Wirksamkeit suchtpräventiver Programme
Schulbasierte Interventionen
Die weitaus überwiegende Anzahl verhaltenspräventiver Interventionen wird in der Schule
implementiert, da in Schulen alle Kinder und Jugendlichen einer Kohorte erreicht werden
können [14]. Die Präventionsprogramme sind häufig universell, da sie sich an alle Schüler einer
Klasse richten. In den USA werden schulbezogene Suchtpräventionsprogramme bereits
seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts eingesetzt und evaluiert [15]
[16]. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern gibt es mittlerweile eine
große Anzahl unterschiedlicher Programme für das schulische Setting. Für viele dieser
Programme wurde jedoch keine wissenschaftliche Überprüfung der Implementation und
Wirksamkeit durch systematische Prozess- und Ergebnisevaluationen durchgeführt [17].
Klassifikation schulbasierter Präventionsansätze
Es lassen sich insgesamt 35 Einzelkomponenten universeller schulischer Suchtpräventionsprogramme
identifizieren, die sieben Hauptkategorien zugeordnet werden können: der Wissensvermittlung,
der affektiven Erziehung, dem Standfestigkeitstraining, der Vermittlung allgemeiner
Kompetenzen und Copingstrategien (Lebenskompetenztraining), der Erhöhung von Selbstschutzstrategien
in Risikosituationen, außercurricularen sowie anderen Aktivitäten [18]
[19]. Tab. [2] führt die Hauptkomponenten schulischer Suchtpräventionsprogramme auf.
Tab. 2 Hauptkomponenten von schulischen Suchtpräventionsprogrammen [modifiziert nach 19]
| Bereich |
inhaltliche Komponente |
| Wissensvermittlung |
- über Langzeiteffekte von Drogen |
|
- über Kurzzeiteffekte von Drogen |
|
- Medien- und soziale Einflüsse |
|
- aktueller Drogenkonsum von Gleichaltrigen (normative Erziehung) |
| affektive Erziehung |
- Selbstwertgefühl |
|
- Selbstwahrnehmung |
|
- Einstellungen, Werte und Überzeugungen |
| Standfestigkeit |
- Standfestigkeit in Situationen mit sozialem Druck zum Drogenkonsum |
|
- Selbstverpflichtung zur Abstinenz |
|
- kognitiv-behaviorale Fertigkeiten |
|
- Unterstützung durch und Zusammenarbeit mit Jugendlichen, die keine Drogen nehmen |
| allgemeine Fertigkeiten |
- Kommunikationsfertigkeiten |
|
- Selbstbehauptung |
|
- soziale Fertigkeiten (Freundschaften schließen etc.) |
|
- Problemlösefertigkeiten |
|
- Bewältigungsfertigkeiten |
|
- Zielfindung |
|
- Alternativen suchen |
| Selbstschutz in Situationen, in den Drogen konsumiert werden |
- sich selbst in solchen Situationen schützen |
|
- Peers in solchen Situationen schützen |
|
- verantwortlich handeln: z. B. nicht betrunken fahren |
| außercurriculare Aktivitäten |
- bezahlte Aktivitäten und Jobs |
|
- organisierte Sportveranstaltungen |
|
- organisierte kulturelle Aktivitäten |
|
- drogenfreie Freizeitaktivitäten |
|
- freiwillige Gemeindearbeit |
| weitere |
- Belohnung und Verstärkung |
|
- Üben/Erlernen von selbstkontrolliertem Verhalten in Bezug auf Suchtmittel |
|
- Einbeziehung der Eltern |
|
- Beratung durch Peers |
|
- Einbeziehung von Peers |
|
- Training von Peers |
|
- Hausaufgabenvergabe |
|
- Eltern-, Gemeinde- oder Medienkomponente |
|
- gemeindeweite Koordination und Beteiligung |
Die unterschiedlichen Programmansätze unterscheiden sich jedoch nicht nur hinsichtlich
ihrer Inhalte, sondern insbesondere auch in Bezug auf die Art und Weise, wie die (Lern-)Inhalte
vermittelt werden. Im Hinblick auf den Vermittlungsstil können zwei Hauptgruppen von
Programmen, die entweder überwiegend interaktiv oder nicht interaktiv ausgerichtet
sind, voneinander unterschieden werden.
