Zum Wandel der Präventionsansätze
Ungeachtet der weit verbreiteten fachlichen Kritik an der Kampagne „Keine Macht den
Drogen” ist diese, nach Einstellung durch das Bundesgesundheitsministerium Ende der
90er-Jahre, mit Unterstützung des Bundesinnenministers wieder aufgelegt worden. Ist
die Suchtprävention auf dem Stand der 80er-Jahre stehen geblieben? Der Schein trügt.
Auch wenn fast alle bisherigen Ansätze in irgendeiner Form in der Praxis noch vorhanden
sind - die Ziele, Inhalte und methodischen Ansätze der Suchtprävention in der Bundesrepublik
Deutschland haben sich seit ihren Anfängen mit dem Kenntnisstand der Wissenschaft,
den Erfahrungen der Praxis und der gesellschaftspolitischen Entwicklung verändert.
Drogenprävention durch Abschreckung und Kriminalisierung
In den späten 60er-Jahren begannen mehr und mehr Jungerwachsene und Jugendliche, Haschisch
und LSD zu konsumieren. Heroin erschien auf dem Drogenmarkt. Die ersten verelendeten
Opiatabhängigen wurden auffällig, die ersten „Drogentoten” gezählt. Die Sorge, Jugendliche
könnten zum Probieren von Haschisch verführt werden und dadurch später ins Elend der
Heroinabhängigkeit abrutschen, griff um sich. Der Wunsch, den Heranwachsenden dieses
Schicksal zu ersparen, bestimmte die Konzepte drogenpräventiver Aktivitäten in den
70er- und auch noch 80er-Jahren. Dabei ging es im Wesentlichen um die Verhütung jeglichen
Konsums illegaler Drogen [1]
[2].
In der Praxis der Drogenprävention setzte man auf Abschreckung durch einseitige drastische
Darstellungen der Risiken des verbotenen Drogenkonsums. Die bevorzugten stoffkundlichen
Belehrungen arbeiteten mit zum Teil unsachlichen Botschaften. Besonders Plakate, Broschüren
und andere Materialien von Zoll, Polizei und Krankenkassen aus dieser Zeit waren davon
geprägt. Auch viele LehrerInnen, die mit ihren Schulklassen das Buch „Christiane F.
- Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” lasen und dessen Verfilmung sahen, taten dies in der
Hoffnung auf abschreckende Effekte. Die Strafverfolgung der KonsumentInnen illegaler
Drogen, ihre pauschale Verurteilung und Stigmatisierung gehörten mit zur Strategie
der Drogenprävention. Die Glaubwürdigkeit der Drogenaufklärer litt erheblich unter
den einseitigen Risikodarstellungen und der damit einhergehenden Doppelmoral. Die
überzogenen Darstellungen machten viele Adressaten eher neugierig. Die erhofften Erfolge
blieben aus.
Von der abstinenzorientierten Drogenerziehung zur ursachenorientierten Suchtprävention
Etwa ab Mitte der 70er-Jahre begannen die Fachkräfte der Drogenprävention vermehrt
damit, sachlicher über die Risiken der Drogen aufzuklären und an die Vernunft zu appellieren.
Das geschah weiterhin hauptsächlich mit dem Ziel, junge Menschen zu völliger Abstinenz
in Bezug auf illegale Drogen zu bewegen, sie aber auch vor missbräuchlichem Konsum
sog. Alltagsdrogen zu bewahren. Auch das führte nicht zum gewünschten Erfolg, da die
Vermittlung kognitiven Wissens als Faktor der Verhaltensbeeinflussung überschätzt
wurde. Hinzu kommt, dass Aufklärung mit Negativzielen und Furchtappellen oft nicht
fruchtet [3].
Vor diesem Erfahrungshintergrund richtete sich die Aufmerksamkeit ab etwa Anfang der
80er-Jahre stärker auf die individuellen und sozialen Ursachen von Suchtproblemen
sowie die Motive des Drogenkonsums. Sucht und nicht so sehr Drogenkonsum wurde als
wesentliches Problem, das es zu verhindern galt, aufgefasst. Konsequenterweise kamen
nun auch die Abhängigkeit von Alkohol, Tabak und Medikamenten sowie stoffungebundene
Verhaltenssüchte wie z. B. Spielsucht oder Essstörungen mit in den Blick.
Die Hinwendung der Suchtprävention zur Gesundheitsförderung
Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Copingforschung und der Gesundheitswissenschaften,
die 1986 in der Ottawa-Charta der WHO (Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen)
ihren Niederschlag fanden, leiteten in der Suchtprävention gegen Ende der 80er-Jahre
zwar nicht den gänzlichen Abschied von der Ursachenorientierung, aber einen Wechsel
von einer eher krankheitsfixierten zu einer mehr gesundheitsbezogenen (salutogenetischen)
Perspektive ein. Dementsprechende suchtpräventive Konzepte orientierten sich stärker
an den Bedingungen, Kompetenzen und Faktoren, die zur Gesundheit befähigen, die Gesundheit
schützen und zur Unverletzlichkeit bzw. Immunisierung gegenüber Gesundheitsstörungen
und Suchtgefährdungen beitragen .
