Einleitung
Im letzten Jahr berichtete der SPIEGEL in einem kurzen Beitrag über „Geschultes Saufen”
für Jugendliche (Spiegel, Nr. 40/2002). In diesem Projekt, das unter dem Motto „Wer
es lernen will, muss es ausprobieren” steht, soll ein vernünftiger Umgang mit Alkohol
geübt werden. Was bei unbedarften Lesern und Leserinnen möglicherweise Kopfschütteln
auslöst, hat in der Suchtprävention seit einiger Zeit Konjunktur.
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit solchen Selbsterfahrungsübungen als Methode
der Suchtprävention. Dieser konzeptionelle Ansatz ist in der Suchtprävention relativ
jung und noch nicht sehr weit verbreitet. Der Begriff „Selbsterfahrungsübung” bezieht
sich hier nicht in einem weiteren Sinne auf Projekte, in denen die Beteiligten im
Rahmen von thematischen Einheiten, Rollenspielen oder Erlebnispädagogik neue Erfahrungen
machen, sondern fokussiert ganz konkret auf angeleitete Selbsterlebnisse im Umgang mit Sucht- und Genussmitteln. Diese pädagogisch begleiteten Übungen können den Verzicht, die Reduktion oder den
Gebrauch von Substanzen (bzw. Medien) beinhalten und formulieren den Anspruch, eine
primär- und/oder sekundärpräventive Wirkung zu entfalten. Die Zielsetzungen können
dabei verschieden sein bzw. sich auch gegenseitig ergänzen: die Abstinenz von bestimmten
Substanzen, ein gesundheitsbewusstes und kontrolliertes Konsumverhalten, die Aneignung
von Risikokompetenz oder die Fähigkeit zu genießen. Häufig verschmelzen in diesen
Projekten primär- und sekundärpräventive Ziele zu einem ganzheitlichen Ansatz.
In diesem Beitrag wird erstmalig für diese Art suchtpräventiver Intervention eine
Übersicht zum Stand von Praxis und Forschung gegeben. Nach einer typologischen Einordnung
werden der theoretische Ansatz und als Kern des Artikels einige praktische Beispiele
vorgestellt. Abschließend erfolgt ein kurzer Ausblick, indem gleichzeitig auf den
wissenschaftlichen Kenntnisstand eingegangen wird.
Typologische Einordnung
Selbsterfahrungsübungen zielen auf die Veränderung bzw. Manifestierung individueller
Verhaltensweisen ab. Sie sind der Gruppe der verhaltenspräventiven Interventionen
zuzuordnen. In diesem Bereich können folgende Programmtypen unterschieden werden [1]:
-
Informationen, Wissensvermittlung
-
Förderung der Lebenskompetenz
-
Standfestigkeitstraining
-
Stressmanagement
-
alternative Freizeitgestaltung
-
Erlebnispädagogik
-
Peer-education-Ansätze
-
Verzichtsprogramme
Selbsterfahrungsübungen als eigenständiger Programmtyp tauchen in solchen Systematisierungen
bisher nicht auf. Dies liegt daran, dass angeleitete Selbsterlebnisse mit Konsumieren
und Verzichten - wie schon erwähnt - eher selten sind.
Die bekannten Interventionen, wie der schulische Nichtraucherwettbewerb, wurden bislang
Verzichtsprogrammen oder dem Standfestigkeitstraining zugeordnet [1].
Die Abgrenzung von Selbsterfahrungsübungen zu originären sekundärpräventiven Ansätzen,
wie z. B. Drug-Checking oder Safer-Use-Tipps, besteht darin, dass sie in einem pädagogischen
Setting stattfinden und immer interaktiv sind. Sie sind professionell angeleitet und
enden mit einer gemeinsamen Auswertung der gemachten Erfahrungen. Zudem geht es bei
ihnen in der Regel nicht nur um Risikominimierung beim Gebrauch bestimmter legaler
und illegaler Substanzen, sondern um das individuelle Konsumverhalten insgesamt. Schließlich
richten sich Selbsterfahrungsübungen immer an nicht abhängige Personen.
