Einleitung
Die Forensische Psychiatrie steht seit nunmehr einem Jahrzehnt wiederholt im Mittelpunkt
des öffentlichen Interesses. Thematisch geht es um Therapiemöglichkeiten psychisch
kranker Rechtsbrecher, um deren Gefährlichkeitseinschätzung und vor allem um die Qualität
der Gutachten. Die Frage einer fachgerechten Nachsorge wird vergleichsweise wenig
reflektiert. Während die Allgemeinpsychiatrie mittlerweile über ein weitgehend flächendeckendes
psychosoziales Netzwerk verfügt, lässt sich dies für den forensischen Bereich bislang
nicht behaupten. Wiedereingliederung gehört zu den Grundaufgaben des psychiatrischen
Maßregelvollzugs. Die strafrechtliche Unterbringung nach § 63 StGB ist zwar primär
zeitlich unbefristet, jedoch kann das Gericht gemäß § 67e StGB jederzeit - spätestens
nach einem Jahr - prüfen, „ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung
auszusetzen ist”. Anders als im Strafvollzug tritt bei allen Patienten, die aus einer
Maßregel (§ 63 StGB) bedingt entlassen werden, automatisch Führungsaufsicht ein. Der
entlassene Patient wird einem Bewährungshelfer unterstellt, der ihm „helfend und betreuend
zur Seite” stehen soll (§ 68a Abs. 2 StGB). Hiermit war vom Gesetzgeber bei der Strafrechtsreform
1975 eine Unterstützung bei der Rückkehr in die Gesellschaft intendiert, zugleich
zielte es auf den kontrollierenden Aspekt der maximal 5 Jahre andauernden Führungsaufsicht
ab.
Im Gegensatz dazu war bislang eine ärztliche/psychotherapeutische Nachsorge von Gesetzes
wegen nicht vorgeschrieben, obwohl sich die Fachleute bereits seit vielen Jahren grundsätzlich
darüber einig sind, dass nach der stationären Unterbringung im Maßregelvollzug eine
forensisch-psychiatrische Nachsorge - u. a. auch zur Verhinderung erneuter Delinquenz
- sinnvoll wäre (u. a. [1 ]
[2 ]). Faktisch konnte dies aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht realisiert werden.
So fand Ritzel [3 ], dass in den 70er-Jahren lediglich jeder dritte Patient ambulant nachbetreut wurde
und dies zum überwiegenden Teil nicht durch einen Facharzt. Seitdem sind viel versprechende
Anstrengungen zur Verbesserung ambulanter Versorgungsstrukturen dieser Klientel unternommen
worden. 1987 wurde in Berlin die erste bundesdeutsche forensisch-psychiatrische Fachambulanz
aufgebaut [4 ]. Ein Jahr später eröffnete Gießen eine ambulante Nachbetreuungseinheit für die in
Hessen untergebrachten Patienten [5 ]
[6 ]. Vom Bundesgesundheitsministerium wurden Modellerprobungen in Düren, Lippstadt,
Haina, Moringen und Stralsund durchgeführt [7 ]. Allerdings kamen noch 1996 Nedopil u. Banzer [8 ] in ihrem Übersichtsartikel zu dem Resümee: „Outpatient treatment of forensic patients
is still in an experimental stage in Germany.” Auch heute noch muss unverändert die
forensische Nachsorge als defizitär bezeichnet werden. Von einem flächendeckenden
Versorgungsangebot - so wie in den Modellerprobungen als Ergebnis formuliert - ist
man noch weit entfernt.
Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen mit der Novellierung des Maßregelvollzugsgesetzes
im Juni 1999 (MRVG-NW) die entlassenden Einrichtungen zur Nachsorge ihrer Patienten
verpflichtet[1 ]. Allerdings ist man nicht in allen Punkten der zuvor befragten Expertenkommission
gefolgt. Kritisiert wurde vor allem, dass man versäumt hat, die ambulante Nachsorge
durch die Einrichtung selbst vorsehen zu lassen [9 ]. Dies wurde mit der letzten Änderung des Gesetzes (11.6.2002) nachgeholt und zudem
die Finanzierung durch das Land geregelt.