Viele der für Suchtprävention Verantwortlichen wendeten sich zunächst von der Aufklärung
über Drogen ab. Suchtprävention ging oft suchtmittelunspezifisch vor und konzentrierte
sich darauf, grundlegende Lebenskompetenzen („life skills”) als Schutzfaktoren gegenüber
den vermuteten Ursachen von Suchtproblemen zu entwickeln und zu stärken. Zielgruppen
dafür waren nicht mehr nur Jugendliche, sondern auch Kinder, um möglichst frühzeitig
in Familien und Erziehungsinstitutionen gegenüber Suchtgefahren zu immunisieren. Nicht
von ungefähr nahmen viele suchtpräventive Fachkräfte in der Bundesrepublik Deutschland
die Plakate der Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich aus der Serie „Sucht hat viele
Ursachen” mit ihren positiven Botschaften wie „Spielen ist nicht nur für Kinder Musik
in den Ohren - Gemeinsam spielen. Wir werben dafür” begeistert auf. Typisch für diese
Phase war auch die Geburt der Kampagne „Kinder stark machen”. Nur der auf den Kampagnenplakaten
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) verwendete Halbsatz „Schlimm
genug, dass es Drogen gibt ...” erinnert noch an die Phase der Drogenprävention.
Quantitative und qualitative Studien in den USA und der Bundesrepublik Deutschland
aus den 70er- und 80er-Jahren belegten eine Funktionalität des Drogenkonsums im Hinblick
auf die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben des Jugendalters. Das motivierte PädagogInnen,
funktionelle Äquivalente zum Drogenkonsum anzubieten. Es ging dabei darum, alternative
Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung und Statuserwerb,
nach Identitäts- und Lebensstilfindung, nach Grenzerfahrungen und Abenteuer zu erschließen.
Darüber hinaus verfolgten erlebnis-, medien- und kulturpädagogische Aktivitäten der
Suchtprävention das Ziel, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu vermitteln, das Selbstbewusstsein
der Beteiligten zu stärken, soziale Kompetenzen wie Durchsetzungsvermögen, Konfliktlösungsfähigkeit
und Durchhaltevermögen einzuüben.
Bestätigung erfuhr diese konzeptionelle Weiterentwicklung der Suchtprävention Anfang
der 90er-Jahre durch die Befunde einer von der BZgA in Auftrag gegebenen „Expertise
zur Primärprävention des Substanzmissbrauchs” [12]
[13]. Drei zentrale Ergebnisse lauteten:
-
Abschreckungsorientierte Informationsvermittlung über psychoaktive Substanzen ist
im günstigsten Fall ineffektiv, im ungünstigsten Fall schädlich in Hinblick auf die
Verringerung eines Missbrauchsverhaltens.
-
Die Förderung von Lebenskompetenzen („life skills”) bei Jugendlichen ist eine wirksame
präventive Maßnahme im Hinblick auf die Verhinderung oder Verzögerung des Konsumbeginns
und die Verhinderung eines langfristigen Missbrauchsverhaltens. Das beinhaltet z.
B. die Förderung von Problemlösungs- und Kommunikationsfähigkeiten, von Selbstsicherheit
und Durchsetzungsvermögen.
-
Als Ergänzung zum Konzept der „life skills” sind Maßnahmen zur Schaffung von Alternativen
zum Drogenkonsum positiv zu beurteilen, dies gilt insbesondere für Jugendliche mit
hoher sozialer Belastung.
Förderung von Gesundheit und Risikokompetenz
Die Hinwendung zur Gesundheitsförderung hatte vorübergehend zur Folge, dass Suchtprävention
sich immer weniger von allgemeinen Erziehungsaufgaben unterschied. In den 90er-Jahren
setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass „das Kind nicht mit dem Bade
ausgeschüttet” werden sollte. Insbesondere die Ausbreitung von Ecstasy als so genannter
Partydroge öffnete die Augen dafür, dass viele Jugendliche rein zum Spaß, ohne Problemdruck
und Protestbedürfnis, aber zugleich ohne genügendes Wissen über die Risiken des Konsums
Drogen gebrauchen. Das führte zu einer konzeptionellen Rückbesinnung auf den erzieherischen,
verhaltensorientierenden Wert von Drogenaufklärung. Suchtpräventive Programme wurden
wieder stärker mit ihren spezifischen Profilen und Anliegen erkennbar [14]
[15].
Mittlerweile haben immer mehr Konzepte zur Suchtprävention wieder substanz- und verhaltensbezogene
Bestandteile. Seit Ende der 90er-Jahre hat sich die Förderung von Risikokompetenz
im Umgang mit Drogen in zahlreichen Projekten zu einem neuen konzeptionellen Akzent
entwickelt - nicht nur in der Suchtprävention, sondern seit längerem auch in der Drogen-
und Überlebenshilfe . Dieser konzeptionellen Umorientierung sind auch die im Juni
2002 von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte für einen
neuen Aktionsplan Drogen und Sucht in einigen Teilen verpflichtet. Nach diesem neuen
Plan sollen sowohl die Drogen- und Suchtpolitik als auch Suchtprävention und Suchtkrankenhilfe
von drei übergeordneten Zielen und acht Teilzielen geleitet werden (Tab. [1]).
Tab. 1 Eckpunkte für den Aktionsplan Drogen und Sucht, Juni 2002
|
Oberziele
|
- den Beginn des Konsums verhindern oder hinauszögern |
|
- riskante Konsummuster frühzeitig reduzieren |
|
- eine Abhängigkeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln behandeln, von der Abstinenztherapie
bis zur medikamentengestützten Behandlung |
|
Teilziele
|
- Förderung des allgemeinen Gesundheitsbewusstseins zur Verhinderung der Entstehung
von Abhängigkeit |
|
- Veränderung des gesellschaftlichen Klimas zu einem kritischeren Umgang mit legalen
Suchtmitteln |
|
- Identifikation von Missbrauchsverhalten zum frühestmöglichen Zeitpunkt |
|
- Verbesserung der Früherkennung von neuen Substanzen und Konsummustern |
|
- Sensibilisierung für die Gefahren des Mischkonsums |
|
- zielgruppenorientierte Unterstützung besonders gefährdeter Gruppen zur Vermeidung
von Abhängigkeit |
|
- Gender Mainstreaming in der Drogenpolitik umsetzen |
|
- Verankerung der interdisziplinären Kooperation |
Suchtprävention 2003: Ansätze und Praxisbeispiele
Suchtprävention 2003 besteht aus verschiedenen konzeptionellen und praktischen Komponenten,
die im günstigsten Falle alte und neue Leitorientierungen der letzten 30 Jahre organisch
miteinander verbinden. Die wichtigsten seien im Folgenden vorgestellt und illustriert.
