im Durchschnitt bei 5,7 Jahren (min. 0,9 Jahre - max. 12,1 Jahre).
Diagnostisch lässt sich nahezu die Hälfte der Patienten (47,5 %) der Diagnosegruppe Schizophrenie zuordnen, knapp ein Drittel (30,7 %) der Gruppe der Persönlichkeitsstörungen ohne Minderbegabung, 10 % mit Minderbegabung. Die übrigen 7 Probanden (7,4 %) leiden unter hirnorganischen Störungen.
Je 27 Patienten (28 %) weisen als Unterbringungsdelikt entweder eine Tötung oder eine Körperverletzung auf. Etwa 16 % sind wegen eines Sexualdeliktes untergebracht. Bei den Eigentumsdelikten, die insgesamt ebenfalls knapp ⅙ der Stichprobe (15 %) ausmachen, ist der Anteil der Gewalttätigkeit im Vergleich größer. Von den übrigen 12 Patienten sind 8 wegen Brandstiftung oder sonstigen Delikten (BtmG u. a.) in der Unterbringung.
#Rückfälligkeit
Die Wiedereingliederung scheitert bei insgesamt 5 von 53 (9,4 %)[2] Patienten, wenn man nur die von einer der Ambulanzen nachbetreuten Patienten betrachtet. Nimmt man die 16 Probanden hinzu, die mittlerweile seit Jahren keinen Kontakt mehr zu einer forensischen Ambulanz haben bzw. niemals hatten, erhöht sich der Anteil auf 7 von 69 (10,2 %). Die „time at risk” aller untersuchten Patienten lag durchschnittlich bei 4œ Jahren bzw. 54,4 Monaten (s = 26, 7; Median = 51), die mit einem Delikt rückfälligen Patienten befanden sich durchschnittlich seit 3 Jahren und 4 Monaten in Freiheit (vgl. Tab. [1]). Damit liegt die Rückfallrate in der vorliegenden Untersuchung weit unter den Ergebnissen von Studien mit vergleichbarer „time at risk” [15] [16].
Der Grund für das Scheitern der Wiedereingliederung ist in allen Fällen eine erneute Delinquenz. In zwei Fällen handelt es sich um einschlägige Delikte, die beide von Patienten aus der Gruppe der 16 nicht ambulant Nachbetreuten begangen wurden. Es finden sich bis dato keine Hinweise, dass eine bedingte Entlassung auf Bewährung aus anderen Gründen widerrufen worden wäre. Bei den rückfälligen Patienten wird die Aussetzung der Maßregel einmal widerrufen (Nr. 4), bei einem Patienten wird eine erneute Unterbringung gemäß § 63 StGB angeordnet (Nr. 2), 2-mal werden Geldstrafen verhängt (Nr. 3 und 7) und ein Delikt bleibt nach Einstellung des Verfahrens wegen Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB folgenlos (Nr. 1). Zwei der drei zum Tatzeitpunkt im Status langfristiger Beurlaubung befindlichen Patienten wurden zunächst auf eine Behandlungsstation rückverlegt (Nr. 5 und 6). Der Patient mit dem Diebstahl (Nr. 7) erhielt eine Geldstrafe.