Nicht interaktiv ausgerichtete Programme zeichnen sich dadurch aus, dass die Lerninhalte durch Frontalunterricht durch die
Lehrkraft vermittelt werden, wobei die Schüler wenig bis gar nicht aktiv in den Lernprozess
eingebunden werden. Wenn Diskussionen Bestandteil des Programms sind, werden diese
fast ausschließlich zwischen der Lehrkraft und den Schülern geführt, die Diskussion
zwischen Schülern untereinander dagegen wird nur selten gefördert. Ein Beispiel für
nicht interaktive Programme der Suchtprävention ist die klassische Wissensvermittlung,
in deren Rahmen den Schülern von der Lehrkraft Informationen über die schädigende
Wirkung von Alkohol, Zigaretten und anderen Drogen gegeben werden.
Interaktiv ausgerichtete Programme legen ihren Fokus nicht auf die didaktische Präsentation der Programminhalte durch
die Lehrkraft. Sie regen den Austausch der Schüler untereinander über Diskussionen,
Gruppenarbeit und die Einübung neuer Verhaltensweisen an. Ziel ist es, möglichst viele
Schüler in den Lernprozess aktiv mit einzubeziehen. Die Lehrkraft übernimmt dabei
häufig die Rolle eines Moderators, deren Aufgabe primär darin besteht, den Austausch
der Schüler in positiver und unterstützender Art und Weise zu fördern und die Schüler
zu ermutigen, sich in die Gruppenarbeit einzubringen. Die Schüler haben im Klassenverband
die Möglichkeit, neu gelernte Verhaltensweisen in einer geschützten Atmosphäre auszuprobieren
und ein konstruktives Feedback durch ihre Mitschüler zu erhalten.
Ein interaktives Programm aus dem deutschsprachigen Raum ist das Training Allgemeine(r)
Lebensfertigkeiten (ALF) [20]. Das Programm ist für Lehrkräfte der fünften bis siebten Klassenstufe entwickelt
worden und besteht aus 24 Unterrichtseinheiten für die Förderung allgemeiner und spezifischer
Fertigkeiten wie z. B. Problemlösen, Standfestigkeit und Kommunikation. In einer Evaluationsstudie
über den Zeitraum von vier Jahren wurden 675 Schüler insgesamt viermal zu ihrem Zigaretten-
und Alkoholkonsum befragt. Nach der 5. Klasse war der Anteil aktueller Raucher, nach
der 6. Klasse der Anteil Trunkenheitserfahrener in der Interventionsgruppe signifikant
niedriger als in der Kontrollgruppe. Am Ende der sechsten Klasse konnten in Bezug
auf das Rauchverhalten und am Ende der siebten Klasse ebenfalls in Bezug auf Trunkenheitserfahrungen
keine Unterschiede zwischen den Gruppen mehr festgestellt werden. Die Autoren ziehen
den Schluss, dass das Programm bei den Fünftklässlern den Einstieg in den Substanzmissbrauch
verzögern kann [21].
Ein Programm speziell für den Grundschulbereich, das ebenfalls interaktiv aufgebaut
ist, ist die „Klasse2000”. Die Inhalte werden nicht ausschließlich durch Lehrerstunden,
sondern zusätzlich durch externe Gesundheitsförderer vermittelt. In einer 4-Jahres-Studie
wurden n = 3494 Schüler sowohl am Ende der ersten als auch der vierten Klasse zu ihrem
Rauchverhalten befragt. Während in der ersten Klasse noch keine Unterschiede zwischen
Interventions- und Kontrollgruppe zu verzeichnen waren, hatten am Ende der vierten
Klasse bereits 32 % der Schüler in der Kontrollgruppe erste Erfahrungen mit Zigaretten
gesammelt, im Gegensatz zu 25,5 % in der Interventionsgruppe [22].
