Im Mai 1998 erfolgte erstmals die notfallmäßige stationäre Aufnahme der damals 79jährigen
Frau Z. in unserer Klinik. Zu diesem Zeitpunkt bestand eine Vigilanzminderung, eine
Gang- und Standataxie sowie eine Visusverschlechterung mit Gesichtsfeldausfällen.
Die internistisch-neurologische Untersuchung ergab folgenden Befund: Knöchelödeme
an beiden Unterschenkeln, eine exsikkierte Zunge, eine diskrete Anisokorie, rechts
größer als links, eine verlangsamte indirekte und direkte Pupillenreaktion beidseits,
eine inkomplette Abducensparese rechts, eine linksseitige Bulbusfehlstellung, abgeschwächte
Muskeleigenreflexe und eine generalisierte Hyperalgesie am ganzen Körper.
Psychopathologisch war die Patientin unscharf zu Ort, Zeit und Person orientiert.
Die Konzentration und die Aufmerksamkeit waren reduziert. Der formale Gedankengang
war verlangsamt. Keine Hinweise auf Wahngedanken oder Halluzinationen. Die Stimmung
war traurig und es bestand eine Antriebsschwäche. Suizidgedanken hatte Frau Z. bei
der Aufnahme nicht.
Fremdanamnestisch war zu erfahren, dass Frau Z. bereits seit dem Jahr 1975 mehrfach
stationär in verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern behandelt wurde. Seit 1997
lag bei Frau Z. zusätzlich ein Diabetes mellitus vor.
Seit 1992 lebte Frau Z. - wegen ihrer therapieresistenten Depression - in einem Alten-
und Pflegeheim. Das Pflegepersonal berichtete, dass die Patientin kurz vor der Aufnahme
schwallartig erbrochen habe. Auffällig seien ferner eine Polydipsie sowie plötzliche
Verwirrtheitszustände gewesen.
Die durchgeführte kraniale Kernspintomographie ergab den Verdacht auf ein Makroadenom
der Hypophyse, mit einer intrasellären, rechts parasellären und suprasellären Ausbreitung
sowie mit erheblichen Impressionen des Mesencephalons [Abb 1]. Durch die Tumorausdehnung (5x6 cm) hatte sich ein Hydrocephalus internus mit Liquoraustritt
überwiegend rechts frontal entwickelt. Das zusätzlich abgeleitete EEG wies ein q-Hirnstrombild
rechts fronto-temporo-parietal auf. Daraufhin wurde die Patientin sofort in die benachbarte
neurochirurgische Abteilung verlegt, in der auf Grund einer bestehenden Inoperabilität
ein biventrikulär-peritonealer Liquorshunt angelegt wurde. Hormonelle Untersuchungen
ergaben eine leichtgradige Insuffizienz der somatotropen Hormone und eine auffällige
Insuffizienz der gonadotropen Hormone. Prolaktin basal, ACTH basal, Cortisol basal
und die thyreotropen Hormone waren regelrecht. Die konsiliarisch hinzugezogenen Endokrinologen
empfahlen keine Hormonsubstitution. Vier Monate später verstarb die Patientin an einer
Pneumonie.
Vorgeschichte
Im Januar 1975 war die Patientin zum ersten Mal für drei Monate in einem psychiatrischen
Krankenhaus unter der Diagnose „reaktive Depression” behandelt worden. Die damals
56jährige Frau Z. berichtete über depressive Stimmungsschwankungen, Unruhezustände,
Ängste sowie eine körperliche Kraftlosigkeit. Als Auslöser für die reaktive Depression
wurde der plötzliche Tod der Mutter sowie eine neu aufgetretene Herzinsuffizienz verantwortlich
gemacht. Es erfolgte eine medikamentöse Therapie mit dem Antidepressivum Nortriptylin
(75 mg/d).
Zwei Jahre später wurde Frau Z. zum zweiten Mal auf Grund einer depressiv-ängstlichen
Symptomatik hospitalisiert. Zusätzlich berichtete die Patientin über „Kleinheitsideen”
und „Versagensängste”. Zu dieser Zeit war sie noch als Verkäuferin angestellt und
lehnte eine vorzeitige Berentung ab. Die Entlassungsmedikation lautete: 100 mg Clomipramin,
120 mg Pipamperon und 4 mg Biperiden pro Tag. Die Entlassungsdiagnose lautete „senile
Involutionsdepression”.
Im Jahre 1992 wurde die inzwischen 73jährige Frau Z. zum dritten Mal in eine psychiatrische
Klinik mit der Diagnose „Involutionsdepression” aufgenommen. Die Patientin war zu
dieser Zeit seit 7 Jahren berentet, wohnte inzwischen in einem Seniorenheim und wurde
in allen Angelegenheiten gesetzlich betreut. Sie litt an einer morgendlichen Antriebsschwäche,
Zukunftsängsten, depressiven Stimmungsschwankungen, frei flottierenden Ängsten, Miktionsbeschwerden,
Obstipationen, Gehstörungen sowie an einem Tremor am ganzen Körper.
Bei der internistisch-neurologischen Untersuchung fielen neben einer Adipositas, diskrete
Knöchelödeme an beiden Unterschenkeln, ein beidseitiger Hallux valgus sowie ein unsicheres
Gangbild auf.