Dabei dokumentiert die Reihenfolge der Darstellung nicht ein Ranking, sondern knüpft
nur an dem zuletzt beschriebenen Entwicklungsstadium der Suchtprävention an.
Förderung von Risikokompetenz und Drogenerziehung
Experimentier- und Risikoverhalten insbesondere von Kindern und Jugendlichen ist aus
entwicklungspsychologischer Sicht normal und entspringt sehr oft Bedürfnissen nach
sozialer Anerkennung, Genuss, Lust und Abenteuern. Im Umgang mit Risiken erkunden
Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeiten und Grenzen [19]. Das gilt auch für den Gebrauch psychoaktiver Substanzen, wie die nach wie vor hohe
Verbreitung jugendlichen Konsums von Alkohol, Nikotin und Cannabis zeigt. Was die
letztgenannte Droge betrifft, haben amerikanische Forscher schon 1990 mit einer bemerkenswerten
Längsschnittstudie darauf aufmerksam gemacht, dass der experimentelle Konsum Jugendlicher
als relativ normal und zumeist als nicht besonders abträglich für die Gesundheit und
Persönlichkeitsentwicklung zu werten ist [20]. In einer Gesellschaft, in der Alkoholkonsum von Erwachsenen geradezu erwartet wird,
in verführerischer Weise fast ständig und überall für Alkohol- und Nikotinkonsum geworben
wird, der Gebrauch von Psychopharmaka sehr verbreitet und akzeptiert ist, erscheint
es plausibel, das „Hineinwachsen in die Drogenkultur der Gesellschaft” als eine für
alle Jugendlichen zu lösende Entwicklungsaufgabe zu charakterisieren [11].
Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Überführung von jugendlichem Risikoverhalten
in lebenslange Risikokompetenz in den Zielkatalog der Suchtprävention aufzunehmen.
Risikokompetenz umfasst :
-
informiertes Problembewusstsein über Drogenwirkungen und Risiken des Drogenkonsums;
-
kritische Einstellung gegenüber legalen und illegalen Drogen;
-
Verzicht auf bestimmte Substanzen (harte Drogen, Selbstmedikation);
-
Bereitschaft und Fähigkeit zum konsequenten Konsumverzicht (Punktnüchternheit) in
bestimmten Situationen, Lebensräumen und Entwicklungsphasen (Kindheit, frühe Jugend,
Schule, Arbeitswelt, Straßenverkehr, Schwangerschaft etc.);
-
Vermögen, sich zwischen Abstinenz und mäßigem Konsum in tolerierten Situationen ohne
negative Konsequenzen bewusst und verantwortlich entscheiden zu können;
-
Entwicklung von Regeln für einen genussorientierten und maßvollen Konsum, Beherrschung
von Sicherheitsregeln, die sowohl das persönliche Risiko als auch das für die Umwelt
mindern (z. B. kein täglicher Alkoholkonsum).
Mit der Aufnahme der Förderung von Risikokompetenz in den Zielkatalog wird in der
Suchtprävention das Realziel „Verhinderung eines längerfristigen Missbrauchsverhaltens”
statt der unrealistischen Ausrichtung auf Totalabstinenz handlungsleitend [16]. Das beinhaltet sechs Prinzipien und Teilziele (Tab. [2]).
Tab. 2 Prinzipien und Realziele im Risikomanagement
|
Immunisierung:
|
Aufschub von Konsum- und Probierbeginn bei legalen Drogen, möglichst lebenslange Abstinenz
gegenüber illegalen Drogen |
|
Transitionierung:
|
Beschränkung des substanzbezogenen Konsums, aber auch eines Missbrauchs legaler wie
illegaler Substanzen auf einen experimentellen, zeitlich begrenzten Probierkonsum |
|
Sensibilisierung:
|
Entwicklung von Unterscheidungskriterien zwischen Genuss, Missbrauch und Abhängigkeit,
Sensibilisierung für riskante und weniger riskante Konsummuster, Verbesserung von
Selbsteinschätzung und Selbstreflexion |
|
Lebensweltorientierung:
|
Explizite und umfassende, „wahrheitsgemäße” und glaubwürdige Aufklärung über Wirkungen,
Nebenwirkungen und Wechselwirkungen des punktuellen und/oder regelmäßigen Konsums
psychoaktiver Substanzen |
|
Schadensminimierung:
|
Verhinderung von Abhängigkeitsentwicklungen bei dauerhaftem Missbrauch durch Sicherheitsregeln,
Ermöglichung eines kontrollierten Konsums mit Gefahrenbegrenzung und Notfallhilfe |
|
strukturelle Gesundheitsförderung:
|
Aufbau und Erhaltung sozialer Unterstützungs- und Bewältigungsnetzwerke, Einwirkung
auf negative Sozialisations- bzw. Milieubedingungen von gefährdeten und suchtaffinen
Jugendlichen |
Was das Ziel betrifft, den Konsumbeginn zu verzögern, sei hier ein besonders erwähnenswertes
und auf andere Drogen durchaus übertragbares Projekt vorgestellt:
Praxisbeispiel: „Be Smart - Don‘t Start”
Im Rahmen des vom Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung in Kiel koordinierten
europäischen Wettbewerbs schulischer Nichtraucherförderung verpflichten sich seit
sechs Jahren immer mehr Schulklassen, sechs Monate nicht zu rauchen. Wöchentlich bilanzieren
und reflektieren sie ihre Erfahrungen, beschäftigen sich in begleitenden Unterrichtsprojekten
mit den Motiven und Risiken des Rauchens, analysieren die Versuchungen des Umfelds
und der Werbung, entwickeln und üben Möglichkeiten des Neinsagens, erarbeiten und
erproben Verhaltensalternativen zum Rauchen [29]
[30].