Im Folgenden werden Ergebnisse eines vom Landschaftsverband Rheinland finanzierten
Forschungsprojektes vorgestellt. Die derzeit insgesamt drei im Landesteil Rheinland
bestehenden forensischen Ambulanzen (Düren, Essen und Langenfeld) wurden evaluiert
und daraus folgernd Mindestanforderungen im Sinne von Leitlinien für eine effektive
Nachsorgeambulanz formuliert.
Material und Methoden
Ziel des Projektes war zum einen die Evaluation der Arbeit der forensischen Ambulanzen
unter verschiedenen, vom Landschaftsverband Rheinland vorgegebenen Aspekten (Auswirkungen
ambulanter Nachsorge auf Verweildauer, Rückfälligkeit etc.), und zum anderen sollten
aus diesen Ergebnissen Mindestanforderungen an ambulante forensische Nachsorge abgeleitet
werden.
Die bei dieser Untersuchung verwendeten Fragebogen (Basisdaten/A-Form und „Klinische
Verlaufseinschätzung”/B-Form) waren unter Rücksprache mit den Vertretern der an der
Untersuchung beteiligten Ambulanzen und in Anlehnung an den im hiesigen Institut entwickelten
Prognosefragebogen [10 ]
[11 ] erstellt worden. Zudem wurden ergänzende Fragestellungen aus der Basisdokumentation
Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN) berücksichtigt [12 ]. Insgesamt gingen die Daten von 95 Patienten in die Untersuchung ein (vgl. Abb.
[1 ]). Die Basisdaten (soziodemografische Daten, Angaben zur Straftat und forensischen
Vorgeschichte etc.) wurden durch Aktenanalyse gewonnen und der Fragebogen zur „Klinischen
Verlaufseinschätzung” wurde jeweils von dem mit dem Probanden vertrautesten Klinikmitarbeiter
(Psychologe, Arzt, Pädagoge, o. ä.) beantwortet. Sämtliche Ambulanzmitarbeiter sowie
24 Mitarbeiter komplementärer Einrichtungen mit und ohne Kontakt zu forensischen Ambulanzen
und 20 Mitarbeiter der Bewährungshilfe und Führungsaufsichtsstellen wurden mittels
auf die verschiedenen Untersuchungsziele abgestimmten semistrukturierten Leitfäden
interviewt. Die Rückfälligkeit der beurlaubten bzw. entlassenen Probanden wurde anhand
von Bundeszentralregisterauszügen erfasst. Das Instrument zur Tätigkeitsdokumentation
wurde unter Berücksichtigung der Kategorien der Personalverordnung Psychiatrie [13 ] sowie der Angaben von Ernst u. Young [14 ] entwickelt. Die Erfassung erfolgte im Anschluss an einen eintägigen Probelauf an
fünf aufeinander folgenden Tagen.
Untersucht wurden insgesamt 95 Probanden, die während des Zeitraums 1995 bis einschließlich
2000 entweder langfristig beurlaubt bzw. gem. § 67d Abs. 2 (1) StGB bedingt entlassen
waren und unter Führungsaufsicht standen oder die im Rahmen der Entlassungsvorbereitung
von den Ambulanzen zum Untersuchungsbeginn (April 2000) betreut wurden (s. Abb. [1 ]).
Abb. 1 Deskription der Gesamtstichprobe (n = 95) zum Stichtag 30.4.2001.
Ergebnisse
Bezüglich der soziodemografischen Daten zum Zeitpunkt der Unterbringung ist festzustellen,
dass knapp zwei Drittel der Patienten (65,7 %) ledig sind, ein Fünftel (21,2 %) ist
geschieden oder getrennt lebend und lediglich jeder Achte (13 %) lebt in fester Partnerschaft.
Ein Drittel der Patienten (35 %) hat keinen oder den Sonderschulabschluss, während
zwei Drittel (65 %) über einen Hauptschulabschluss oder eine höhere Schulbildung verfügen.
