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DOI: 10.1055/s-2003-44563
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Denken auf Chipkarte
Publication History
Publication Date:
21 November 2003 (online)
In Anbetracht zu der bevorstehenden Jahreszeit mit Gänsebraten und Plätzchen passt die Meldung, dass 7 % der Mädchen und 10 % der Jungen an Übergewicht leiden. Jedes Jahr entstehen in Deutschland nach Schätzung der Gesundheitsexperten Kosten von rund 70 Milliarden Euro durch falsche Ernährung. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits vor 2 Jahren Alarm geschlagen, dass die Fettleibigkeit von Jugendlichen Züge einer Epidemie trägt. Aufklärungskampagnen sollen nun Eltern und Kindern gesunde Ernährung näher bringen. Das Verbraucherministerium hat bereits im letzten Jahr damit begonnen, Fortbildungen für Erzieher in Kindertagesstätten zu finanzieren (!). Schließlich sei für viele Kinder das Essen in der „Kita” ihre Hauptmahlzeit. Wenn sie rechtzeitig lernen, wie gesunde Ernährung aussähe, sei das die beste Prävention. Ernährungsthemen sollten möglichst in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen werden. Praxen sollten sich speziell auf Ernährungsfragen fokussieren, um Hilfe suchende Eltern mit Therapieprogrammen zu unterstützen. Inwieweit Krankenkassen zur Finanzierung herangezogen werden können, muss natürlich noch geklärt werden.
Vor einiger Zeit sah ich im Fernsehen zu diesem Thema einen Beitrag über die psychische Belastung dicker Kinder durch ihre Umwelt. Herzerweichend sprachen sie über die Probleme, schicke Kleidung in XXL zu bekommen, über gemeine Sprüche der Klassenkameraden und natürlich die gesundheitliche Beeinträchtigung durch ihr Gewicht. Eltern und Kinder schluchzten in die Kamera, und ich bekam einen dicken Hals.
Nicht erst seit dem Nursebottle-Syndrom sind die Zahnärzte mit den Schäden falscher Ernährung konfrontiert. Karies und parodontale Erkrankung sind mit Sicherheit kein gottgewolltes Schicksal, sondern eher Ausdruck einer - trotz Beauty- und For-ever-young-Trend - laxen Haltung zu sich und dem eigenen Körper. Die Medien, ob nun Zeitschrift oder Fernsehen, sind täglich voll von Gesundheitstipps. Im Internet kann sich jeder Interessierte über Prävention und Prophylaxe informieren. Somit ist also seit Jahren hinlänglich bekannt, dass Zucker Karies verursacht, Fett dick macht und dass Rauchen Krebs fördernd ist. Offensichtlich ist es aber einfacher, Konzerne zu verklagen - weil es nicht auf der Packung steht, dass man vom Genuss ihrer Produkte krank werden kann -, als einmal den gesunden Menschenverstand zu gebrauchen.
Ach ja, der mündige, selbstverantwortliche Bürger, von der Politik gerade wieder neu entdeckt zur Lösung der brisant anstehenden Probleme! Nur der Wunsch oder die Bereitschaft nach Mündigkeit und Selbstverantwortung scheinen augenblicklich beim Bürger nicht sehr intensiv ausgeprägt zu sein, vor allem wenn auch ein finanzielles Engagement erforderlich ist. Die Reaktionen auf die sich abzeichnenden erheblichen Einschnitte in das gewohnte Rundumsorglospaket zeigen das ganz deutlich. Wahrscheinlich hatten wir in den letzten Jahrzehnten einfach zu viel Staat, der uns nicht nur die Verantwortung, sondern auch das Denken abgenommen hat. Wir sind bequem geworden. Der gesunde Menschenverstand scheint ein Auslaufmodell geworden zu sein. Für die Wiedereinführung müsste sich doch ein staatliches Finanzierungsmodell finden lassen.