Unterbringungsdelikte | Rückfalldelikte (kursiv: einschlägige Delikte) | time at risk1 | Diagnose |
1. gefährliche Körperverletzung | Erschleichen von Leistungen | 20 (12) | hirnorganische Störung und Suchterkrankung |
2. Handel in Tateinheit mit Erwerb von BTM** | Diebstahl, räuberischer Diebstahl und Körperverletzung | 82 (74) | schizophrene Psychose und Suchterkrankung |
3. räuberischer Diebstahl und Körperverletzung* | Körperverletzung und Diebstahl | 51 (45) | schizophrene Psychose |
4. fortgesetzter sexueller Missbrauch von Kindern* | Betrug und sexueller Missbrauch von Kindern | 39 (34) | Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung |
5. versuchter Mord und fahrlässige Körperverletzung*** | Trunkenheit im Straßenverkehr | 21 | Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung |
6. Diebstahl*** | sexueller Missbrauch von Kindern | 24 | Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung |
7. Vergewaltigung*** | Diebstahl | 8 | Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung |
1 Zeitraum: Beginn der Beurlaubung bzw. der bedingten Entlassung (in Klammern) bis zum Rückfalldelikt. * von der Ambulanz nicht nachbetreute Patienten, ** Führungsaufsicht beendet, *** im Status der langfristigen Beurlaubung |
Von den 7 Rückfälligen wurden zum Zeitpunkt der neuerlichen Delinquenz vier ambulant betreut, je einer in Düren (Nr. 1, Tab. [1]) und Essen (Nr. 7, Tab. [1]) sowie zwei in Langenfeld (Nr. 5, 6, Tab. [1]). Der Anteil gefährlicher aggressiver oder sexueller Delikte liegt bei 6 % (4 von 69) für alle untersuchten Patienten bzw. 4 % (2 von 53) bei den ambulant nachbetreuten Patienten. Von den 69 langfristig beurlaubten bzw. (bedingt) entlassenen Patienten standen je etwa die Hälfte nicht (34) oder noch (35) in Kontakt mit einer der Ambulanzen. Es fällt auf, dass die lange straffrei gebliebenen Patienten häufiger der Gruppe der schizophrenen Patienten angehören. Bei allen rückfälligen Probanden dieser Störungsgruppe war bereits die Führungsaufsichtszeit abgelaufen (Nr. 2, 3, Tab. [1]). Persönlichkeitsgestörte Patienten hingegen wurden in drei von vier Fällen bereits während der Beurlaubungsphase mit einem Delikt rückfällig (Nr. 5, 6, 7, Tab. [1]).
#Tätigkeitserfassung
Die Erfassung der Tätigkeiten der Ambulanzmitarbeiter im Rahmen der Evaluation sollte u. a. Aussagen darüber zulassen:
-
inwiefern sich die verschiedenen Patientengruppen in ihrem Betreuungsaufwand voneinander unterscheiden und
-
welche personellen Ressourcen ein erfolgreich organisierter Ambulanzbetrieb überhaupt erfordert.
Bezüglich des jeweiligen Patientenstatus lassen sich deutliche Unterschiede aufzeigen: Beurlaubte Patienten benötigen in der Betreuung etwa 3-mal so viel Zeit wie entlassene Patienten und etwa 1œ-mal so viel wie Reha-Patienten; ein Verhältnis also von 1 (Entlassen) : 2 (Rehabilitationsvorbereitung) : 3 (beurlaubt). Dies zeigt sich relativ übereinstimmend in den Ergebnissen von Langenfeld u. Düren und ändert sich auch nicht durch Hinzunahme der deutlich anders organisierten Essener Ambulanz, die fast ausschließlich entlassene Patienten betreut. Bei den verschiedenen Diagnosegruppen lassen sich solche Unterschiede hingegen nicht nachweisen bzw. aufgrund der geringen Fallzahl nicht verifizieren. Einzig bei den bereits Entlassenen lässt sich eine Differenz feststellen. Danach benötigen Persönlichkeitsgestörte knapp 1œ-mal so viel Zeit wie Psychosekranke.
Die Relation zwischen patientenbezogenen Tätigkeiten, solchen ohne Status- und Diagnosebezug und Wegezeit stellt sich für die drei Ambulanzen zusammenfassend folgendermaßen dar:
patientenbezogene Tätigkeiten : andere Ambulanztätigkeiten : Wegezeit = 7 : 2 : 1.
Aufgrund der unerwarteten Homogenität in den Ergebnissen der drei forensischen Ambulanzen bezüglich des differenziellen Betreuungsaufwandes erscheint es zulässig, die Ergebnisse in Form eines Betreuungsschlüssels zusammenzufassen. Aus den Ergebnissen ergibt sich insgesamt ein Schlüssel von 1 : 12 für das akademische Personal. Differenziert nach Status ergibt sich folgendes Bild (s. Tab. [2]).