Vor dem Unterbringungsdelikt waren über die Hälfte der Patienten (58 %) arbeitslos,
die übrigen war entweder in ganz- bzw. halbtägiger (15 %) oder sonstiger Beschäftigung
(27 %), wie schulischer/beruflicher Ausbildung oder wechselnder Gelegenheitsarbeiten
etc., tätig. Insgesamt waren 3 von 4 Patienten (73 %) mit durchschnittlich 4,5 verübten
Delikten vorbestraft. Die Unterbringungsdauer lag im Durchschnitt bei 5,7 Jahren (min.
0,9 Jahre - max. 12,1 Jahre).
Diagnostisch lässt sich nahezu die Hälfte der Patienten (47,5 %) der Diagnosegruppe
Schizophrenie zuordnen, knapp ein Drittel (30,7 %) der Gruppe der Persönlichkeitsstörungen
ohne Minderbegabung, 10 % mit Minderbegabung. Die übrigen 7 Probanden (7,4 %) leiden
unter hirnorganischen Störungen.
Je 27 Patienten (28 %) weisen als Unterbringungsdelikt entweder eine Tötung oder eine
Körperverletzung auf. Etwa 16 % sind wegen eines Sexualdeliktes untergebracht. Bei
den Eigentumsdelikten, die insgesamt ebenfalls knapp ⅙ der Stichprobe (15 %) ausmachen,
ist der Anteil der Gewalttätigkeit im Vergleich größer. Von den übrigen 12 Patienten
sind 8 wegen Brandstiftung oder sonstigen Delikten (BtmG u. a.) in der Unterbringung.
Rückfälligkeit
Die Wiedereingliederung scheitert bei insgesamt 5 von 53 (9,4 %)[2 ] Patienten, wenn man nur die von einer der Ambulanzen nachbetreuten Patienten betrachtet.
Nimmt man die 16 Probanden hinzu, die mittlerweile seit Jahren keinen Kontakt mehr
zu einer forensischen Ambulanz haben bzw. niemals hatten, erhöht sich der Anteil auf
7 von 69 (10,2 %). Die „time at risk” aller untersuchten Patienten lag durchschnittlich
bei 4œ Jahren bzw. 54,4 Monaten (s = 26, 7; Median = 51), die mit einem Delikt rückfälligen
Patienten befanden sich durchschnittlich seit 3 Jahren und 4 Monaten in Freiheit (vgl.
Tab. [1 ]). Damit liegt die Rückfallrate in der vorliegenden Untersuchung weit unter den Ergebnissen
von Studien mit vergleichbarer „time at risk” [15 ]
[16 ].
Der Grund für das Scheitern der Wiedereingliederung ist in allen Fällen eine erneute
Delinquenz. In zwei Fällen handelt es sich um einschlägige Delikte, die beide von
Patienten aus der Gruppe der 16 nicht ambulant Nachbetreuten begangen wurden. Es finden
sich bis dato keine Hinweise, dass eine bedingte Entlassung auf Bewährung aus anderen
Gründen widerrufen worden wäre. Bei den rückfälligen Patienten wird die Aussetzung
der Maßregel einmal widerrufen (Nr. 4), bei einem Patienten wird eine erneute Unterbringung
gemäß § 63 StGB angeordnet (Nr. 2), 2-mal werden Geldstrafen verhängt (Nr. 3 und 7)
und ein Delikt bleibt nach Einstellung des Verfahrens wegen Schuldunfähigkeit gem.
§ 20 StGB folgenlos (Nr. 1). Zwei der drei zum Tatzeitpunkt im Status langfristiger
Beurlaubung befindlichen Patienten wurden zunächst auf eine Behandlungsstation rückverlegt
(Nr. 5 und 6). Der Patient mit dem Diebstahl (Nr. 7) erhielt eine Geldstrafe.
