In den letzten 15 Jahren hat sich die Suchtprävention in der Schweiz stark entwickelt.
Die Versorgung aller Regionen mit Fachstellen der Prävention ist weitgehend sichergestellt.
Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat stabile Partnerschaften mit wichtigen
Akteuren aus den Bereichen der Schule, der Gemeinden, des Sports, der Jugendverbände
und der Jugendheime entwickelt. Gemeinsam werden langjährige, landesweite Präventionsprogramme
in diesen Lebenswelten oder „Settings” durchgeführt. Eine wichtige Beobachtung dabei
ist, dass diese primärpräventiven Aktionen zwar vielerorts eine gute Akzeptanz erhalten,
aber nicht genügend an gefährdete oder „schwierige” Jugendliche herankommen. Offen
bleibt auch die Frage nach der Wirkung und damit letztlich nach der Kosten-Nutzen-Relation
der Primärprävention. Offensichtlich ist außerdem, dass Eltern, Schulen und Gemeinden
zunehmend hilflos sind gegenüber störenden Erscheinungen unter Jugendlichen wie extensivem
Alkohol-, Tabak- und Cannabisgebrauch, aber auch Gewalt gegen Mitmenschen und Vandalismus.
Dies alles bildete für das BAG den Anlass, im Jahr 2000 ein Impulsprogramm zur Sekundärprävention
zu lancieren. Ziel war, Kantone und Gemeinden zu motivieren, neuartige Präventionszentren
für gefährdete Jugendliche einzurichten. Diese sollten eine drohende soziale Desintegration
der Jugendlichen verhindern helfen und gleichzeitig den oft überforderten Lehrern,
Ausbildern und Eltern eine spürbare Entlastung bringen. Supra-f steht für „Suchtprävention
- Forschung”, das heißt, die Wirkung der Intervention sollte mittels wissenschaftlicher
Methoden objektiv gemessen werden. Der Aufbau und der vierjährige Betrieb eines Präventionszentrums
wurden vom BAG mit rund 500 000 CHF (ca. 320 000 €) unterstützt.
Intervention
Intervention
Im Mittelpunkt der präventiven Intervention steht das supra-f-Zentrum, ein Haus oder
ein Hausteil an zentraler Lage einer Stadt oder eines Quartiers. Das Zentrum ist in
der Regel von Montag bis Freitag tagsüber geöffnet und bietet eine Vielzahl sozialpädagogischer
und schulischer Förderungsmaßnahmen an: Stützunterricht, Aufgabenhilfe, Sprachförderung,
Kommunikations- und Sozialtraining, Gruppengespräche, Einzelberatung, gemeinsames
Mittagessen, Freizeitgestaltung. In einigen Zentren haben darüber hinaus die von der
Schule weg gewiesenen „unhaltbaren” SchülerInnen die Möglichkeit, einen regulären
Schulabschluss zu erlangen. Entsprechend den vielseitigen Angeboten sind die Teams
beruflich bunt gemischt: Erzieher, Psychologen, Lehrer, Handwerker, Künstler.
Die Zentren können gleichzeitig um die 15-20 Jugendliche im Alter von 11-20 Jahren
während rund sechs Monaten betreuen. Die meisten Jugendlichen werden von der Schule
zugewiesen, einige auch von der Jugendanwaltschaft oder anderen Behörden und Diensten.
Für die Aufnahme in das Programm ist die Zustimmung der Jugendlichen und ihrer Eltern
nötig. Die meisten supra-f-Zentren werden durch eine bestehende Institution der Jugendhilfe geführt. Ein supra-f-Zentrum kostet im Durchschnitt 430 000 CHF (280 000 €) pro Jahr. Bei einer Betreuung
von 30 Jugendlichen macht dies rund 14 000 CHF (9000 €) pro Person aus.
Obwohl das Programm im Rahmen der Bundesmaßnahmen zur Verminderung der Drogenprobleme
durchgeführt wird, orientiert sich der Ansatz von supra-f nicht an einzelnen Substanzen
oder an der Sucht, sondern an der aktuellen „Gesamtsituation” der gefährdeten Jugendlichen.