Status | patientenbezogene Tätigkeiten | inklusive Wegezeiten | inklusive aller anderen Ambulanztätigkeiten |
Rehabilitationsvorb. | 1 : 16 | 1 : 16 | 1 : 13 |
langfristig Beurlaubte | 1 : 10 | 1 : 8 | 1 : 7 |
(bedingt) Entlassene | 1 : 30 | 1 : 25 | 1 : 20 |
gesamt | 1 : 18 | 1 : 16 | 1 : 12 |
2,2 h/Patient | 2,5 h/Patient | 3,2 h/Patient |
Die nach Status differenzierten Betreuungsschlüssel spiegeln das o. g. Verhältnis von 1 : 2 : 3 für den zeitlichen Aufwand bei Entlassenen, Reha-Patienten und Beurlaubten wider. Ein Betreuungsschlüssel von 1 : 12 scheint demnach als angemessene Bemessungsgrundlage für die erfolgreiche Arbeit einer forensischen Nachsorgeambulanz insgesamt erforderlich zu sein. Freese [17] hält für eine Klientel, die zu 60 % aus psychosekranken Patienten und 40 % aus persönlichkeitsgestörten und minderbegabten Patienten besteht, einen Betreuungsschlüssel von 1 : 18 für vertretbar, bezieht sich damit aber ausschließlich auf bereits entlassene Patienten, also nur auf die Nachsorge im engeren Sinne. Dies liegt sogar noch etwas über dem von uns berechneten durchschnittlichen Betreuungsschlüssel von 1 : 20 für Entlassene, wobei die Diagnoseverteilung in unserer Stichprobe etwa der von Freese beschriebenen entspricht.
#Komplementäre Einrichtungen
Insgesamt unterscheiden sich die Antworten der nichtkooperativen Einrichtungen deutlich weniger von denen der kooperativen als ursprünglich erwartet. Aus den Ergebnissen der 24 Interviews können zusammenfassend folgende Aspekte als bedeutsam für die Akzeptanz von forensischen Patienten in nachsorgenden Einrichtungen genannt werden:
-
Offenheit der Ambulanz im Hinblick auf die Charakteristika des zu entlassenden Patienten (z. B. Unterbringungsdelikt, Störungsbild, besondere Vorkommnisse während der Unterbringungszeit),
-
Unterstützung mit Fachwissen und Erfahrung, u. a. kontinuierliche Vermittlung von allgemeinen Informationen über den Maßregelvollzug wie auch konkrete Hilfe im Einzelfall (z. B. bei der Betrachtung eines Krankheitsverlaufes im Zusammenhang mit der legalprognostischen Einschätzung),
-
im Rahmen von Helferkonferenzen eindeutige Absprachen bez. Beurlaubungskonditionen und Zuständigkeiten (z. B. zur Autonomie der Einrichtung, zu Rechten und Pflichten des Patienten),
-
die Garantie, dass ein beurlaubter Patient jederzeit und unbürokratisch in die Klinik zurückverlegt werden kann und bei Schwierigkeiten mit einem bereits entlassenen Patienten die Ambulanz Ansprechpartner bleibt,
-
die Ausarbeitung eines dem Patienten entsprechenden Kriseninterventionsplanes,
-
Angebote geeigneter Fortbildungen (vor allem zu konkreten Anleitungen des therapeutisches Vorgehens),
-
Angebote der Hospitation in der forensischen Abteilung und Supervision,
-
es muss „politische Sicherheit”, d. h. Rückhalt seitens der Politik bzw. der Regierung herrschen (vgl. [17]).
Bewährungshilfe
Da nur wenige Anregungen zur Verbesserung der Kooperation mit der forensischen Ambulanz genannt wurden, wird in der anschließenden Aufzählung noch einmal auf die Aspekte der Zusammenarbeit mit einer Ambulanz eingegangen, die aus der Sicht der Bewährungshelfer als besonders wichtig angesehen werden.
-
Bezüglich der Bündelungs- oder Netzwerkfunktion der forensischen Ambulanz sieht die Bewährungshilfe die Ambulanz als „Bindeglied” aller am Integrationsprozess eines Maßregelvollzugspatienten beteiligter Personen, da sie sowohl das Wissen über konkrete Wiedereingliederungsprobleme als auch über die allgemeine Situation in der Forensik habe.