Tab. 1 Probanden mit erneuter Delinquenz (n = 7 von 69)
Unterbringungsdelikte
Rückfalldelikte (kursiv: einschlägige Delikte)
time at risk1
Diagnose
1. gefährliche Körperverletzung
Erschleichen von Leistungen
20 (12)
hirnorganische Störung und Suchterkrankung
2. Handel in Tateinheit mit Erwerb von BTM**
Diebstahl, räuberischer Diebstahl und Körperverletzung
82 (74)
schizophrene Psychose und Suchterkrankung
3. räuberischer Diebstahl und Körperverletzung*
Körperverletzung und Diebstahl
51 (45)
schizophrene Psychose
4. fortgesetzter sexueller Missbrauch von Kindern*
Betrug und sexueller Missbrauch von Kindern
39 (34)
Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung
5. versuchter Mord und fahrlässige Körperverletzung***
Trunkenheit im Straßenverkehr
21
Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung
6. Diebstahl***
sexueller Missbrauch von Kindern
24
Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung
7. Vergewaltigung***
Diebstahl
8
Persönlichkeitsstörung ohne Minderbegabung
1 Zeitraum: Beginn der Beurlaubung bzw. der bedingten Entlassung (in Klammern) bis
zum Rückfalldelikt. * von der Ambulanz nicht nachbetreute Patienten, ** Führungsaufsicht beendet, *** im Status der langfristigen
Beurlaubung
Von den 7 Rückfälligen wurden zum Zeitpunkt der neuerlichen Delinquenz vier ambulant
betreut, je einer in Düren (Nr. 1, Tab. [1 ]) und Essen (Nr. 7, Tab. [1 ]) sowie zwei in Langenfeld (Nr. 5, 6, Tab. [1 ]). Der Anteil gefährlicher aggressiver oder sexueller Delikte liegt bei 6 % (4 von
69) für alle untersuchten Patienten bzw. 4 % (2 von 53) bei den ambulant nachbetreuten
Patienten. Von den 69 langfristig beurlaubten bzw. (bedingt) entlassenen Patienten
standen je etwa die Hälfte nicht (34) oder noch (35) in Kontakt mit einer der Ambulanzen.
Es fällt auf, dass die lange straffrei gebliebenen Patienten häufiger der Gruppe der
schizophrenen Patienten angehören. Bei allen rückfälligen Probanden dieser Störungsgruppe
war bereits die Führungsaufsichtszeit abgelaufen (Nr. 2, 3, Tab. [1 ]). Persönlichkeitsgestörte Patienten hingegen wurden in drei von vier Fällen bereits
während der Beurlaubungsphase mit einem Delikt rückfällig (Nr. 5, 6, 7, Tab. [1 ]).
Abb. 2 Diagnosenverteilung Rückfällige versus Nichtrückfällige, PSt = Persönlichkeitsstörung.
Tätigkeitserfassung
Die Erfassung der Tätigkeiten der Ambulanzmitarbeiter im Rahmen der Evaluation sollte
u. a. Aussagen darüber zulassen:
inwiefern sich die verschiedenen Patientengruppen in ihrem Betreuungsaufwand voneinander
unterscheiden und
welche personellen Ressourcen ein erfolgreich organisierter Ambulanzbetrieb überhaupt
erfordert.
Bezüglich des jeweiligen Patientenstatus lassen sich deutliche Unterschiede aufzeigen:
Beurlaubte Patienten benötigen in der Betreuung etwa 3-mal so viel Zeit wie entlassene
Patienten und etwa 1œ-mal so viel wie Reha-Patienten; ein Verhältnis also von 1 (Entlassen)
: 2 (Rehabilitationsvorbereitung) : 3 (beurlaubt). Dies zeigt sich relativ übereinstimmend
in den Ergebnissen von Langenfeld u. Düren und ändert sich auch nicht durch Hinzunahme
der deutlich anders organisierten Essener Ambulanz, die fast ausschließlich entlassene
Patienten betreut. Bei den verschiedenen Diagnosegruppen lassen sich solche Unterschiede
hingegen nicht nachweisen bzw. aufgrund der geringen Fallzahl nicht verifizieren.
Einzig bei den bereits Entlassenen lässt sich eine Differenz feststellen. Danach benötigen
Persönlichkeitsgestörte knapp 1œ-mal so viel Zeit wie Psychosekranke.
Die Relation zwischen patientenbezogenen Tätigkeiten, solchen ohne Status- und Diagnosebezug
und Wegezeit stellt sich für die drei Ambulanzen zusammenfassend folgendermaßen dar:
patientenbezogene Tätigkeiten : andere Ambulanztätigkeiten : Wegezeit = 7 : 2 : 1.