Die Anzahl der Evaluationsstudien zur selektiven oder indizierten Suchtprävention
ist deutlich geringer als die zur universellen. In einer Vergleichsgruppenstudie zur
indizierten Alkoholprävention an Hochschulen wurden insgesamt n = 178 Studenten hinsichtlich
ihres Trinkverhaltens schriftlich befragt und bei auffälligem Trinkverhalten (binge
drinking [23]) zu einem einstündigen Feedback-Gespräch eingeladen (n = 21), dessen Schwerpunkt
auf einer konkreten, individualisierten Rückmeldung über das Trinkverhalten, typische
Risikosituationen, Alkoholerwartungen und potenzielle negative Konsequenzen des Alkoholkonsums
lag. Im Unterschied zur Interventionsgruppe erhielten die Teilnehmer der Kontrollgruppe
(n = 31) nach der letzten von drei Datenerhebungen lediglich ein schriftliches Feedback
hinsichtlich ihres Trinkverhaltens. Die Intervention wurde positiv von den Studenten
bewertet. Bedeutsame Interventionseffekte zeigen sich zwei Monate nach der Intervention
für (a) die Anzahl an Trinktagen in den letzten vier Wochen, (b) dem durchschnittlichen
Konsum von Alkohol je Tag und (c) der Anzahl pro Woche getrunkener Gläser Alkohol.
Kein bedeutsamer Interaktionseffekt konnte im Hinblick auf die Anzahl von Gläsern
Alkohol, die an einem Abend am Wochenende getrunken werden, und dem exzessiven Trinken
festgestellt werden [24].
Effektivität schulbasierter Programme - Ergebnisse von Metaanalysen
Einzelstudien geben Hinweise auf mögliche Effekte von Maßnahmen, allerdings hängt
die Validität der Ergebnisse maßgeblich von der Güte der Studie ab. Aussagekräftiger
als Einzeluntersuchungen sind Metaanalysen, die gegenüber Einzelstudien den Vorteil
haben, dass sie die Ergebnisse verschiedener Studien integrieren, um so zu einer valideren
Schätzung der Effekte dieser Programme zu gelangen, als es mit Einzelstudien möglich
ist.
Die Metaanalyse von Tobler u. Mitarb. [19] ist wohl die umfangreichste, die zu der Wirksamkeit universeller schulbasierter
Interventionen vorliegt. Allen der in die Analyse eingegangenen 207 Programmevaluationen
lag ein prospektives Kontrollgruppendesign zugrunde. Ferner mussten die Studien quantitative
Maße des Drogenkonsums aufführen und in der Zeit von 1978 bis 1998 publiziert worden
sein.
Tab. [3] zeigt die Effektgrößen der Programme für den Tabak-, den Alkohol-, den Cannabiskonsum
sowie den Konsum anderer, illegaler Drogen. Die interaktiven Präventionsprogramme
erzielen durchweg bessere Ergebnisse als die nicht interaktiven, wobei die Effektstärken
insgesamt über beide Gruppen als klein zu bezeichnen sind. Nach Cohen [25] wird eine Effektgröße von 0,2 als kleiner, ab 0,5 als mittlerer und ab 0,8 als großer
Effekt bezeichnet.
Tab. 3 Ergebnisse der Metaanalyse von Tobler et al. zur Wirksamkeit schulbasierter Suchtpräventionspogramme
[entnommen aus 19]
| Programmtyp |
Effektstärke |
| (Anzahl Studien) |
Tabak |
Alkohol |
Marihuana |
andere Drogen |
| nicht interaktiv (69) |
0,04 |
0,05 |
0,03 |
0,02 |
| interaktiv (138) |
0,15 |
0,13 |
0,13 |
0,26 |
Innerhalb der Gruppe der interaktiven Programme zeigen sich die systemübergreifenden
Programme, die neben einer schulbezogenen auch familien- und gemeindebezogene Komponenten
beinhalten, mit einer Effektgröße von d = 0,27 am erfolgreichsten. Der „social influence”-Ansatz
allein erreicht mit d = 0,17 (Lebenskompetenztraining) bzw. d = 0,12 (Standfestigkeitstraining)
kleinere Effektgrößen.
In einer weiteren Metaanalyse (von Tobler) basierend auf den Ergebnissen von 120 Kontrollgruppenuntersuchungen
[18] zeigte sich, dass sowohl die interaktiven als auch die nicht interaktiven Programme
das Wissen der Schüler signifikant erhöhen konnten (interaktiv d = 0,38; nichtinteraktiv
d = 0,36). In Bezug auf die Einstellungen zu Drogen kam es bei den interaktiven Programmen
zu einer Zunahme drogenkritischer Einstellungen und einer Abnahme des tatsächlichen
Drogenkonsums (Tabak, Alkohol und Marihuana; Effektgrößen für Einstellungen d = 0,26;
für Konsum d = 0,18). Nicht interaktive Programme, die ihren Schwerpunkt lediglich
auf die Vermittlung drogenbezogenen Wissens und der affektiven Erziehung legen, zeigten
dagegen weder hinsichtlich der Einstellung noch des tatsächlichen Drogenkonsums Effekte
auf (für Einstellungen d = 0,07; für Konsum d = 0,03).