Der Förderung von Risikokompetenz hat Chancen auf Erfolg,
-
wenn z. B. Kinder und Jugendliche in der Schule ihre drogenkundlichen Fragen offen
stellen, sich sachlich und präzise über Drogen informieren und zu eigenen Standpunkten
und Verhaltenssicherheiten finden können;
-
wenn in Familien, Schulen und Freizeiteinrichtungen offene Gespräche und selbstkritische
Reflexionen über Drogenkonsum und suchtriskantes Verhalten möglich sind. Eine entscheidende
Voraussetzung dafür ist ein vertrauensvolles Klima. Hilfreich sind einladende Ansprachen
und Situationen (in der Schule auf jeden Fall außerhalb der Leistungsbewertung) sowie
eine aufgeschlossene verständnisvolle Haltung gegenüber den jeweils relevanten Konsum-
und Verhaltensmotiven. Appelle und moralisierende Reaktionen wirken kontraproduktiv.
Benötigt werden GesprächspartnerInnen, die zuhören, sich selbst mit ihren Erfahrungen
einbringen, kritische Fragen stellen, nicht ihre Augen verschließen und ggf. Sorgen
zum Ausdruck bringen;
-
wenn „youth to youth education” bzw. „peer education” stattfindet;
-
wenn konkrete Trinkregeln und andere Konsumregeln formuliert, verbreitet und zur Diskussion
gestellt werden oder wenn Jugendliche durch Verzichtsexperimente gesundheitsbewussteres
Konsumverhalten entwickeln. Dafür zwei Praxisbeispiele:
Praxisbeispiel: „Alkohol. Irgendwann ist der Spaß vorbei.”
Unter diesem Motto startete das Büro für Suchtprävention Hamburg im November 1999
mit Plakaten, Kinospots, Anzeigen und Info-Cards eine Kampagne zur Reduzierung riskanten
Alkoholkonsums Jugendlicher im Alter von 15 bis 17 Jahren. Die mittlerweile auch in
anderen Bundesländern verwendeten Medien dieser Kampagne thematisieren eines der wichtigsten
Motive jugendlichen Alkoholkonsums: die Geselligkeitsförderung. Plakate und Karten
erzählen humorvoll und unter Verzicht auf Belehrung Konsumgeschichten, die genussvoll
beginnen und mit Peinlichkeiten enden:
-
Endlich mal wieder gute Musik. - Alle tanzen. - Alle lächeln mich an. - Alle kreischen
mir zu. - Wo ist eigentlich mein Top geblieben?
-
Petra kennen gelernt. - Petra zum Lachen gebracht. - Petra abgeknutscht. - Petra in
den Ausschnitt gekotzt.
Die Kampagne knüpft so an die Erfahrungen vieler Jugendlicher an und motiviert, über
die eigenen Grenzen in Bezug auf Alkoholkonsum nachzudenken. Sie liefert dadurch Orientierungen.
An vielen Schulen werden mithilfe der Kampagnenplakate kreative Schreibprojekte durchgeführt,
in denen Jugendliche die Geschichten eigener oder miterlebter Konsumerfahrungen z.
B. nach dem Muster der Kampagne als Denkanstöße auch für andere aufschreiben.
Praxisbeispiel: „Kontrollierter Konsum durch initiierte Abstinenz”
Um SchülerInnen die Möglichkeit zu geben, das eigene Verhalten sinnlich zu erfahren,
zu hinterfragen und ggf. zu verändern, wird in Schleswig-Holstein bereits seit 1994
dieser gründlich evaluierte Baustein schulischer Suchtprävention durchgeführt. Er
besteht im Wesentlichen aus folgenden, aufeinander aufbauenden Modulen:
-
Befragung der teilnehmenden Schulklassen in Bezug auf ihr Konsumverhalten
-
Vorstellung und Diskussion der Befragungsergebnisse
-
Auseinandersetzung mit den Motiven, den erwünschten Wirkungen und unerwünschten Folgen
des Konsumverhaltens
-
Beschäftigung mit den Entstehungsbedingungen von Suchtproblemen
-
kritische Reflexion der eigenen „lieben Gewohnheiten”
-
individuelle Vereinbarungen zum vierzehntägigen Verzicht (Reduktion) auf ein Suchtmittel
oder auf eine Verhaltensweise wie Fernsehen, Naschen etc.
-
Abstinenz-/Reduktionsversuche
-
begleitende Besprechungen von alternativen Verhaltensweisen, anderen Hilfsquellen
und Schwierigkeiten
-
Auswertung der Erfahrungen
Unwissenheit kann Verhaltensunsicherheiten begünstigen, kann Abstinenzentscheidungen
oder die Aneignung von gesundheitszuträglichen Konsumformen erschweren. Die Vermittlung
von Wissen über die Wirkungen und Folgen des Gebrauchs legaler und illegalisierter
Drogen, so ein weit verbreiteter aktueller Standpunkt, muss daher Bestandteil suchtpräventiver
Bemühungen sein. Dabei gilt es, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Drogenkundliche Angebote sollten nach heutigem Erkenntnisstand altersgemäß, unaufgeregt
und ohne erhobenen Zeigefinger sowie unter Verzicht auf Überdramatisierungen und Bagatellisierungen
sachgerecht erfolgen.