Theoretischer Ansatz
Selbsterfahrungsübungen basieren - explizit oder implizit - auf der sozialen Lerntheorie
bzw. der damit verbundenen Selbstwirksamkeitstheorie von Bandura [2]
[3], die als empirisch gut untermauert und praxisrelevant gelten. Diese stellen auch
die theoretische Grundlage für einige Lebenskompetenz- oder Standfestigkeitsprogramme
(„resistance self-efficacy”) dar. Danach werden Fähigkeiten und Einstellungen über
Lernprozesse erworben; ein funktionales Verhalten kann sozial erlernt werden.[1] Bandura spricht vom „Lernen am Modell” durch Beobachtung von Verhalten und dessen
Reproduktion und spätere Anwendung (Nachahmung). Im Einzelnen kann sich das darin
ausdrücken, dass neue Verhaltensweisen erlernt, Hemmschwellen für bereits vorhandenes
Verhalten steigen bzw. sinken oder dass ein bestehendes Verhalten ausgelöst wird.
Dabei können die Individuen feststellen, wie man durch das eigene direkte Verhalten
Einfluss auf die Ergebnisse des Handelns hat. Durch diese „Selbstwirksamkeit” (self-efficacy)
wird die individuelle Handlungsautonomie gestärkt [3]. Unter Selbstwirksamkeit wird die subjektive Überzeugung verstanden, schwierige
Aufgaben oder Lebensprobleme aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können. Dazu
gehört beispielsweise das „Kontrollierbarkeitserleben”, d. h. die Überzeugung, Kontrolle
über ein Ereignis ausüben zu können [3]. Auch die Gewissheit, einer Versuchung widerstehen zu können, kann als eine spezifische
Form der Selbstwirksamkeit betrachtet werden [4]. Die hierfür benötigten Kompetenzen müssen aber erst noch entwickelt werden. Durch
„Erfolgserfahrungen” bei diesen selbstregulativen Zielerreichungsprozessen können
dann Verhaltensweisen manifestiert werden.
Pädagogisch-didaktische Programme, die auf dem Ansatz der sozialen Lerntheorie und
der Selbstwirksamkeitstheorie fußen, arbeiten zur Verhaltensbeeinflussung häufig mit
Rollenspielen (Theaterstücke, Fantasiereisen etc.). In der suchtpräventiven Arbeit
können dies auch Verzichtsübungen sein. Daran wird das Lernen von (neuen) Verhaltensweisen
geübt. Eine solche Verhaltensweise kann auch der selbstkontrollierte Umgang mit Sucht-
und Genussmitteln sein. Denn schädlicher Drogenkonsum ist mitbedingt durch einen Mangel
an Selbstkontrolle [5]. „Neben der Konsumfähigkeit lassen sich durch soziale Lernstrategien auch Fähigkeiten
zum Konsumverzicht, vermittelt beispielsweise über Selbstwirksamkeitserwartungen hinsichtlich
der Bewältigung von Belastungen oder dem Widerstehen sozialen Drucks erwerben” [6].
Praktische Beispiele
Im Folgenden sollen einige praktische Beispiele für Selbsterfahrungsübungen vorgestellt
werden. Diese kommen bzw. entstammen alle dem deutschsprachigen Raum. Eine Literaturrecherche
in der Datenbank der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EDDRA
= Exchange on Drug Demand Reduction Action) ergab bei weit über 100 primär- und sekundärpräventiven
Maßnahmen drei Treffer für Selbsterfahrungsübungen (B., C., G.).[2] Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass diese Art der Intervention in der europäischen
Praxis noch wenig verbreitet sein dürfte. Die anderen vier Projekte (A., D., E., F.)
entstammen einem geplanten Handbuch der Suchtprävention, das bald erscheinen wird
[7].