Außer dem gewählten Ansatz und der Vermittlungsart der Inhalte ist die Intensität
des Programms ein weiterer wichtiger Faktor für die Effektivität: Eine Subgruppenanalyse
von insgesamt 94 Studien mit einem methodisch sehr hochwertigen Evaluationsdesign
- u. a. randomisierte Zuordnung zu den Untersuchungsbedingungen - ergab, dass interaktive
Programme mit einer Länge von 11-30 Stunden (M = 15,8) erfolgreicher waren als diejenigen,
die weniger als 10 Stunden umfassten (M = 7; [18]).
Eine Studie von Botvin et al. [26] zur Effektivität eines Lebenskompetenztrainings ergab, dass mindestens 60 % der
Inhalte des Programms durch die Lehrkraft durchgeführt werden mussten, um eine Veränderung
hinsichtlich des Zigaretten- und Alkoholkonsums bei den Schülern zu bewirken. Die
Durchführungstreue und Intensität des Präventionsprogramms sind somit ein bedeutsamer
Faktor für die Wirksamkeit und eine ungenügende Umsetzung der Programminhalte führt
mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Verlust der Wirksamkeit einer Maßnahme [27]. Die Auswahl und gut strukturierte Fortbildung von Lehrkräften und Präventionsfachkräften
ist eine Grundvoraussetzung für die konzepttreue Durchführung des Programms [28]
[29]. Bei Programmen mit vielen Teilnehmern ist das Risiko höher, dass diese Anforderungen
nicht in dem Maße erfüllt werden können wie bei Programmen mit einer relativ geringen
Teilnehmerzahl. In der Metaanalyse zeigte sich denn auch, dass die Effekte interaktiver
Programme dann abnahmen, wenn die Programme in großem Rahmen mit mehr als 1000 Schülern
durchgeführt wurden [19]. Zudem sollten die Interventionsmaßnahmen unter Realbedingungen getestet werden,
bevor sie eingeführt und verbreitet werden [30].
Es kann das (Zwischen-)Fazit gezogen werden, dass schulbezogene Interventionsprogramme
zu einem Wissenszuwachs bei den Schülern führen können. Auf der Einstellungs- und
Verhaltensebene dagegen zeigen sich nur die interaktiven Programme als effektiv.
Familienbasierte Interventionen
Die Familie ist der erste und für viele Jahre wichtigste Interventionsort für präventive
Maßnahmen [31]. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass insgesamt gesehen nur wenige Untersuchungen
zu familienorientierten Interventionen der Suchtprävention veröffentlicht worden sind.
Richard Spoth von der Iowa State University hat kürzlich eine 4-jährige Follow-up-Untersuchung
zur Testung von Familientrainingskursen veröffentlicht [32]
[33]. Eine Grundgesamtheit von 667 Familien mit Kindern in der sechsten Klassenstufe
aus 33 öffentlichen Schulen wurde für diese Untersuchung rekrutiert. Die Schulen wurden
randomisiert folgenden Bedingungen zugeordnet: a) dem fünf Sitzungen umfassenden Familientrainingsprogramm
„Preparing for the Drug Free Years”, b) dem sieben Sitzungen umfassenden „Iowa Strengthening
Families Program”, c) der Kontrollbedingung (kein spezielles Angebot für Familien).
Innerhalb der beiden Trainingskurse wurden Eltern trainiert, die „richtige Sprache”
für die Kommunikation mit ihren Kinder zu finden, konkrete (Problem-)Situationen wurden
durchgesprochen bzw. im Rollenspiel geübt, und ferner wurden Informationen über die
Drogen Alkohol, Nikotin und Cannabis gegeben. Die Kurse fanden einmal in der Woche
über einen Zeitraum von fünf bzw. sieben Wochen statt. An einem der Abende waren auch
die Kinder anwesend. Die Ergebnisse der Intervention sind beeindruckend. Das längere
der beiden Trainingsprogramme reduzierte den Anteil der Schüler, die Cannabis, Tabak
oder Alkohol konsumierten, in allen Schuljahren von der sechsten bis zur zehnten Klassenstufe,
das kürzere Programm führte zu einer Reduktion des Alkoholkonsums in der 10. Klassenstufe
und insgesamt zu einer reduzierten Lebenszeitprävalenz des Substanzkonsums.
