In das Programm wurden Personen aus betroffenen und umliegenden Stadtteilen aufgenommen, die im sexuellen Gewerbe tätig waren bzw. dessen verdächtigt wurden, oder aber vermutlich Kunden von Prostituierten waren (Lancet 2003; 361: 313-314).
4384 solcher Risikopersonen nahmen an der Intervention teil, womit unter anderem 8,1 % (n = 2981) der Bewohner zwischen 15 und 59 Jahren der betroffenen Stadtbezirke und 41-81 % (n = 1055) der auf 1300-2600 geschätzten Prostituierten erreicht wurden. Die Studienteilnehmer erhielten Anfang des Jahres 2000 eine Antibiotika-Behandlung (beginnend Anfang Januar oder Anfang Feburar, einmal täglich 1,8 g Azithromycin oral, über 6 Tage).
Routinemäßige Intervention nicht zu empfehlen
In den ersten 6 Monaten nach der Intervention, zwischen Februar und Ende Juli 2000, wurden signifikant geringere Raten neuer Syphilis-Fälle registriert; im Durchschnitt waren es 6,7 Fälle pro Monat (gegenüber 10,2 Fällen vor der Intervention). Im September 2000 wurde allerdings bereits wieder das Ausgangsniveau erreicht. Im Jahr 2001 stieg die Rate Neuinfizierter darüber hinaus an: Sie erreichte dabei mit 177 Fällen eine Höhe, die die nach Modellrechnungen zu erwartende Fallzahl sogar übertraf, was einem Rebound-Effekt gleich kommt.
Zu wenige Personen der Risikogruppe erreicht?
Durch diesen Reboundeffekt, so die Autoren, kann die Intervention trotz ihrer leichten Durchführbarkeit und des kurzfristigen Erfolges nicht routinemäßig bei einer Syphilis-Epidemie empfohlen werden. Eine mögliche Ursache für das Fehlschlagen könnte in der Therapie selbst liegen, d.h. der Effizienz von Azithromycin bei Syphilis. Als wahrscheinlichsten Grund für den nicht dauerhaften Effekt und den späteren Wiederanstieg der Infiziertenrate sehen die Autoren aber, dass man zu wenige Personen der Risikogruppe erreicht habe, so dass sich die Krankheit innerhalb dieser anfälligen Population weiter ausbreiten konnte. Ähnliche Reiheninterventionen werden von der Autorengruppe nicht geplant.
Kommentar zur Studie
Eventuell sollte anstatt einer Massentherapie ein Massenscreening durchgeführt werden.
Die Syphilis (Synonym: Lues) ist eine kontagiöse, in Schüben verlaufende, durch Treponema-pallidum-Subspezies-pallidum verursachte Infektionskrankheit. Sie geht unbehandelt nach einer gewissen Zeit in eine Latenz über. 2 Drittel dieser latent Infizierten bleiben für den Rest ihres Lebens erscheinungsfrei, das übrige Drittel entwickelt unter Umständen erst nach Jahrzehnten eine der Spätformen der Krankheit (1). Die Inzidenz liegt derzeit in Deutschland bei etwa 1,3/100 000 Einwohner. In Nordamerika erkranken insgesamt seit den 1980er-Jahren mehr Menschen (8,1 Erkrankungen/100 000 Einwohner).
Übertragung fast ausschließlich beim Geschlechtsverkehr
In dem referierten Artikel wird eine seit 1997 beobachtete Häufung von Syphilis-Fällen in Vancouver beschrieben, mit einer Rate von 12,9 Fällen/100 000 Einwohner. Die Übertragung erfolgt fast ausschließlich beim Geschlechtsverkehr durch direkten Kontakt mit infektiösen Effloreszenzen. Bei gelegentlicher Exposition infiziert sich nur jeder Dritte bei einem an einer ansteckenden Syphilis leidenden Sexualpartner, bei wiederholtem Kontakt allerdings jeder.
Die unterschiedliche Empfänglichkeit wird einerseits mit der Kreuzimmunität zu den symbiotisch auf den Schleimhäuten lebenden apathogenen Arten der Gattung Treponema erklärt, andererseits auf die Tatsache zurückgeführt, dass T. pallidum gegen Umwelteinflüsse außerordentlich empfindlich ist. Die Autoren führen den Reboundeffekt zum Teil auf die vermehrte Empfindlichkeit der behandelten Personen darauf zurück, dass nach der Behandlung protektiv wirkende apathogene Arten weggefallen sind.
In Deutschland spielen Prostituierte nur eine untergeordnete Rolle
In Deutschland erkranken vorwiegend Personen aus sozial schwachen Gruppen, Angehörige von Berufen mit viel Reisetätigkeit, Sextouristen und Homosexuelle. Prostituierte spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle (2). Hier liegt wahrscheinlich auch der Hauptgrund, warum gezielte Massentherapien fehlschlagen, da offensichtlich zu wenige Personen der Risikogruppe erreicht wurden. Ein Ziel waren Prostituierte, welche offenbar in der Epidemiologie keine Hauptrolle spielen.
Die antibiotische Empfindlichkeit von T. pallidum gegen Azithromycin wurde in einer randomisierten, vergleichenden Pilotstudie von Azithromycin versus Benzathin Penizillin G erfasst (3). Die Ansprechraten waren vergleichbar (83-94 % vs. 86 %). Ob die Effektivität von Azithromycin tatsächlich gering und damit ursächlich für das Fehlschlagen der Studie angesehen werden kann, ist schwer zu beurteilen, vor allem da es zu einer signifikanten Reduktion der Inzidenz in den ersten 6 Monaten gekommen ist.
Massentherapie nicht Erfolg versprechend
Wahrscheinlich bestehen epidemiologisch gesehen 2 Gruppen: Eine sessile Fraktion, die erfolgreich durch die Massentherapie behandelt werden konnte, und eine fluktuierende Fraktion, die dadurch nicht erreicht werden konnte. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Massentherapie momentan nicht Erfolg versprechend ist. Eventuell sollte das Konzept überdacht werden und anstatt einer Massentherapie ein Massenscreening durchgeführt werden. In Anbetracht des steigenden Interesses an sexuell übertragbaren Erkrankungen - auch im Hinblick auf die AIDS-Epidemie -, sollten jedoch solche Untersuchungen, welche epidemiologisch bedeutend sind, weiterhin erfolgen.
Dr. F. M. E. Wagenlehner, Prof. Kurt G. Naber, Straubing