Darüber hinaus scheinen sich für die Drogenaufklärung folgende Qualitätsstandards
durchzusetzen:
-
zielgruppenspezifisch an den vorhandenen Erfahrungen und Fragen anknüpfen. Diese ergeben sich nicht nur durch eigenen Konsum, sondern auch durch Anschauungen
in der Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und im Freundeskreis sowie durch mediale
Vermittlung. Empfänger aufklärerischer Botschaften müssen diese einordnen und verarbeiten
können. Daraus kann eine Entwicklung gesundheitsförderlicher Einstellungen und Verhaltensweisen
erwachsen. Informationen und Gespräche über illegale Drogen im Kindesalter sind zum
Beispiel in der Regel nicht angemessen. Aber wenn Kinder um sich herum den Konsum
von Cannabis erleben, oft Heroinabhängigen begegnen und Spritzbestecke finden oder
ihr Interesse an diesen und anderen illegalen Drogen durch die Medien stark geweckt
wird, dann müssen sie auch Antworten auf ihre Fragen bekommen.
-
Klärungen ermöglichen statt belehren. Es kommt darauf an, Fragen so aufzugreifen oder aufzuwerfen, dass es zum Nachdenken,
zu Gesprächen und eigenen Nachforschungen motiviert. Selbstgewonnene Erkenntnisse
haben einen größeren Einfluss auf Einstellungen und Verhalten als passiv konsumierte
Informationen. Besonders bewährt haben sich dabei „peer-to-peer”-Projekte und die
Einbeziehung selbstkritischer KonsumentInnen. Der Austausch mit Gleichaltrigen, Gleichgestellten
oder mit reflektierten Erfahrenen erhöht die Glaubwürdigkeit aufklärerischer Botschaften.
Praxisbeispiele:
-
„Haschisch - Gute Seiten, schlechte Seiten” für Jugendliche kombiniert mit „Information für Eltern, Lehrer und Erzieher zu Haschisch
und Marihuana”, eine ansprechend gestaltete und Gespräche stiftende Broschüre des
Jugend- und Drogenberatungszentrums Hannover für Jugendliche und Eltern.
-
„Cannabis denn Sünde sein?” mit dem ersten Kiffertest. Eine Broschüre rund ums Kiffen” (1998) des Therapieladens
e. V. in Berlin, weitergeführt mit der Broschüre und der Webpage „Drogen und Du” inklusive
dem selbstreflexiven Kommunikationsangebot „Check Dein Risiko” (2001).
-
„Info-Cards”: Gefördert durch die Europäische Union hat das Hamburger Büro für Suchtprävention
zusammen mit dem Jellinek-Zentrum in Amsterdam und Lifeline in Manchester ab 1996
mit peeredukativen Methoden geschlechtsspezifische „Info-Cards” zu Ecstasy entwickelt
und evaluiert, die auf Techno-Großveranstaltungen und in Techno-Discos von Peers verteilt
werden. Die Anliegen des Projekts sind, unter EcstasykonsumentInnen Informationen
über substanzspezifische Konsumrisiken zu verbreiten, dem Übergang von Probier- und
Gelegenheitskonsum zu abhängigem Gebrauch vorzubeugen und Selbstkonzepte durch konsumbegleitende
Beratung und Lebenshilfe zu stärken.
Basisfähigkeiten fördern
Die Vermittlung von drogenkundlichem Wissen befähigt zur Vermeidung von Konsum- und
Suchtrisiken nur dann, wenn die Personen der Zielgruppe in der Lage sind, dieses Wissen
in ihrem Handeln auch zu berücksichtigen. Das hängt entscheidend davon ab, ob sie
über genügend Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl verfügen, kommunizieren, soziale
Kontakte herstellen und aufrechterhalten können, konfliktfähig sind, mit Entwicklungsaufgaben,
Problemen und Krisen gesundheitsbewusst zurechtkommen, Konsumanimationen durchschauen
und widerstehen können. Risikokompetenz setzt Kenntnisse und die beschriebenen Stärken
und Fähigkeiten voraus.
Die Förderung dieser persönlichen Ressourcen ist nach wie vor als eine wesentliche
Aufgabe von Suchtprävention wahrzunehmen. Persönlichkeitsförderung in diesem Sinne
kann nicht erst im Jugendalter einsetzen. Sie muss bereits in der Familie und Vorschulerziehung
beginnen. Gleichzeitig ist sie langfristig und kontinuierlich anzulegen. Schließlich
entwickelt sich eine starke Persönlichkeit, die weiß, was gut für sie ist, nicht von
heute auf morgen.