-
Die forensische Ambulanz sollte die Bewährungshilfe nicht überfordern. („Jeder Bewährungshelfer betreut etwa 80 Probanden. Wenn wir einen Probanden alle drei bis vier Wochen treffen, ist das schon viel. Ich möchte mich nicht immer für die wenige Zeit rechtfertigen.”)
-
Eine rechtzeitige Vorbereitung der Übernahme der Betreuung von Patienten sei unabdingbar, auch wenn eine Übernahme der Verantwortung rechtlich erst ab dem Entlassungszeitpunkt möglich sei. Diese sollte in der Mitgestaltung von Beurlaubungskonditionen (z. B. Einschaltung des Fördervereins einer Bewährungshilfe zur Vermittlung von Wohnungen etc.) und Bewährungsauflagen im Rahmen von institutionalisierten Helferkonferenzen bestehen.
-
Die Bewährungshilfe und Führungsaufsichtsstelle sollten in die Konzeption der Rehabilitation eingebunden werden (Austauschen allgemeiner Informationen und Verlaufsbeobachtungen).
-
Zur besseren Loslösung von der Klinik sollte der Wirkungskreis der entlassungsvorbereitenden Ambulanz nach der Entlassung im Leben des Probanden geringer werden, doch sollte es auch einen zuverlässigen Ansprechpartner im Bedarfsfall geben.
-
Die Ambulanz sollte auf Gefährlichkeitsmomente und Überforderungssituationen hinweisen („Worauf muss ich achten?”).
-
Finanzierbare Fortbildungen sollten angeboten werden.
Diskussion
Hinsichtlich Wirksamkeit und Effizienz des forensischen Maßregelvollzugs interessiert vor allem die Frage erneuter Straffälligkeit der behandelten Patienten. Leygraf [16] gibt in seinem Übersichtsartikel Rückfallzahlen je nach Studie von 19 - 47 % an. In einer neueren Untersuchung berichten Jockusch u. Keller [15] von 10 % „gefährlicher, aggressiver und sexueller Rückfalldelikte” bei einer generellen Rückfälligkeit von 40 % nach 5-jähriger Katamnese. Die nun ermittelte, vergleichsweise niedrige Rückfallquote (9,4 %) bei einer „time-at-risk”-Phase von im Mittel 4,5 Jahren kann somit durchaus als Beleg für die Effizienz forensischer Ambulanzen interpretiert werden. Dabei bleibt zu erwähnen, dass es sich bei der hier untersuchten Stichprobe keinesfalls um „einfache” Patienten handelt. Sie setzt sich zwar hinsichtlich sozialanamnestischer Daten-, Delikt- und Diagnoseverteilung sowie Verweildauer aus einer der derzeit aus dem deutschen Maßregelvollzug entlassenen Population vergleichbaren Gruppe zusammen [11]. Für einen Großteil dieser Probanden ist aufgrund der komplexen Verstrickung von Krankheit/Störung und Kriminalität eine sonstige ambulante Betreuung kaum zu realisieren. Denn unverändert ist die Bereitschaft niedergelassener Psychiater und Psychologen zur Behandlung dieser Klientel gering [18].