A. „Initiierte Abstinenz”
Bei dieser Übung verzichten die Schüler und Schülerinnen in einem zweiwöchigen Zeitraum
auf ein Sucht- bzw. Genussmittel oder schränken ihren Konsum stark ein (bzw. stellen
eine Verhaltensweise ein oder schränken ihre Ausübung stark ein). Als Verzichtsgegenstände
kommen dabei Substanzen wie Süßigkeiten, Alkohol, Zigaretten oder Cannabisprodukte
genauso infrage wie Medien, z. B. Computerspiele oder Fernsehen.
Hinter dieser Maßnahme steckt die lerntheoretische Annahme, dass das Erleben eines
bewussten Verzichtes im frühen Alter einen eigenverantwortlichen und problembewussten
Umgang mit Sucht- und Genussmitteln (Alkohol, Zigaretten, Süßigkeiten etc.) fördert
und zu einem entsprechenden Konsumverhalten führt (auch bei Fernsehen und Computerspielen).
Ein besonderes Element dieses Unterrichtsprogramms ist, dass es an die konkreten Erfahrungen
der Schüler mit Sucht- und Genussmitteln anknüpft. Zu diesem Zweck bildet eine anonyme
Befragung der Schüler einer Klasse den Ausgangspunkt der suchtpräventiven Maßnahme.
Die jeweilige klassenspezifische Konsumsituation wird den Schülern anhand von Folien
zurückgespiegelt. (Dies ist der grundlegende Bestandteil des suchtpräventiven Rahmenprogramms
„Gläserne Schule” aus Schleswig-Holstein.) Durch die Darstellung dieses „Konsumprofils”
werden die Schüler zu den Verzichtsgegenständen geführt, die für sie (bzw. die Klasse)
relevant sind und möglicherweise ein Problem darstellen.
Die Intervention wurde in einem Kontrollgruppendesign im Rahmen einer von der EU geförderten
Studie evaluiert [8]. Die Ergebnisse zeigen, dass das Unterrichtsprogramm nicht nur von den Schülern
und Lehrern akzeptiert und positiv bewertet wird, sondern dass es bei einem erheblichen
Teil der Schüler auch zu einer Konsumreduktion kommt (in dem 6-monatigen Untersuchungszeitraum).
Eine ähnliche Maßnahme wird auch in Salzburg (Österreich) durchgeführt: „Ich bin so
frei! 3-Wochen-ohne.” Der Unterschied zur „Initiierten Abstinenz” liegt darin, dass
bei diesem Programm die Verzichtsphase drei Wochen umfasst, sich die Klasse auf nur
eine Substanz bzw. eine Verhaltensweise als Verzichtsgegenstand verständigt und dass
die Maßnahme ohne Befragung und Darstellung des Klassenprofils durchgeführt wird.
Evaluationsergebnisse zu diesem Projekt liegen nicht vor.
B. „Be Smart - Don’t Start”
Bei diesem Programm handelt es sich um einen Wettbewerb zum Nichtrauchen für Schulklassen.
Es ist inzwischen in vielen europäischen Ländern verbreitet. Die Zielgruppe der Maßnahme
sind Schüler der Klassenstufen 5 bis 8, d. h. die Altersgruppe der 11- bis 14-Jährigen.
Die Zielsetzung des Programms liegt einerseits darin, eine möglichst langfristige
Verzögerung bzw. gänzliche Verhinderung des Einstiegs in das Rauchen bei nichtrauchenden
Schülern zu erreichen. Andererseits soll die Einstellung des Rauchens bei den Schülern,
die bereits mit dem Rauchen experimentieren, so beeinflusst werden, dass sie nicht
zu regelmäßigen Rauchern werden.
„Be Smart - Don’t Start” zielt darauf ab, das Nichtrauchen durch die Chance auf einen
Gewinn attraktiv zu machen und als Normverhalten bei den Jugendlichen zu etablieren.
Die Erfahrung des bewussten Nichtrauchens soll belohnt werden. Der Ansatz dieses Programms
unterscheidet sich von daher von klassischen Interventionskonzepten, in denen häufig
die Vermittlung negativer Folgen des Rauchens im Mittelpunkt steht.