Praxisbeispiele: „Fit und stark fürs Leben” und „Eigenständig werden”
„Fit und stark fürs Leben. Persönlichkeitsförderung zur Prävention von Aggression,
Rauchen und Sucht” lautet der Titel eines Unterrichtsprogramms, das im Rahmen des
Aktionsplans „Europa gegen den Krebs” entwickelt worden ist und vom Ernst-Klett-Grundschulverlag
seit 1998 für die Klassen 1-6 in drei Heften angeboten wird. Es enthält für jeweils
zwei Schuljahre 20 stimmig aufeinander aufgebaute, gut strukturierte Unterrichtsvorschläge
mit einer Fülle konkreter altersangemessener Anregungen (Lieder, Entspannungsübungen,
Phantasiereisen, Rollenspielvorlagen, Beobachtungs-, Reflexions- und Arbeitsaufträge)
zu folgenden Schwerpunkten: Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen, Umgang mit
Stress und belastenden Emotionen, Kommunikation, kritisches Denken, Standfestigkeit
und Problemlösen. Es regt SchülerInnen zum selbstständigen erfahrungsbezogenen Lernen
an [31]. Die hier beschriebenen Qualitätsmerkmale gelten auch für das „Unterrichtsprogramm
für die Gesundheitsförderung und Suchtprävention - Eigenständig werden”, das mit Unterstützung
der Stiftung Mentor-Deutschland vom Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung
in Kiel entwickelt wurde und verknüpft mit Lehrerfortbildungen an deutschen Schulen
verbreitet wird.
Lustvolle Alternativen zum Drogenkonsum ermöglichen
Je langweiliger, erlebnisärmer und öder Jugendliche ihr Leben empfinden, desto attraktiver
wird für sie der Gebrauch von Drogen und die Vernachlässigung von Konsumrisiken. Diesen
Erkenntnissen ist mit erlebnispädagogischen Angeboten Rechnung zu tragen, die neben
der Stärkung von Selbstachtung und Konfliktfähigkeit Glücksmomente durch Grenzerfahrungen,
besondere Erfolge und positive Gruppenerlebnisse vermitteln. Dazu gehören Gruppenaktivitäten
wie Zirkus-, Kletterwand- oder andere risikobetonte Sportprojekte, abenteuerliche
Unternehmungen in der Natur („outward bound” etc.), die sich erheblich vom normalen
Alltag eines/r Jugendlichen unterscheiden, aber auch mediale, bildend künstlerische,
Theater- und Musikprojekte [32]. Gemäß den Empfehlungen der BZgA-Expertise zur Primärprävention des Substanzmissbrauchs
kommt es insbesondere bei Jugendlichen mit sozialen Belastungen und Problemverhalten
darauf an, Alternativerfahrungen zum Drogengebrauch und suchtriskanten Verhalten zu
vermitteln.
Praxisbeispiel: Kölner Spielecircus
Unter dem Motto „Starke Kinder - Gemeinsam gegen Sucht” bietet das Team von Heiner
Kötter und Dr. Harald Schmid im Rahmen der BZgA-Kampagne „Kinder stark machen” einen
schulischen Suchtpräventionstag mit Erlebnissen in der Zirkusmanege für jeweils 60-150
Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 6 bis 8 an. Der Suchtpräventionstag beginnt
mit Informationen zur Frage „Wie können wir uns vor Sucht und Drogen schützen?” Anschließend
bereiten die teilnehmenden SchülerInnen in unterschiedlichen Workshops (gruppendynamische
Spiele, Trommeln und Tanz, Akrobatik und Jonglieren, Rollenspiele) jeweils einstündige
Präsentationen für eine Abschlussveranstaltung vor. Die Präsentationen sollen den
geladenen Eltern, Lehrkräften und MultiplikatorInnen verdeutlichen, was Kinder brauchen,
um stark genug für ein Leben ohne Sucht und Drogen zu sein.
Aufhebung der strikten Trennung zwischen primärer und sekundärer Suchtprävention:
frühzeitige gezielte Hilfen bei problematischem Drogenkonsum
Es wird geschätzt, dass mindestens 90 % der Jugendlichen Drogengebrauch nur transitorisch
während der Lebensphase Jugend („adolescence-limited”) betreiben. Bei bis zu 10 %
könne jedoch davon ausgegangen werden, dass sie vor dem Hintergrund biografisch kumulierter
Belastungen und eines sich schon seit früher Kindheit aufbauenden Problemverhaltens
zu riskantem Drogenkonsum neigen würden [19]. Diese Risikogruppen, z. B. Kinder aus suchtbelasteten Familien oder Kinder mit
sexuellen Missbrauchserfahrungen, benötigen gezieltere Ansprachen und Hilfen.
Die Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit empfahl daher
in ihrer Stellungnahme zur Verbesserung der Suchtprävention im Juni 2002 die Aufgabe
der strikten Trennung von primären und sekundärpräventiven Maßnahmen. Bundesweit setzt
sich die Erkenntnis durch, dass an der Schnittstelle von Suchtprävention zum Hilfesystem
Früherkennung und Frühinterventionsmaßnahmen aufgebaut werden sollten. Das erfordert
Kooperationen zwischen Schulen, außerschulischen Freizeiteinrichtungen und ambulanten
Suchtberatungsstellen.
Praxisbeispiel: „Bekifft in der Schule - Hilfen für Schulen zur Vorbeugung und Lösung
von Problemen”
Als Antwort auf die Zunahme jugendlichen Cannabiskonsums auch vor und während der
Schulzeit hat das SuchtPräventionsZentrum der Behörde für Bildung und Sport in Hamburg
zusammen mit Suchtberatungsstellen ein Qualifizierungs- und Hilfsangebot für Schulen
vor allem zur Früherkennung und Frühintervention entwickelt.
Wesentliche Bestandteile sind:
-
Unterstützung bei der Entwicklung und Verankerung tragfähiger Regeln für den Umgang
mit Drogenkonsum sowie von Maßnahmen bei Regelverletzungen;
-
Training schulischen Personals zur Problemwahrnehmung und motivierenden Gesprächsführung;
-
Hilfe beim Aufbau und der Durchführung einer „minimalen Intervention” für SchülerInnen,
die in problematischer Weise Cannabis konsumieren. MithiIfe eines so genannten H&M-Tests
(Haschisch und Marihuana) werden die vorhandenen Kenntnisse überprüft, aufgefrischt
oder korrigiert. Ein Kiffertagebuch hilft bei der kritischen Reflexion des Cannabisgebrauchs,
der Klärung von Konsummotiven und -alternativen. Bei Bedarf werden weitergehende Hilfen
vermittelt.