Aufgrund der unerwarteten Homogenität in den Ergebnissen der drei forensischen Ambulanzen
bezüglich des differenziellen Betreuungsaufwandes erscheint es zulässig, die Ergebnisse
in Form eines Betreuungsschlüssels zusammenzufassen. Aus den Ergebnissen ergibt sich
insgesamt ein Schlüssel von 1 : 12 für das akademische Personal. Differenziert nach
Status ergibt sich folgendes Bild (s. Tab. [2 ]).
Tab. 2 Betreuungsschlüssel differenziert nach Patientengruppen und Teiltätigkeiten
Status
patientenbezogene Tätigkeiten
inklusive Wegezeiten
inklusive aller anderen Ambulanztätigkeiten
Rehabilitationsvorb.
1 : 16
1 : 16
1 : 13
langfristig Beurlaubte
1 : 10
1 : 8
1 : 7
(bedingt) Entlassene
1 : 30
1 : 25
1 : 20
gesamt
1 : 18
1 : 16
1 : 12
2,2 h/Patient
2,5 h/Patient
3,2 h/Patient
Die nach Status differenzierten Betreuungsschlüssel spiegeln das o. g. Verhältnis
von 1 : 2 : 3 für den zeitlichen Aufwand bei Entlassenen, Reha-Patienten und Beurlaubten
wider. Ein Betreuungsschlüssel von 1 : 12 scheint demnach als angemessene Bemessungsgrundlage
für die erfolgreiche Arbeit einer forensischen Nachsorgeambulanz insgesamt erforderlich
zu sein. Freese [17 ] hält für eine Klientel, die zu 60 % aus psychosekranken Patienten und 40 % aus persönlichkeitsgestörten
und minderbegabten Patienten besteht, einen Betreuungsschlüssel von 1 : 18 für vertretbar,
bezieht sich damit aber ausschließlich auf bereits entlassene Patienten, also nur
auf die Nachsorge im engeren Sinne. Dies liegt sogar noch etwas über dem von uns berechneten
durchschnittlichen Betreuungsschlüssel von 1 : 20 für Entlassene, wobei die Diagnoseverteilung
in unserer Stichprobe etwa der von Freese beschriebenen entspricht.
Komplementäre Einrichtungen
Insgesamt unterscheiden sich die Antworten der nichtkooperativen Einrichtungen deutlich
weniger von denen der kooperativen als ursprünglich erwartet. Aus den Ergebnissen
der 24 Interviews können zusammenfassend folgende Aspekte als bedeutsam für die Akzeptanz
von forensischen Patienten in nachsorgenden Einrichtungen genannt werden:
Offenheit der Ambulanz im Hinblick auf die Charakteristika des zu entlassenden Patienten
(z. B. Unterbringungsdelikt, Störungsbild, besondere Vorkommnisse während der Unterbringungszeit),
Unterstützung mit Fachwissen und Erfahrung, u. a. kontinuierliche Vermittlung von
allgemeinen Informationen über den Maßregelvollzug wie auch konkrete Hilfe im Einzelfall
(z. B. bei der Betrachtung eines Krankheitsverlaufes im Zusammenhang mit der legalprognostischen
Einschätzung),
im Rahmen von Helferkonferenzen eindeutige Absprachen bez. Beurlaubungskonditionen
und Zuständigkeiten (z. B. zur Autonomie der Einrichtung, zu Rechten und Pflichten
des Patienten),
die Garantie, dass ein beurlaubter Patient jederzeit und unbürokratisch in die Klinik
zurückverlegt werden kann und bei Schwierigkeiten mit einem bereits entlassenen Patienten
die Ambulanz Ansprechpartner bleibt,
die Ausarbeitung eines dem Patienten entsprechenden Kriseninterventionsplanes,
Angebote geeigneter Fortbildungen (vor allem zu konkreten Anleitungen des therapeutisches
Vorgehens),
Angebote der Hospitation in der forensischen Abteilung und Supervision,
es muss „politische Sicherheit”, d. h. Rückhalt seitens der Politik bzw. der Regierung
herrschen (vgl. [17 ]).