Der Wettbewerb wird auf Klassenebene durchgeführt und die Schüler der teilnehmenden
Klassen verpflichten sich, ein halbes Jahr lang nicht zu rauchen. Die Klassen, die
das Ziel erreichen, nehmen an einer Gewinnziehung teil und können viele attraktive
Preise gewinnen.
Die vorliegenden Evaluationen zu dem Programm zeigen, dass der Wettbewerb eine hohe
Akzeptanz bei Schülern und Lehrkräften besitzt [9]. Darüber wurde im Rahmen einer Kontrollgruppenstudie mit Messwiederholung überprüft,
ob die Kampagne geeignet ist, den Einstieg in das Rauchen bei Jugendlichen zu verzögern.
Die Ergebnisse zeigen in der Follow-up-Messung (vor und ein halbes Jahr nach Ende
des Wettbewerbs) einen um 5 % geringeren Anstieg neuer Raucher in der Experimentalgruppe
im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Ergebnisse geben Hinweise darauf, dass diese
Art der Intervention geeignet ist, den Einstieg in das Rauchen bei Jugendlichen zu
verhindern bzw. zumindest zu verzögern.
C. „Junge Männer im Straßenverkehr - Voll im Griff!”
In dem Bundesland Niedersachsen wurde ein Projekt erprobt, mit dem das Risikobewusstsein
junger männlicher Erwachsener (18 bis 24 Jahre) beim Umgang mit Alkohol am Lenkrad
gestärkt werden soll. Das Ziel ist Punktnüchternheit im Straßenverkehr. Dadurch soll
erreicht werden, dass die Zahl der alkoholbedingten Unfälle, die bei dieser Zielgruppe
überdurchschnittlich hoch ist, gesenkt wird.
Die Teilnehmer an dieser Maßnahme müssen in Begleitung eines Fahrlehrers drei Testfahrten
durchführen: eine ohne Alkoholeinfluss, eine nach der ersten Alkoholeinnahme (Promillewert
dann zwischen 0,2 und 0,4) und eine dritte Fahrt, nachdem erneut Alkohol getrunken
worden ist (Promillewert: 0,5-0,8).
Die Fahrlehrer machen sich zu jeder Testfahrt Notizen. Außerdem werden die Fahrten
auf Video aufgenommen. Beide Aufzeichnungen werden dann zusammen mit den Teilnehmern
in einem Workshop ausgewertet.
Die Evaluation hat ergeben, dass diese Selbsterfahrungsübung zu einer Sensibilisierung
der Teilnehmer in Bezug auf ihren Umgang mit Alkohol führt und positive Effekte auf
das weitere Fahrverhalten der Teilnehmer hat (siehe auch die ausführliche Projektbeschreibung
in diesem Heft).
D. „Saufen will gelernt sein”
Dieser spezifische Alkoholbaustein des suchtpräventiven Rahmenprogramms „Gläserne
Schule” aus Schleswig-Holstein zielt darauf ab, die schädlichen Wirkungen des Alkoholgebrauchs
bei jungen Menschen zu vermindern [10]. Es wird ein kontrollierter Umgang mit alkoholischen Getränken angestrebt. Das Projekt
richtet sich an Jugendliche (in der Regel 15- und 16-Jährige), die schon über Konsumerfahrungen
mit Alkohol verfügen bzw. gelegentlich oder regelmäßig Alkohol trinken.
Zu diesem Zwecke formulieren die (konsumerfahrenen) Jugendlichen selbst gesetzte Regeln
- so genannte „Selbstaufträge” - in Bezug auf ihren Umgang mit alkoholischen Getränken,
an die sie sich über einen Zeitraum von (zunächst) drei Wochen halten sollen. Dabei
können die SchülerInnen zwischen vier verschiedenen „Trinkregeln” wählen: vom vollständigen
Alkoholverzicht über „ich trinke nicht, wenn ich Probleme habe” oder „ich betrinke
mich nicht” bis hin zu „ich trinke höchstens am Wochenende Alkohol”. Begleitend werden
thematische Übungen durchgeführt und Informationen zum Thema Alkohol gegeben. Am Ende
der drei Wochen werden die gemachten Erfahrungen gemeinsam reflektiert. Die Intervention
ist bislang noch nicht evaluiert worden.