Ein Beispiel für eine familienbasierte selektive Präventionsmaßnahme ist das amerikanische
„Strengthening Families”-Programm. Dieses intensive 16-wöchige Programm richtet sich
an Familien mit Kindern im Alter von 6-12 Jahren, von denen mindestens ein Elternteil
drogenabhängig ist [34]. Den Kindern werden soziale Kompetenzen vermittelt, die Eltern nehmen an einem Elterntraining
zur Verbesserung der Erziehungskompetenzen teil. Darüber hinaus ist die gesamte Familie
in eine Verhaltenstherapie eingebunden. Die erste Evaluationsstudie umfasste 208 Familien.
Das Programm reduzierte die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder, verbesserte die
Erziehungsfertigkeiten der Eltern und reduzierte familiäre Konflikte. Die Ergebnisse
konnten in einer Reihe von Studien repliziert werden, wobei die schlechtesten Ergebnisse
in einer Studie erzielt wurden, in denen Eltern teilnahmen, die nicht drogenabhängig
waren, was darauf hinweist, dass dieser Interventionsansatz offenbar besonders geeignet
für Familien mit einer Drogenproblematik ist [35].
Somit kann festgehalten werden, dass es auf internationalem Gebiet einige viel versprechende
Ansätze familienbasierter Suchtpräventionsprogramme gibt und erste Hinweise auf die
Wirksamkeit dieser Ansätze vorliegen, die jedoch durch weitere Studien konsolidiert
werden müssen. Erheblicher Nachholbedarf ist für diesen Bereich in Deutschland zu
verzeichnen.
Gemeindeorientierte Interventionen
Gemeindeorientierte Suchtpräventionsprogramme versuchen, die Gemeinde zu mobilisieren
und werden in der Regel von massenmedialen Komponenten und schulischen Interventionen
begleitet. Aufgrund der Fülle von Einzelmaßnahmen, die oftmals gemeindeorientierte
Interventionen kennzeichnen, ist auch die Evaluation möglicher Effekte komplex.
Das international wohl bekannteste gemeindeorientierte Präventionsprogramm ist das
in Minnesota durchgeführte „Project Northland”, welches das Ziel der Prävention des
Alkoholmissbrauchs im Jugendalter verfolgt. Das Programm ist außerordentlich gut evaluiert
worden und wird mittlerweile auch in anderen Staaten wie beispielsweise Russland
eingesetzt [44]. Im Rahmen einer randomisierten Längsschnittuntersuchung wurden in der Zeit von
1991 bis 1998 insgesamt acht Schülerbefragungen durchgeführt (n = 2953). Von der sechsten
bis achten Klassenstufe nahmen die Schüler der Interventionsgruppe an einem kognitiv-behavioralen
Schulcurriculum mit jährlich acht Unterrichtseinheiten teil. Darüber hinaus wurden
familien- und gemeindebezogene Aktivitäten initiiert. In der neunten und zehnten Klassenstufe
erfolgte nur eine minimale Intervention. Die letzte Programmphase - die Schüler befanden
sich mittlerweile in den Klassenstufen 11 und 12 - umfasste fünf Komponenten: a) ein
sechsstündiges Unterrichtscurriculum, das auf die sozialen und legalen Konsequenzen
des Alkoholkonsums fokussierte, b) Einbezug der Eltern über die Zusendung von schriftlichen
Verhaltensratschlägen zum Umgang mit ihren jugendlichen Kindern, c) eine Printmedienkampagne,
die sich an junge Erwachsene und an Ladenbesitzer richtete und an diese appellierte,
unter 21-Jährigen keinen Alkohol zugänglich zu machen, d) die Entwicklung von Projekten
durch Peerleader mit dem Ziel, ihre Mitschüler vom Trinken abzuhalten und Alternativen
zu finden (z. B. Videoprojekte) sowie e) die Gründung von Gemeindeteams, die sich
in ihrer Gemeinde u. a. für die Einführung neuer Verordnungen zum alkoholbezogenen
Jugendschutz einsetzten und die Einhaltung von Gesetzen bei dem Verkauf von Alkohol
überprüften.
