PPH 2003; 9(4): 181
DOI: 10.1055/s-2003-41391
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

Ulrike Villinger
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Publication Date:
19 August 2003 (online)

In dem Wohnheim, in dem ich arbeite, auf dem Gelände eines psychiatrischen Krankenhauses gelegen, wurden vor knapp fünf Jahren nach langen Diskussionen unter den Mitarbeitern die ersten chronisch mehrfachgeschädigten Alkoholiker aufgenommen. Der Anfang war für alle Beteiligten nicht einfach. Die Mehrzahl der Mitarbeiter war die Arbeit mit Abhängigkeitskranken nicht gewöhnt, es herrschten Vorbehalte, ob man ihnen etwas nützen könnte. Es gab unzählige Konflikte unter den Bewohnern, die vermutlich die Unsicherheiten und Konflikte im Team abbildeten. Die Gruppe besteht derzeit aus 16 Bewohnern - 15 Männern und einer Frau.

Gemeinsam ist allen Bewohnern, dass sie durch ihre Alkoholerkrankung alle sozialen Bezüge vollständig oder beinahe vollständig verloren haben. Sie haben kaum Kontakt zu Angehörigen oder Freunden aus früheren Zeiten, keine Wohnung, keine Arbeit, der Führerschein ist weg. Sie leiden unter vielfältigen Folgeschäden ihrer Grunderkrankung, Krebs, Polyneuropathie, manche unter demenziellen Symptomen oder Gleichgewichtsstörungen.

Die Mehrzahl der Bewohner besucht täglich die Arbeitstherapie, es gibt ein darüber hinaus gehendes tagesstrukturierendes Angebot, eine psychoedukative Gruppe und Freizeitaktivitäten. Mit jedem Bewohner wurde ein individuelles Vorgehen im Fall von bemerktem Alkoholkonsum ausgehandelt. Etwa die Hälfte der Bewohner hat sich in dem stark strukturierten Milieu in solchem Umfang stabilisiert, dass vor zwei Jahren damit begonnen wurde, Alternativen für sie zu suchen. Die Zähne sind saniert, es wurden persönliche Methoden entwickelt, die dazu beitragen, mit dem Geld auszukommen. „Hier gefällt es mir zwar nicht, aber hier habe ich gelernt, wieder jeden Tag aufzustehen, hier werde ich erwartet, und das tut mir gut. Ich brauche ein Einzelzimmer in einer alkoholfreien WG; wenn ich allein wohne, fällt mir die Decke auf den Kopf. Und ich brauche Arbeit.” Dies ist die Aussage eines Bewohners.

Und hier beginnt das Problem: Es ist uns bisher nicht gelungen, in den jeweiligen Herkunftsorten eine etwas weniger geschützte Wohnmöglichkeit, z. B. Betreutes Wohnen, zu finden und gleichzeitig ein tagestrukturierendes Angebot wie einen Platz in einer Tagesstätte oder Werkstatt. Dies bildet jedoch aus unserer Sicht und aus der Sicht der Bewohner eine wesentliche Voraussetzung für zukünftige Stabilität. Und hier droht die weitere Gefahr, dass Bewohner, die eigentlich bei uns längst ausziehen sollten, aber nicht wagen können, sich in die Leere zu begeben, in ein bis zwei weiteren Jahren den Mut verloren haben, einen solchen Schritt zu riskieren - es ist ja auch ganz bequem bei uns.

In den dafür vorgesehenen Gremien oder Belegungskonferenzen stellt sich heraus, dass die Mitarbeiter von Werkstätten und Tagesstätten für psychisch Kranke möglicherweise dieselben Vorbehalte gegenüber Alkoholikern haben, die in unserem Heim vor einigen Jahren bestimmend waren und die auch sonst weit verbreitet sind. Sie halten es für nicht möglich, alkoholkranken Menschen einen Platz anzubieten.

Daran knüpfen sich Fragen: Warum werde ich von einer Kollegin gefragt, ob sich die 15. Entgiftung bei einem Alkoholiker „lohne”? Ist es denn so sinnvoll, im komplementären Bereich Spezialangebote für jeden kleinen Adressatenkreis zu schaffen, sechs Plätze für diese, zehn Plätze für jene Personengruppe, ein Angebot für über 65-Jährige, verbunden mit den entsprechenden Ausschlusskriterien? Oder bildet die Versorgungsregion den geeigneteren Bezugsrahmen? Spielt denn bei schwer chronisch kranken Menschen, die Hilfe brauchen, die ursprüngliche Diagnose wirklich noch eine große Rolle, so dass einige von der Versorgung ausgeschlossen werden können?

„Die vergessene Mehrheit” heißt ein Buch, das Günther Wienberg 1992 zur Versorgungssituation abhängigkeitskranker Menschen herausgegeben hat. Es hat sich seither manches geändert, jedoch aus eigenem Erleben heraus behaupte ich, es ist nicht genug - auch nicht in unseren Köpfen!

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