E. „Wer nicht genießt, wird ungenießbar”
In diesem Projekt aus Südtirol (Italien) geht es darum, Jugendliche zwischen 12 und
16 Jahren zur Genussfähigkeit zu erziehen [11]. Die Zielsetzungen dieses Projekts sind im Einzelnen: Steigerung der Genussfähigkeit,
kontrollierter Konsum von Genussmitteln, Anregung zu bewusster Ernährung und gesundem
Verhalten.
Das Programm setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen, u. a. die Reflexion
des eigenen Gesundheits- und Konsumverhaltens in Form eines Genusstagebuchs, ein Genussparcours,
Planung und Vorbereitung eines Büfetts, je zwei Einheiten über gesunde Ernährung,
ein Kochstudio, Wasserverkostung (verschiedene Leitungs- und Mineralwasserproben),
das Mixen von alkoholfreien Cocktails für Partys, ein Nachmittag zum Thema „Häppchen
für Partys”, vier Verzichtwochen für Freiwillige mit wöchentlicher Reflexion und abschließendem
gemeinsamen Pizzaessen. Die konkreten Inhalte und Methoden werden auf die jeweiligen
Ziele der teilnehmenden Klassen abgestimmt. Die interne Auswertung des Programms zeigt
eine hohe Akzeptanz der Teilnehmer. Beobachtet wurde ein verändertes Gesundheits-
und Konsumverhalten bei einem Teil der Jugendlichen. Eine externe Evaluation des Projekts
hat es bislang nicht gegeben.
F. „Risflecting”
Die Entwicklung von Rausch- und Risikokompetenz ist die Zielsetzung dieses Projekts
aus Österreich (www.risflecting.at). Dabei wird vorausgesetzt, dass Rausch- und Grenzerfahrungen
für viele Jugendliche ein wichtiger Bestandteil ihrer Lebensqualität sind. In angeleiteten
und selbst organisierten Settings tauschen die Teilnehmer - in der Regel sind das
13- bis 15-jährige Jugendliche - ihre Rausch- und Grenzerfahrungen aus, erproben Alternativen
und reflektieren Wirkungen und Nebenwirkungen dieser Erlebnisse.
Folgende Selbsterfahrungsübungen werden dabei u. a. durchgeführt: Waldspaziergang
mit verschlossenen Augen, DJ-Workshops, Cocktail-Mix-Seminar, „Darkroom-Party” (Party
im Dunkeln mit Bar und Musikanlage) und eine gruppendynamische Reise. Bei der letztgenannten
Übung planen die Jugendlichen eine zweitägige Reise, bei der das Ziel erst am Tag
der Abreise festgelegt wird. Die Funktion der professionellen Betreuer beschränkt
sich auf Beobachtung; sie greifen nur in den Prozess ein, wenn gesetzliche Grenzen
überschritten werden.
Die dabei gemachten positiven und negativen Erfahrungen werden unter professioneller
Anleitung mit dem Ziel ausgewertet, zukünftig die Wirkungen bestimmter Erlebnisse
zu verstärken und bei anderen die Risiken zu minimieren.
Das Projekt ist bislang weder wissenschaftlich begleitet noch evaluiert worden.
G. „Spielzeugfreier Kindergarten”
Dieses Projekt passt zwar nicht ganz in den Rahmen der vorgenannten Maßnahmen, soll
aber trotzdem kurz vorgestellt werden, weil es sich auch hier um Lernen am oder besser:
ohne Gegenstand handelt.