Psychopathologisch war Frau Z. bei der Aufnahme 1992 zu Ort, Zeit, Person sowie zur
Situation orientiert und bewusstseinsklar. Der Antrieb war vermindert, ihre Stimmung
wirkte depressiv und die Schwingungsfähigkeit war stark eingeschränkt. Der formale
Gedankengang war verlangsamt, Wahngedanken oder Halluzinationen waren nicht eruierbar.
Die Konzentration und die Aufmerksamkeit waren reduziert. Es ergaben sich keine Hinweise
für eine akute Suizidalität.
Die weiterführende Diagnostik bestehend aus Blutlabor, EKG und EEG war bis auf eine
leicht erhöhte BSG von 32/46 mm unauffällig.
Die Patientin wurde zunächst mit 150 mg Maprotilin behandelt und im weiteren stationären
Klinikaufenthalt auf Perphenazin und Promethazin umgestellt. Die Entlassungsmedikation
nach dreimonatigem Klinikaufenthalt lautete 2 mg Perphenazin, 12,5 mg Triamteren,
100 ug Levothyroxin pro Tag.
1994 kam es zum vierten psychiatrischen Klinikaufenthalt. Etwa drei Monate vor der
Aufnahme in die Klinik waren dem niedergelassenen Nervenarzt plötzlich einschießende
Körperbewegungen aufgefallen, die mit 2 mg Biperiden pro Tag behandelt wurden. Zusätzlich
traten, besonders nachts, mehrfach Verwirrtheitszustände bei Frau Z. auf. Psychopathologisch
fielen bei der Aufnahme neben einer Antriebsarmut, eine starke psychomotorische Unruhe,
eine depressive Stimmungslage sowie inhaltliche Denkstörungen in Form von Beeinträchtigungswahn
mit religiösen Themen auf. Bei der internistisch-neurologischen Untersuchung ergaben
sich bis auf eine leichte Dysdiadochokinese und ein kleinschrittiges, unsicheres Gangbild
keine Pathologika. Die Patientin wurde nach unauffälligem Labor und EKG mit den Diagnosen
„Struma diffusa” und „Depression im Senium” nach einer Woche Klinikaufenthalt mit
der Medikation 40 mg Pipamperon und 100 μg L-Thyroxin pro Tag entlassen.
Im Jahre 1996 stellte sich die Patientin nochmals ambulant bei einem niedergelassenen
Nervenarzt vor und berichtete über starke Ängste, depressive Stimmungszustände mit
Suizidalität und inhaltliche Denkstörungen in Form von Beobachtungswahn. Sie gab an,
aus kleinen Kugeln beobachtet und fotografiert zu werden. Ein durchgeführtes EEG erbrachte
ein unauffälliges Hirnstrombild mit einem α-Grundrhythmus.
Diskussion
Meist wird die Diagnose eines Hypophysenadenoms erst bei hormonellen Veränderungen
oder Gesichtsfeldausfällen in Betracht gezogen. Es muss aber bedacht werden, dass
Hypophysenadenome auch psychiatrische Symptome hervorrufen können. In weiteren Kasuistiken
wird berichtet, dass als Erstmanifestation eines Hypophysenadenoms psychiatrische
Symptome auftreten können. In unserem Beispiel wurde 23 Jahre nach dem ersten Auftreten
psychiatrischer Symptome 1998 bei Frau Z. ein Hirntumor diagnostiziert. Erste neurologische
Symptome bestanden seit 1992. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurde in den letzten
Lebensjahren der Patientin die psychiatrische Symptomentwicklung durch das Tumorwachstum
und die dadurch bedingten Störungen negativ beeinflusst. Es kann nicht ausgeschlossen
werden, dass bei frühzeitiger Sicherung der Diagnose die Erfolgsaussichten einer Operation
besser gewesen wären.
Es sollte daher bei jedem Menschen, der erstmalig psychiatrisch erkrankt, bedacht
werden, ob eine weitergehende Diagnostik mittels Kernspintomographie oder Computertomographie
des Kopfes durchgeführt werden muss. Diese Erwägungen sind insbesondere dann unverzichtbar,
wenn somatoforme Beschwerden vorliegen und erst recht, wenn bei der klinischen Untersuchung
Auffälligkeiten vorhanden sind wie etwa die Ataxie und der Tremor bei Frau Z.
Höchste Aufmerksamkeit ist dann geboten, wenn bei bekannter psychiatrischer Diagnose
zusätzliche, in unserem Beispiel neurologische Symptome auftreten. Gerade wenn bereits
eine psychiatrische Erkrankung vordiagnostiziert wurde und neue, unspezifische und
Krankheitszeichen zusätzlich auftreten, besteht die Gefahr, den Symptomenkomplex unter
die bestehende psychiatrische Diagnose zu subsumieren. Dies hätte dann zur Konsequenz,
dass neu entstandene Erkrankungen nicht diagnostiziert werden und therapeutische Möglichkeiten
nicht genutzt werden können.
Fazit
Der hier geschilderte Fall bestätigt eindrücklich, dass gewissenhafte und umfassende
Ausschlussdiagnostik durchgeführt werden muss, bevor eine psychiatrische Diagnose
gestellt werden darf. Dies gilt auch dann, wenn bei bekannter psychiatrischer Erkrankung
zusätzliche Symptome auftreten.