Nach der ersten Phase des Programms hatten die Schüler der Interventionsgruppe eine
signifikant geringere 4-Wochen-Prävalenz des Alkoholkonsums sowie signifikant seltener
exzessiv getrunken. Die weit gehend fehlende Intervention in der zweiten Programmphase
hatte jedoch einen signifikant negativen Effekt auf den Alkoholkonsum der Schüler.
Nach der letzten Programmphase zeigte sich wieder ein positiver Effekt des Interventionsprogramms.
Hinsichtlich der 4-Wochen-Prävalenz des Alkoholkonsums unterschieden sich die Interventions-
und die Vergleichsgruppe tendenziell voneinander, hinsichtlich des exzessiven Trinkens
auch statistisch bedeutsam.
Ein in Deutschland implementiertes und evaluiertes gemeindeorientiertes Präventionsprogramm
wurde kürzlich von Hollederer und Bölcskei vorgestellt [45]. Im Rahmen eines quasiexperimentellen Prätest-Posttest-Studiendesigns konnten alle
5. Klassen der Interventionsstadt Kaufbeuren mit 644 Schülern mit den 631 Schülern
der Referenzstadt Straubing verglichen werden. Die Intervention bestand aus insgesamt
12 Unterrichtseinheiten, deren Schwerpunkte auf der Steigerung sozialer Kompetenzen,
des Selbstwertgefühls sowie der Bestärkung des Nichtraucherverhaltens liegen. Die
Einheiten wurden von im Vorwege eintägig geschulten Lehrkräften durchgeführt. Bestandteil
der Intervention waren die Publikation einer Elternzeitung und ein Malwettbewerb,
dessen beste Einsendungen an einem Gemeindeabend, an dem Schüler, Lehrkräfte und Eltern
teilnahmen, prämiert und in einem Schülerkalender abgedruckt wurden. Hinsichtlich
des Rauchens konnten lediglich minimale, statistisch nicht bedeutsame Interventionseffekte
festgestellt werden: Im Laufe des Schuljahres stieg die Quote der gelegentlichen und
regelmäßigen Raucher in der Interventionsgruppe von 2,8 auf 4,6 % und in der Kontrollgruppe
von 1,8 auf 4,8 %.
Eine einzige Metaanalyse zu den Wirkungen gemeindeorientierter Interventionen ist
bisher publiziert worden. Diese untersucht den präventiven Effekt gemeindeorientierter
Interventionen auf das Rauchverhalten [46]. 17 Studien wurden in den Überblick aufgenommen, weitere 46 identifiziert, aber
aufgrund unzulänglicher Methodik nicht berücksichtigt. Alle Studien nutzten ein Kontrollgruppendesign,
wobei sechs die Schulen oder Kommunen zufällig den Untersuchungsbedingungen zuordneten.
Die Analyse der Ergebnisse der 17 Studien zu den Effekten gemeindeorientierter präventiver
Interventionen deutet darauf hin, dass gemeindeorientierte Präventionsprogramme einen
positiven Effekt auf die Raucherprävalenz haben können.
Zusammenfassend wird deutlich, dass gemeindeorientierte Interventionen möglicherweise
einen positiven Effekt auf den Alkoholkonsum und die Raucherprävalenzen haben können.
Die hier dargestellte deutsche Studie zeigt, dass derartige Ansätze auch in Deutschland
umsetzbar sind und großer Bedarf an der Konzeption und Evaluation wirksamer Strategien
herrscht.
Massenmediale Interventionen
Es gibt nur wenige methodisch gute Studien zur Wirksamkeit massenmedialer Kampagnen
in der Suchtprävention. In einer kürzlich veröffentlichten Überblicksarbeit erfüllten
lediglich sechs von insgesamt 63 identifizierten Studien die Kriterien für die Aufnahme
in die Überblicksarbeit [47]. Alle sechs Untersuchungen nutzten ein kontrolliertes Studiendesign. Auch eine weitere
Überblicksarbeit kommt zu dem Schluss, dass nur wenige Studien in diesem Feld ein
methodisch anspruchsvolles Untersuchungsdesign aufweisen [48].