Bewährungshilfe
Da nur wenige Anregungen zur Verbesserung der Kooperation mit der forensischen Ambulanz
genannt wurden, wird in der anschließenden Aufzählung noch einmal auf die Aspekte
der Zusammenarbeit mit einer Ambulanz eingegangen, die aus der Sicht der Bewährungshelfer
als besonders wichtig angesehen werden.
Bezüglich der Bündelungs- oder Netzwerkfunktion der forensischen Ambulanz sieht die
Bewährungshilfe die Ambulanz als „Bindeglied” aller am Integrationsprozess eines Maßregelvollzugspatienten
beteiligter Personen, da sie sowohl das Wissen über konkrete Wiedereingliederungsprobleme
als auch über die allgemeine Situation in der Forensik habe.
Die forensische Ambulanz sollte die Bewährungshilfe nicht überfordern. („Jeder Bewährungshelfer
betreut etwa 80 Probanden. Wenn wir einen Probanden alle drei bis vier Wochen treffen,
ist das schon viel. Ich möchte mich nicht immer für die wenige Zeit rechtfertigen.”)
Eine rechtzeitige Vorbereitung der Übernahme der Betreuung von Patienten sei unabdingbar,
auch wenn eine Übernahme der Verantwortung rechtlich erst ab dem Entlassungszeitpunkt
möglich sei. Diese sollte in der Mitgestaltung von Beurlaubungskonditionen (z. B.
Einschaltung des Fördervereins einer Bewährungshilfe zur Vermittlung von Wohnungen
etc.) und Bewährungsauflagen im Rahmen von institutionalisierten Helferkonferenzen
bestehen.
Die Bewährungshilfe und Führungsaufsichtsstelle sollten in die Konzeption der Rehabilitation
eingebunden werden (Austauschen allgemeiner Informationen und Verlaufsbeobachtungen).
Zur besseren Loslösung von der Klinik sollte der Wirkungskreis der entlassungsvorbereitenden
Ambulanz nach der Entlassung im Leben des Probanden geringer werden, doch sollte es
auch einen zuverlässigen Ansprechpartner im Bedarfsfall geben.
Die Ambulanz sollte auf Gefährlichkeitsmomente und Überforderungssituationen hinweisen
(„Worauf muss ich achten?”).
Finanzierbare Fortbildungen sollten angeboten werden.
Diskussion
Hinsichtlich Wirksamkeit und Effizienz des forensischen Maßregelvollzugs interessiert
vor allem die Frage erneuter Straffälligkeit der behandelten Patienten. Leygraf [16 ] gibt in seinem Übersichtsartikel Rückfallzahlen je nach Studie von 19 - 47 % an.
In einer neueren Untersuchung berichten Jockusch u. Keller [15 ] von 10 % „gefährlicher, aggressiver und sexueller Rückfalldelikte” bei einer generellen
Rückfälligkeit von 40 % nach 5-jähriger Katamnese. Die nun ermittelte, vergleichsweise
niedrige Rückfallquote (9,4 %) bei einer „time-at-risk”-Phase von im Mittel 4,5 Jahren
kann somit durchaus als Beleg für die Effizienz forensischer Ambulanzen interpretiert
werden. Dabei bleibt zu erwähnen, dass es sich bei der hier untersuchten Stichprobe
keinesfalls um „einfache” Patienten handelt. Sie setzt sich zwar hinsichtlich sozialanamnestischer
Daten-, Delikt- und Diagnoseverteilung sowie Verweildauer aus einer der derzeit aus
dem deutschen Maßregelvollzug entlassenen Population vergleichbaren Gruppe zusammen
[11 ]. Für einen Großteil dieser Probanden ist aufgrund der komplexen Verstrickung von
Krankheit/Störung und Kriminalität eine sonstige ambulante Betreuung kaum zu realisieren.
Denn unverändert ist die Bereitschaft niedergelassener Psychiater und Psychologen
zur Behandlung dieser Klientel gering [18 ].