Müller-Isberner et al. [19] konnten zeigen, dass die Rückfallquote der in eigener Ambulanz behandelten Patienten mit 18 % (Katamnesezeitraum: 58 Monate) deutlich niedriger lag als die der anderweitig nachbetreuten Patienten. Vergleichbare Ergebnisse finden sich auch international: Kravitz u. Kelly [20] berichteten über eine Rückfallquote von 19 % bei denjenigen Patienten, die im Mittel 68 Monate an einem speziellen ambulanten Therapieprogramm am Rush Medical College in Chicago teilgenommen hatten; die Stichprobe bestand zu zwei Dritteln aus schizophrenen Patienten. Über die Problematik einer Kontrollgruppe auch im Hinblick auf die Berechnung bzw. Einschätzung der Effektstärken von Wiedereingliederungsprogrammen hat bereits Wiederanders [21] hingewiesen. Dieser kam bei der vergleichenden Betrachtung der Nachsorge bedingt entlassener Patienten in drei US-Staaten zu dem Ergebnis, dass u. a. häufige Rückverlegungen als Ursache für die geringere Anzahl erneuter Delinquenz verantwortlich zu machen seien. Dieses Ergebnis kann durch die vorliegende Untersuchung bestätigt werden. Der geringen Rückfallrate bei den beurlaubten und entlassenen Patienten stehen etwa 50 % zumindest zeitweilige Unterbrechungen der Rehabilitationsmaßnahmen gegenüber (vgl. [20]). Als ein weiterer Beleg für die Effizienz forensischer Nachbetreuung lassen sich die Erfahrungen in Finnland anführen. Nachdem dort 1978 die Bewährungsauflagen nach Entlassung aus der gerichtlichen Psychiatrie und die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika abgeschafft worden waren, stiegen die Rückfallquoten der zuvor dort untergebrachten Patienten an [22].
Die Unterbringungsdauer der hier untersuchten Patienten liegt mit im Mittel 5,7 Jahren etwa œ Jahr unter der momentan in Deutschland errechneten mittleren Verweildauer [11]. Ob diese Verkürzung allein der Existenz funktionierender forensischer Ambulanzen zuzuschreiben ist, lässt sich kaum sicher nachweisen. Die Dauer der Unterbringung wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst - u. a. auch der „politischen Großwetterlage”. Allerdings weisen die Erfahrungen im Bundesland Hessen darauf hin, dass eine effektive Nachsorge durchaus ein bedeutender Einflussfaktor sein kann. Mit der dort seit über 10 Jahren bestehenden mobilen forensischen Spezialambulanz ist seit Mitte der 90er-Jahre die mittlere Verweildauer der hessischen Patienten im Gegensatz zum bundesweiten Trend zumindest nicht angestiegen [6].
Die Summe der hier genannten empirischen Befunde lässt durchaus den Schluss zu, dass sich die Nachsorge durch eine Fachambulanz als wichtiger Eckpfeiler in der erfolgreichen Rehabilitation forensischer Patienten erwiesen hat. Ausgehend von diesen Ergebnissen lassen sich folgende Punkte als „Mindeststandards” für eine funktionierende, spezialisierte, forensische Ambulanz formulieren:
-
Die Überleitung in die ambulante Versorgung sollte unter Einbeziehung sämtlicher Beteiligter (Strafvollstreckungskammer, Bewährungshelfer, Ambulanz, komplementäre Einrichtung, Betreuer etc.) schrittweise erfolgen. Die einzelnen Schritte richten sich nach dem psychischen Befinden des Patienten, d. h. wenn eine Verschlechterung deutlich wird, sollte zügig reagiert werden, notfalls auch eine sofortige stationäre Aufnahme in der forensischen Klinik erfolgen. Es geht um ein unbürokratisches, also flexibles und praxisnahes Vorgehen. Dies kann allein durch ein interdisziplinäres Arbeiten erreicht werden, welches durch Transparenz und Offenheit geprägt ist.
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Eine forensische Spezialambulanz sollte mobil konzipiert sein, damit in Krisensituationen vor Ort die Situation eingeschätzt werden kann. Dazu wird Personal mit speziellem forensischen Wissen benötigt, um beginnende Krisen wahrzunehmen, prognoserelevante Faktoren zu erkennen und entsprechend frühzeitig zu reagieren [23] [24]. Ziel ist die Wiedereingliederung nicht zu gefährden und einen Deliktrückfall zu verhindern.
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Die forensische Klinik mit ihrer Fachambulanz gibt ihr Wissen an die Nachsorgeeinrichtungen weiter [25]. Durch regelmäßige Supervision und Weiterbildungsangebote für die Mitarbeiter komplementärer Einrichtungen und die Bewährungshelfer wird zugleich ein Beitrag zu einem vertrauensvollen Arbeitsbündnis erbracht.