Praxisbeispiel: Modellprojekt „Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten
(FreD)”
Dieses an 15 Standorten in acht Bundesländern erprobte Projekt bietet erstauffälligen
jungen KonsumentInnen im Alter von 14 bis 21 Jahren nach einem so genannten „intake-Gespräch”
ein möglichst freiwillig anzunehmendes achtstündiges Kursangebot zur Information/Aufklärung
sowie Beratung im Hinblick auf Drogen, Gesundheits- und Rechtsfragen. Zumeist sind
Polizei und Jugendgerichtshilfe die Vermittlungsinstanzen. Ziel des Angebots ist es,
die Risiken einer sich anbahnenden Abhängigkeit zu reduzieren und einem Abrutschen
in die Kriminalität entgegenzuwirken.
Offene Fragen, Probleme und Optionen
-
Der Begriff „Suchtprävention” scheint zuweilen zu eng, um die Vielfalt, Differenziertheit
und Integration der aktuellen präventiven und gesundheitsförderlichen Konzepte widerzuspiegeln.
Es geht heute nicht nur um die Befähigung zur Vermeidung von Suchtproblemen, sondern
auch von anderen Konsumrisiken. Man muss nicht AlkoholikerIn oder von Cannabis abhängig
sein, um durch Alkoholkonsum bzw. Cannabisgebrauch im Straßenverkehr, in der Schule
oder am Arbeitsplatz Probleme zu bekommen. Angesichts der Heterogenität von Maßnahmen,
Konzepten und Zielen wird moniert, dass auf vielen Ebenen der Suchtprävention immer
noch eine inkohärente bis verwirrende Begrifflichkeit herrsche [33]. Eine präzisere Fassung des Leitbegriffs ist auch unseres Erachtens wünschenswert,
aber sicher in einer kurzen, prägnanten Formulierung schwierig und aufgrund der Etabliertheit
des Begriffes wahrscheinlich kaum einzuführen.
-
Die Praxis der Suchtprävention setzt nach wie vor zumeist auf der Verhaltensebene
an. Die gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihren Suchtprävention erschwerenden Strukturen
werden zu wenig berücksichtigt. Das betrifft verschiedene Aspekte:
-
Angesichts der Werbeausgaben für Alkohol, Tabak und Psychopharmaka sowie der Grundbotschaft
vieler Werbungen „Bedürfnisbefriedigung durch Konsum, und zwar sofort!” ist es schwierig,
dagegen suchtpräventive Orientierungen für den Umgang mit Suchtmitteln zu vermitteln.
Ein Konsumparadigma ist für die Suchtprävention schädlich. Hilfreich wären Werbeverbote
für die legalen Drogen, um die allgegenwärtigen Konsumanimationen für diese Substanzen
wesentlich zu reduzieren. Den Mut zu diesem Schritt und die dafür nötige Konfliktbereitschaft
muss die Drogenpolitik aufbringen. Tabakwerbung erhöht die Anfälligkeit von Jugendlichen,
mit dem Rauchen zu beginnen. Länder mit Werbeverboten für Tabakwaren (Finnland, Frankreich,
Neuseeland und Norwegen) weisen eine erheblich höhere Reduzierung des Konsums auf
als Deutschland [34].
-
Von vielen Menschen wird es als doppelmoralisch empfunden, dass die gesetzlichen Maßnahmen
zur Einschränkung des Konsums einiger Drogen in keinem ausreichend (toxiko)logischen
Zusammenhang mit ihrer psychischen und physischen Schädlichkeit stehen, gleichzeitig
die Vermarktung von Alkoholika und deren Konsum fast grenzenlos toleriert wird. Da
der Erfolg suchtpräventiver Bemühungen nicht zuletzt von der Glaubwürdigkeit ihrer
Botschaften abhängt, benötigen wir unbedingt eine drogenpolitische Klärung, wie zukünftig
mit legalen und illegalen Drogen umgegangen werden soll. Ist es zu verantworten, dass
an Tankstellen und Autobahnraststätten Alkoholika verkauft werden dürfen? Was muss
geschehen, damit Jugendschutz ernster genommen wird? Das betrifft den Verkauf von
Alkoholika und „Alcopops” an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren im Widerspruch
zu den geltenden gesetzlichen Bestimmungen sowie die weltweit höchste Dichte von Zigarettenautomaten
in der Bundesrepublik Deutschland - zumeist in Reichweite auch für Kinderhände. Könnte
die Entkriminalisierung des Erwerbs und Besitzes von Cannabis und anderen Substanzen
zum Eigenverbrauch nicht ein wichtiger Schritt auch im Sinne von Suchtprävention sein,
um die Attraktivität des Verbotenen aufzuheben, offene Kommunikation zu ermöglichen
und in diesem Klima Risikokompetenzen zu fördern?
-
Was kann die Förderung von Selbstachtung und Konfliktfähigkeit im hier beschriebenen
Sinne erreichen, wenn belastende Lebensbedingungen und -ereignisse ihre Entwicklung
und Anwendung gravierend behindern oder sogar nicht zulassen? Suchtprävention muss
sich deshalb grundsätzlich für die Verbesserung solcher Verhältnisse einsetzen. Strukturelle
Bedingungen wie Arbeitsplätze, Lehrstellen und ausreichende Jugendfreizeitangebote
stellen nach [13] die „wesentlichen Grundpfeiler” erfolgreicher primärer Suchtprävention dar.