Müller-Isberner et al. [19 ] konnten zeigen, dass die Rückfallquote der in eigener Ambulanz behandelten Patienten
mit 18 % (Katamnesezeitraum: 58 Monate) deutlich niedriger lag als die der anderweitig
nachbetreuten Patienten. Vergleichbare Ergebnisse finden sich auch international:
Kravitz u. Kelly [20 ] berichteten über eine Rückfallquote von 19 % bei denjenigen Patienten, die im Mittel
68 Monate an einem speziellen ambulanten Therapieprogramm am Rush Medical College
in Chicago teilgenommen hatten; die Stichprobe bestand zu zwei Dritteln aus schizophrenen
Patienten. Über die Problematik einer Kontrollgruppe auch im Hinblick auf die Berechnung
bzw. Einschätzung der Effektstärken von Wiedereingliederungsprogrammen hat bereits
Wiederanders [21 ] hingewiesen. Dieser kam bei der vergleichenden Betrachtung der Nachsorge bedingt
entlassener Patienten in drei US-Staaten zu dem Ergebnis, dass u. a. häufige Rückverlegungen
als Ursache für die geringere Anzahl erneuter Delinquenz verantwortlich zu machen
seien. Dieses Ergebnis kann durch die vorliegende Untersuchung bestätigt werden. Der
geringen Rückfallrate bei den beurlaubten und entlassenen Patienten stehen etwa 50
% zumindest zeitweilige Unterbrechungen der Rehabilitationsmaßnahmen gegenüber (vgl.
[20 ]). Als ein weiterer Beleg für die Effizienz forensischer Nachbetreuung lassen sich
die Erfahrungen in Finnland anführen. Nachdem dort 1978 die Bewährungsauflagen nach
Entlassung aus der gerichtlichen Psychiatrie und die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika
abgeschafft worden waren, stiegen die Rückfallquoten der zuvor dort untergebrachten
Patienten an [22 ].
Die Unterbringungsdauer der hier untersuchten Patienten liegt mit im Mittel 5,7 Jahren
etwa œ Jahr unter der momentan in Deutschland errechneten mittleren Verweildauer [11 ]. Ob diese Verkürzung allein der Existenz funktionierender forensischer Ambulanzen
zuzuschreiben ist, lässt sich kaum sicher nachweisen. Die Dauer der Unterbringung
wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst - u. a. auch der „politischen Großwetterlage”.
Allerdings weisen die Erfahrungen im Bundesland Hessen darauf hin, dass eine effektive
Nachsorge durchaus ein bedeutender Einflussfaktor sein kann. Mit der dort seit über
10 Jahren bestehenden mobilen forensischen Spezialambulanz ist seit Mitte der 90er-Jahre
die mittlere Verweildauer der hessischen Patienten im Gegensatz zum bundesweiten Trend
zumindest nicht angestiegen [6 ].
Die Summe der hier genannten empirischen Befunde lässt durchaus den Schluss zu, dass
sich die Nachsorge durch eine Fachambulanz als wichtiger Eckpfeiler in der erfolgreichen
Rehabilitation forensischer Patienten erwiesen hat. Ausgehend von diesen Ergebnissen
lassen sich folgende Punkte als „Mindeststandards” für eine funktionierende, spezialisierte,
forensische Ambulanz formulieren:
Die Überleitung in die ambulante Versorgung sollte unter Einbeziehung sämtlicher Beteiligter
(Strafvollstreckungskammer, Bewährungshelfer, Ambulanz, komplementäre Einrichtung,
Betreuer etc.) schrittweise erfolgen. Die einzelnen Schritte richten sich nach dem
psychischen Befinden des Patienten, d. h. wenn eine Verschlechterung deutlich wird,
sollte zügig reagiert werden, notfalls auch eine sofortige stationäre Aufnahme in
der forensischen Klinik erfolgen. Es geht um ein unbürokratisches, also flexibles
und praxisnahes Vorgehen. Dies kann allein durch ein interdisziplinäres Arbeiten erreicht
werden, welches durch Transparenz und Offenheit geprägt ist.
Eine forensische Spezialambulanz sollte mobil konzipiert sein, damit in Krisensituationen
vor Ort die Situation eingeschätzt werden kann. Dazu wird Personal mit speziellem
forensischen Wissen benötigt, um beginnende Krisen wahrzunehmen, prognoserelevante
Faktoren zu erkennen und entsprechend frühzeitig zu reagieren [23 ]
[24 ]. Ziel ist die Wiedereingliederung nicht zu gefährden und einen Deliktrückfall zu
verhindern.