Im Hinblick auf die inhaltliche Orientierung von massenmedialen Kampagnen zur Prävention
des Rauchens ist die Arbeit von Stanton Glantz besonders aufschlussreich [49]. 186 Focus Groups mit über 1500 Jugendlichen und Erwachsenen beurteilten insgesamt
118 Werbebotschaften, die sich acht Werbestrategien zuordnen lassen: a) Manipulation
durch die Industrie, b) Passivrauchen, c) Abhängigkeit/Sucht, d) Gründe und Infos
zum Aufhören, e) leichter Zugang zu Zigaretten für Jugendliche, f) kurzfristige Konsequenzen
des Konsums, g) langfristige Konsequenzen des Konsums und h) emotionale Zurückweisung.
Die Manipulation durch die Industrie und das Passivrauchen wurden sowohl von Jugendlichen
als auch Erwachsenen als effektivste Strategien für Gesundheitskampagnen angesehen.
Eine viel beachtete Studie zu den Effekten einer massenmedialen Intervention im Hinblick
auf die Prävention des Rauchens wurde von Brian Flynn und Mitarb. beschrieben [50]
[51]. Über vier Jahre nahmen alle untersuchten 5458 Schüler der vierten bis sechsten
Klassenstufe an einer schulbasierten Intervention zur Verhütung des Rauchens teil.
Während in zwei Gemeinden lediglich diese Intervention implementiert wurde (Kontrollgruppe),
wurden die Schüler der Interventionsgruppe zusätzlich massenmedialen Botschaften ausgesetzt.
In der 8. bis 10. Klassenstufe rauchten in der Gruppe schul- plus massenmediale Intervention
12,8 % wöchentlich, verglichen mit 19,8 % der Schüler, die lediglich an dem Schulcurriculum
teilnahmen. Zwei Jahre später - die Schüler waren nun in der 10. bis 12. Klassenstufe
- unterschieden sich die beiden Gruppen immer noch statistisch bedeutsam voneinander.
Eine Überblicksarbeit zur Prävention des Rauchens [52] kommt zu dem Schluss, dass massenmediale Interventionen insbesondere dann wirksam
sind, wenn sie gemeinsam mit schul- und gemeindeorientierten Interventionen implementiert
werden. Insbesondere die erfolgreiche „Truth”-Kampagne legt nahe, dass eine Kampagne,
die nach den Grundsätzen moderner Marketingmethoden aufgebaut und mit ausreichenden
Mitteln ausgestattet ist, sodass sie auch tatsächlich von der Zielpopulation wahrgenommen
wird und zudem zielgerichtet ist - in diesem Fall gegen die Manipulationen der Tabakindustrie
-, einen präventiven Effekt haben kann.
Massenmediale Kampagnen können insbesondere dann Effekte aufweisen, wenn sie in einen
umfassenden Maßnahmenkatalog eingebunden werden. Sie leisten dann einen Beitrag zur
Wissensvermehrung und möglicherweise Einstellungsbeeinflussung, weniger jedoch im
Hinblick auf Verhaltensintentionen und Verhaltensmodifikationen.
Diskussion
Im Rahmen dieser Arbeit wurde ein Überblick über die Wirksamkeit suchtpräventiver
Maßnahmen gegeben, die in der Schule, in der Familie und in der Gemeinde ansetzen.
Ferner wurden Wirksamkeitsanalysen zu den Effekten massenmedialer Interventionen vorgestellt.
Alle vorgestellten Ansätze sind verhaltenspräventiv ausgerichtet. Mehrere hundert
Studien mit einem methodisch anspruchsvollen Untersuchungsdesign - u. a. kontrolliert
und prospektiv - sind zu dieser Fragestellung publiziert worden.
Die überwältigende Mehrheit der Studien untersucht die Effekte universeller präventiver
Interventionen im schulischen Kontext. Die Effekte der Programme sind insgesamt gesehen
als klein zu bewerten, sie variieren bezogen auf den Drogenkonsum bei interaktiven
Programmen zwischen d = 0,13 und d = 0,26; bei nicht interaktiven ist lediglich ein
Wissenseffekt, aber kein Einstellungs- oder Verhaltenseffekt feststellbar. Aber auch
geringe Effektstärken von Programmen können, sofern die Programme populationsweit
implementiert werden, durchaus einen beachtlichen Effekt auf die Inzidenz und Prävalenz
des Drogenkonsums haben. Eine mittlere Effektstärke von d = 0,16 der interaktiven
schulbasierten Präventionsprogramme, die in Studien mit methodisch guten Untersuchungsdesigns
gefunden wurde, bedeutet in etwa eine Erfolgsquote in Höhe von acht Prozentpunkten
[19].