Ziel dieses suchtpräventiven Projekts im Kindergarten ist die Lebenskompetenzförderung
(www.spielzeugfreierkindergarten.de). Für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten
werden Spielzeug und alle Materialien (wie z. B. Papier und Stifte) aus dem Kindergarten
entfernt, so dass letztendlich nur noch das Mobiliar vorhanden ist. Dadurch soll für
einen begrenzten Zeitraum ein neuer Spielraum, ein neuer Erfahrungsraum geschaffen
werden, in dem Kinder ihre eigenen Fähigkeiten, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigenen
Grenzen und Möglichkeiten erkennen können. Durch die temporäre Entfernung des Spielzeugs
erhalten die Kinder die Chance, sich stärker auf Gruppenprozesse einzulassen, verschiedene
Positionen in der Gruppe zu erproben und sich in anderen Rollen zu versuchen.
Das Projekt wurde fachlich extern begleitet. Es gibt inzwischen in Deutschland, aber
auch in der Schweiz und Österreich zahlreiche Kindergärten, die das Projekt durchgeführt
haben. Im Jahr 1999 wurde dem „Network for Mental Health Promotion for Children up
to 6 years” das Projekt in Brüssel präsentiert. Es wurde in die Liste der „effektiven
Modellprojekte” aufgenommen.
Ausblick
Selbsterfahrungsübungen als Methode der Suchtprävention gewinnen offensichtlich immer
mehr an Bedeutung. Über ihre Effektivität kann noch keine abschließende Aussage getroffen
werden. Dafür liegen bislang zu wenige Evaluationsstudien und entsprechend empirisch
gesicherte Erkenntnisse aus diesem Bereich vor. Die vorhandenen Untersuchungen sind
jedoch viel versprechend und deuten darauf hin, dass diese Art von suchtpräventiver
Intervention wirkt und ein vernünftiger Umgang mit Sucht- und Genussmitteln erlernt
werden kann. Dafür spricht auch die generelle Erkenntnis, dass mit interaktiven Programmen
bessere Ergebnisse zu erzielen sind als mit reiner Wissensvermittlung, wie eine kürzlich
vorgelegte Metaanalyse über schulische Suchtpräventionsprogramme zeigt [1].
Der Ansatz der Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit hat nicht nur in der Prävention,
sondern auch im Bereich der Behandlung suchtkranker Personen in den letzten Jahren
an Bedeutung gewonnen. Es gibt hier zunehmend Manuale und Anleitungen für selbstinitiierte
Ausstiegsprozesse aus der Sucht bzw. für einen kontrollierten Konsum [12]. Auch Therapieprogramme, die nicht ausschließlich auf die vollständige Abstinenz
der Klienten zielen, wie beispielsweise das „10-Schritte-Programm zum selbstständigen
Erlernen des kontrolliertes Trinkens”, etablieren sich im deutschsprachigen Raum zunehmend
[13]. Diese Programme zeigen, dass zahlreiche Alkoholiker in der Lage sind, ein kontrolliertes,
mäßiges Konsummuster zu erlernen. Dies kann nur dann erfolgen, wenn das „kontrollierte
Trinken” im Bewusstsein der Betreffenden als reale Möglichkeit existiert - wenn es
also Teil ihrer Selbstwirksamkeits- bzw. Kompetenzerwartungen geworden ist.
Experimente und Selbsterfahrungsübungen mit Sucht- und Genussmitteln als suchtpräventive
Methode stoßen jedoch dort an ihre Grenzen, wo betäubungsmittelrechtliche Regelungen
tangiert sind. So dürften angeleitete Übungen zum Umgang mit Cannabisprodukten auch
weiterhin tabu sein. Nur im Rahmen von Modellversuchen wäre dies denkbar. Beispielsweise
hätte das (gescheiterte) Projekt „Cannabis in Apotheken”, mit dem die Drogenmärkte
getrennt werden sollten, für einen solchen Zweck genutzt werden können [14]. Trotz dieser Beschränkung auf legale Sucht- und Genussmittel sei abschließend die
Prognose gewagt, dass Selbsterfahrungsübungen als Methode der Suchtprävention ihre
Zukunft noch vor sich haben.