-
Bei ihrem sinnvollen Bemühen um Erlebnisalternativen zum Drogengebrauch sollte die
Suchtprävention nicht jedem Konsumtrend der Erlebnisgesellschaft hinterherhecheln
und mit einer Überdosis pädagogischer Angebote Kindern und Jugendlichen die Luft für
eigene Phantasien und Aktivitäten nehmen. Es ist aus suchtpräventiver Sicht zu begrüßen,
wenn Kinder und Jugendliche sich mit allen Sinnen und schöpferischem Eigensinn ihre
scheinbar banalen Lebenswelten auf aktive, abenteuerliche Weise soweit wie möglich
selbst nur erschließen und gestalten. Ein Leben im Stil des Huckleberry Finn, so bilanziert
[35] therapeutische Erfahrungen, schützt vor Suchtrisiken.
-
In der praktischen Umsetzung des Konzeptes der Förderung von Risikokompetenz tun sich
Probleme auf. Die unterschiedlichen Gefährlichkeiten der Substanzen müssen genauso
bedacht werden wie die unterschiedlichen Voraussetzungen verschiedener Zielgruppen.
Feldversuche hinsichtlich des Umgangs mit der gesellschaftsfähigen Droge Alkohol lassen
sich wohl am ehesten verantworten. Abgesehen davon ist zu betonen, dass suchtpräventive
Angebote zur Förderung der Risikokompetenz nicht für jede/n Heranwachsenden oder Erwachsenen
gleichermaßen geeignet sind. Infrage kommen nur Zielgruppen, deren Lebenslagen, Entwicklungsvoraussetzungen
und Lebensstile Potenziale zur Ausprägung dieser Kompetenz vermuten lassen, die im
Übrigen immer auch Abstinenz als Verhaltensoption mit enthält.
Safer-Use-Aufklärungen sollten sich nicht an Jugendliche wenden, die die jeweils angesprochenen
Drogen noch gar nicht konsumieren. Das könnte zum Konsum animieren und sich damit
kontraproduktiv für Suchtprävention auswirken. Ein vorverlagerter Konsumbeginn durch
zu frühe explizit risikobezogene Informationen z. B. wäre schädlich, ja fatal. Für
Alkohol und Partydrogen liegen eindeutige Anzeichen dafür vor, dass ein zu früher
Experimentier- und Konsumbeginn die Möglichkeit der Kompetenzentwicklung, der Transitionierung
und der Selbstkontrolle in späteren Jahren massiv behindert, wenn nicht unmöglich
macht.
Aus primärpräventiver Sicht ist auch zu fragen, ob eine Vielzahl der Heranwachsenden
nicht prinzipiell mit Angeboten zur Förderung von Risikokompetenz überfordert ist,
ob ihnen durch diese „Modernisierung” der Suchtprävention der Prozess der Sozialisierung,
Ressourcenbildung und Entwicklung von Selbstwirksamkeit nicht sogar noch erschwert
würde. Vor dem Hintergrund massiver sozialer Ungleichheiten sowie neuer sozialökologischer
Ungleichbehandlungen wäre es naiv, der Suchtprävention zu unterstellen, sie vermöge
durch ihre Interventionen, Chancengleichheit im Kompetenzerwerb zu erzeugen. Für Informationsaufnahme
wie für praktisches Risikomanagement, für individuelle Selbstkontrolle und pädagogische
Risikobegleitung gibt es immer gut oder zumindest mittelmäßig zugängliche, genauso
wie weitgehend unzugängliche Gruppen und Lebenslagen („hard to reach”). Letztere sind
in der Regel am Grad ihrer sozialen Belastung, an Bildungsdefiziten und einem Status
als „Modernisierungsverlierer” zu erkennen.
Unklar ist trotz erheblicher Anstrengungen in der aktuellen Sozialisations- und Jugendrisikoforschung
weiterhin, welchen Umfang diese Gruppen haben und welcher Veränderungsdynamik sie
unterliegen. Für die Minderheit der bereits vor dem Jugendalter auffälligen Kinder
heißt Suchtprävention vorrangig Früherkennung in Verbindung mit erzieherischer, sozialpädagogischer
oder therapeutischer Einflussnahme auf die Verhaltensstörungen [36]. Angebote dafür gilt es verstärkt in pädagogischen Institutionen sowie in Kinder-,
Jugend- und Hausarztpraxen aufzubauen [37]. Denn Lebenskompetenzförderung mag auch für Risikojugendliche nützliche Wirkungen
beim Übergang ins Jugendalter entfalten. Sie wirkt aber nicht auf die grundlegenden,
die nach Silbereisen „eigentlichen” Risikofaktoren dieser Gruppe.
Präventiv umsetzbare Handreichungen auf der Grundlage allgemeiner wie risikobezogener
entwicklungswissenschaftlicher Forschung fehlen besonders für die Altersphase von
10 bis 13/14 Jahren. Über die Realisierungsmöglichkeiten abgestufter Interventionen
zur Begleitung von Risikoerfahrungen liegen etliche subjektive Theorien und private
Einzelfallmodelle vor, es gibt aber bei weitem zu wenige wissenschaftlich begründete
Projektauswertungen oder übertragbare Ergebnisse aus der empirischen Wirkungsforschung.
Das einer verengten Forschungstradition anzulastende Mangelwissen über gelungene Risikokarrieren
und über erfolgreich bestandene drogenbezogene Transitionsprozesse in der Jugend und
in späteren Lebensphasen bleibt zu beklagen.