Die flächendeckende Verbreitung evaluierter Programme sollte auf einem qualitativ
hohen Niveau erfolgen - u. a. sind hinreichende Fortbildungsanstrengungen notwendig,
da viele Lehrkräfte nicht mit den interaktiven Methoden vertraut sind - da sich sonst,
wie die Ergebnisse der Metaanalysen zeigen, die Effekte verringern. Von einer derartigen
qualitätsgesicherten Dissemination suchtpräventiver Programme sind wir in Deutschland
noch sehr weit entfernt. Ein Unterrichtsfach Gesundheits- und Sozialerziehung wie
in den angelsächsischen Ländern, in dessen Rahmen systematisch verhaltenspräventive
Drogenpräventionsprogramme implementiert werden könnten, ist in Deutschland nicht
vorgesehen. Stattdessen erfolgen Gesundheitserziehung und Suchtprävention fächerübergreifend,
was oft nichts anderes bedeutet, als dass sie überhaupt nicht stattfinden. Selbst
evaluierte und weit verbreitete universelle schulische Präventionsprogramme wie das
Programm „Be Smart - Don’t Start” [57]
[58] erreichen, bezogen auf ihre Zielpopulation - in diesem Fall 11- bis 14-Jährige -,
nur wenige Prozent aller Schüler Deutschlands in dieser Altersgruppe [59].
Die referierten Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass sich die Effekte schulbasierter
interaktiver Präventionsprogramme vergrößern, wenn auch die Gemeinde und die Familie
mit einbezogen werden. Programme, die systemübergreifend ansetzen, erzielen mit d
= 0,27 eine durchaus beachtliche Effektstärke. Würden derartige Interventionen eingebunden
in ein Gesamtkonzept der Drogenprävention, das auch verhältnispräventive Interventionen
umfasst wie beispielsweise ein totales Werbeverbot für legale Drogen oder Maßnahmen
zur Veränderung der Verfügbarkeit von Drogen wie dem Abbau der 820 000 Zigarettenautomaten
in Deutschland (auf 100 Einwohner ein Automat [60]), dürften synergetische Effekte zu erwarten sein. So wird von Ökonomen geschätzt,
dass es allein durch ein totales Werbeverbot für Tabakprodukte in der europäischen
Union zu einer Verringerung des Zigarettenkonsums um 7,9 % kommen würde [61]
[62].
Die wenigen methodisch ausgereiften Studien, die zu familien- und gemeindebezogenen
Programmen vorliegen, sind viel versprechend. Insbesondere in den USA sind Programme
entwickelt worden, die Erfolg versprechende Ergebnisse aufweisen. Hier wären eine
Adaption an deutsche Verhältnisse sowie die Durchführung systematischer Untersuchungen
zur Wirksamkeit dieser Programme in Deutschland wünschenswert.
Evaluationen massenmedialer Kampagnen deuten an, dass diese als unterstützendes Element
im Rahmen anderer Interventionen wahrscheinlich den Effekt von (schul-, gemeinde-
oder familienbezogenen) Programmen verstärken können. Ihre Stärke scheint eher darin
zu liegen, Wissen zu vermehren und möglicherweise Einstellungen zu beeinflussen, weniger
Erfolg versprechend scheinen sie jedoch im Hinblick auf Verhaltensintentionen und
Verhaltensmodifikationen zu sein.
Was die systematische Evaluation von suchtpräventiven Maßnahmen, beginnend mit der
Konzeption der Interventionen, der erstmaligen Implementation im Rahmen von Pilotprojekten,
dem Wirksamkeitsnachweis über kontrollierte prospektive Interventionsstudien bis hin
zum Monitoring der Dissemination unter Einschluss von Qualitätssicherungsmaßnahmen
und Kosten-Nutzen-Analysen anbelangt, muss für Deutschland nach wie vor - wenn es
auch intensivere Bemühungen im Sektor der schulbasierten Interventionen gibt - festgestellt
werden, dass im Vergleich zu den Standards angloamerikanischer Staaten erheblicher
Nachholbedarf vorhanden ist.