Die forensische Klinik mit ihrer Fachambulanz gibt ihr Wissen an die Nachsorgeeinrichtungen
weiter [25 ]. Durch regelmäßige Supervision und Weiterbildungsangebote für die Mitarbeiter komplementärer
Einrichtungen und die Bewährungshelfer wird zugleich ein Beitrag zu einem vertrauensvollen
Arbeitsbündnis erbracht.
In regelmäßig stattfindenden Helferkonferenzen sollte die Ambulanz das Case-Management
übernehmen und sich abhängig vom Verlauf langsam zurückziehen. In diesen Zusammentreffen
möglichst aller Beteiligter ist der bisherige Wiedereingliederungsprozess zu reflektieren,
das weitere Prozedere abzusprechen und dabei stets die Frage der Gefährlichkeitsprognose
neu aufzuwerfen. Anders als bei nichtforensischen, psychiatrischen Patienten kommt
dieser Runde zudem eine kontrollierende Funktion zu, eine Rolle, mit der sich ein
Therapeut vorab kritisch auseinander zu setzen hat.
Der von uns berechnete durchschnittliche Betreuungsschlüssel von 1 : 12 für das akademische
Personal scheint für eine funktionierende forensische Ambulanz angemessen zu sein.
Bei der Teamzusammenstellung kommt es nicht in erster Linie auf die Profession, sondern
die Professionalität an. Neben der fachlichen Qualifizierung sollte zudem die Bereitschaft
vorhanden sein, die Aufgaben und Ziele der forensischen Psychiatrie engagiert in der
Öffentlichkeit und Politik zu vertreten und mobil und flexibel zu arbeiten.
Es bleibt anzumerken, dass bei einem großen Anteil der forensischen Patienten mehr
als eine Resozialisierung benötigt wird, denn viele Patienten haben vor der Unterbringung
keine eigentliche Sozialisierung erfahren. Dabei sollte weniger an den Aufbau spezieller
forensischer Wohnheime gedacht werden [26 ]. Anzustreben ist hier eher eine integrative Lösung.
Ausblick
Unter Einhaltung dieser „Mindeststandards” führt bei der Wiedereingliederung forensischer
Patienten kein Weg an einer spezialisierten Fachambulanz vorbei. Anzustreben ist zudem
eine flächendeckende Nachsorge. Eine Finanzierungsgrundlage für das Bundesland Nordrhein-Westfalen
ist vom Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug vorgelegt und kürzlich vom Gesetzgeber
verabschiedet worden. Letztlich wird sich zeigen, ob die Finanzierung für eine Übergangsphase
bis 2005 mit dem angestrebten Personalschlüssel „einer Vollkraft auf 17,5 (bedingt)
entlassener Patienten” eine effektive Nachsorge an allen forensischen Standorten sicherstellt
[27 ]. Möglicherweise eröffnen sich hierdurch neue Perspektiven, die der Entwicklung in
den Niederlanden folgt: „Kurze Verweildauer - lange Nachsorge” [28 ]. Kürzere Verweildauern sind nicht allein wegen der Kostenersparnis zu begrüßen.
Eine frühzeitige, schrittweise und intensiv vorbereitete Wiedereingliederung würde
der im Maßregelvollzug auch heute noch häufig anzutreffenden Hospitalisierung entgegenwirken.
Derzeit hinkt die forensische Psychiatrie in diesem Punkt den Entwicklungen der Allgemeinpsychiatrie
hinterher. Je mehr es gelingt, forensische Patienten in die allgemeinpsychiatrisch-komplementären
Versorgungsstrukturen zu integrieren, desto mehr Erfahrungen werden die dortigen Mitarbeiter
gewinnen. Dadurch werden sich die heute noch spürbaren Berührungsängste reduzieren,
was als unbedingte Voraussetzung für die Akzeptanz dieser schwierigen Arbeit in der
Bevölkerung und Politik zu werten ist. Wissenschaftlich-empirische Erkenntnisse allein
reichen oftmals nicht aus.