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In regelmäßig stattfindenden Helferkonferenzen sollte die Ambulanz das Case-Management übernehmen und sich abhängig vom Verlauf langsam zurückziehen. In diesen Zusammentreffen möglichst aller Beteiligter ist der bisherige Wiedereingliederungsprozess zu reflektieren, das weitere Prozedere abzusprechen und dabei stets die Frage der Gefährlichkeitsprognose neu aufzuwerfen. Anders als bei nichtforensischen, psychiatrischen Patienten kommt dieser Runde zudem eine kontrollierende Funktion zu, eine Rolle, mit der sich ein Therapeut vorab kritisch auseinander zu setzen hat.
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Der von uns berechnete durchschnittliche Betreuungsschlüssel von 1 : 12 für das akademische Personal scheint für eine funktionierende forensische Ambulanz angemessen zu sein. Bei der Teamzusammenstellung kommt es nicht in erster Linie auf die Profession, sondern die Professionalität an. Neben der fachlichen Qualifizierung sollte zudem die Bereitschaft vorhanden sein, die Aufgaben und Ziele der forensischen Psychiatrie engagiert in der Öffentlichkeit und Politik zu vertreten und mobil und flexibel zu arbeiten.
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Es bleibt anzumerken, dass bei einem großen Anteil der forensischen Patienten mehr als eine Resozialisierung benötigt wird, denn viele Patienten haben vor der Unterbringung keine eigentliche Sozialisierung erfahren. Dabei sollte weniger an den Aufbau spezieller forensischer Wohnheime gedacht werden [26]. Anzustreben ist hier eher eine integrative Lösung.
Ausblick
Unter Einhaltung dieser „Mindeststandards” führt bei der Wiedereingliederung forensischer Patienten kein Weg an einer spezialisierten Fachambulanz vorbei. Anzustreben ist zudem eine flächendeckende Nachsorge. Eine Finanzierungsgrundlage für das Bundesland Nordrhein-Westfalen ist vom Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug vorgelegt und kürzlich vom Gesetzgeber verabschiedet worden. Letztlich wird sich zeigen, ob die Finanzierung für eine Übergangsphase bis 2005 mit dem angestrebten Personalschlüssel „einer Vollkraft auf 17,5 (bedingt) entlassener Patienten” eine effektive Nachsorge an allen forensischen Standorten sicherstellt [27]. Möglicherweise eröffnen sich hierdurch neue Perspektiven, die der Entwicklung in den Niederlanden folgt: „Kurze Verweildauer - lange Nachsorge” [28]. Kürzere Verweildauern sind nicht allein wegen der Kostenersparnis zu begrüßen. Eine frühzeitige, schrittweise und intensiv vorbereitete Wiedereingliederung würde der im Maßregelvollzug auch heute noch häufig anzutreffenden Hospitalisierung entgegenwirken. Derzeit hinkt die forensische Psychiatrie in diesem Punkt den Entwicklungen der Allgemeinpsychiatrie hinterher. Je mehr es gelingt, forensische Patienten in die allgemeinpsychiatrisch-komplementären Versorgungsstrukturen zu integrieren, desto mehr Erfahrungen werden die dortigen Mitarbeiter gewinnen. Dadurch werden sich die heute noch spürbaren Berührungsängste reduzieren, was als unbedingte Voraussetzung für die Akzeptanz dieser schwierigen Arbeit in der Bevölkerung und Politik zu werten ist. Wissenschaftlich-empirische Erkenntnisse allein reichen oftmals nicht aus.
#Literatur
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-
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1 Im Bundesland Hessen gibt es seit einigen Jahren eine Regelung, wodurch der Landesrechnungshof die ambulante Nachbetreuung der Patienten in Form einer Fallpauschale finanziert. Eine gesetzliche Regelung konnte indes bislang noch nicht erreicht werden.
2 Dies beinhaltet jede neue Eintragung in das Bundeszentralregister.
Dr. med. Dieter Seifert
Institut für Forensische Psychiatrie · Rheinische Kliniken/Universitätsklinikum Essen
Virchowstraße 174
45147 Essen
Email: d.seifert@lvr.de
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