Der Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis ist heute unter Heranwachsenden dermaßen
verbreitet, dass sich die Unterscheidung zwischen einem experimentellen, gelegentlichen
und problematischen Konsum aufdrängt. Unter Fachleuten geht man daher davon aus, dass
der Substanzkonsum nur im Zusammenhang mit psychischen und sozialen Beeinträchtigungen
zum Problem wird und sich zu einem Syndrom verdichtet, das fälschlicherweise oft als
„Drogenproblem” etikettiert wird.
Forschungsdesign
Forschungsdesign
Über die Wirksamkeit präventiver Interventionen bei gefährdeten Jugendlichen weiß
man relativ wenig. Die Forschung zu supra-f soll Zusammenhänge zwischen Formen von Interventionen und gefährdeten Jugendlichen
sichtbar machen. supra-f wurde als Lernfeld für Forschung und Praxis konzipiert. Der kontinuierliche Austausch
von Forschungsresultaten und Beobachtungen aus der Praxis soll Verbesserungen in der
Praxis anregen.
Konkret prüft die Forschung, welche Hilfestellungen in welcher Intensität für welche
Gefährdung das beste Resultat zeigen. Für die supra-f-Zentren werden folgende Fragen untersucht: Werden tatsächlich Jugendliche erhöhter
Gefährdung erreicht? Können sie im Zentrum gehalten werden? Verändern sich die Jugendlichen
in die erwünschte Richtung? Wie gut gelingt die soziale Integration bei Abschluss
des Programms? Bleiben die Veränderungen auch nach dem Programm erhalten oder gibt
es „Rückfälle”? Sind die Zuweiser und das Umfeld zufrieden? Werden sie entlastet?
Die multizentrische Studie umfasst 12 Zentren, je 6 in der deutschen und in der französischen
Schweiz. Um die Entwicklung der Jugendlichen möglichst zuverlässig zu erfassen, sind
insgesamt vier Erhebungen vorgesehen:
-
bei Eintritt ins Programm
-
bei Austritt
-
12-18 Monate nach Austritt
-
24-30 Monate nach Austritt.
Es wird nach kurzfristiger (Prä-post-Vergleich), nach mittelfristiger (Follow-up nach
18 Monaten) und nach langfristiger Integration (30 Monaten) unterschieden.
Parallel zu dieser Interventionsgruppe wird eine Vergleichsgruppe von Jugendlichen
erfasst, die nicht an einem supra-f-Programm teilnimmt, sonst aber eine mit der Interventionsgruppe
vergleichbare Belastungssituation aufweist.
Die Datenerhebung bei den Jugendlichen erfolgt in den Zentren teils mittels Interviews
durch Forschungsassistenten, teils online durch die Jugendlichen am Computer. Um die
unterschiedlichen Strukturen und Interventionsarten der einzelnen Zentren erfassen
zu können, wurde ein Aktionsplan entwickelt. Alle Mitarbeiter müssen mit diesem Instrument
ihre Aktivitäten und die dafür aufgewendete Zeit regelmäßig erfassen. Als Oberkategorien
der Aktivitäten gelten individuelle Beratung, schulische und berufsfördernde Aktivitäten
sowie Projekte und Freizeit.
Die Forschung hat bis Juni 2003 1148 Jugendliche erfasst (719 in der Interventionsgruppe
und 429 in der Vergleichsgruppe). Davon sind 32 % Mädchen und 68 % Jungen. 43 % sind
zwischen 11 und 15 Jahre alt, 57 % 16- bis 20-jährig. Ausländische Jugendliche und
Doppelbürger sind mit 57 % (20 % in der Gesamtbevölkerung) deutlich übervertreten,
was auf die besonderen Belastungsfaktoren dieser Gruppe hinweist.
Ergebnisse
Ergebnisse
Als Erstes interessiert, ob das supra-f-Programm überhaupt die beabsichtigte Zielgruppe
der gefährdeten bzw. belasteten Jugendlichen erreicht. Die meisten Jugendlichen werden
infolge massiver Verhaltens- und/oder Lernschwierigkeiten in Schule und Arbeitsplatz
den supra-f-Zentren zugewiesen. Diese Schwierigkeiten können zwar für sich alleine
bereits die weitere gesunde Entwicklung und soziale Integration der Jugendlichen erschweren
und rechtfertigen deshalb eine unterstützende Intervention. Inwieweit verstecken sich
aber dahinter tiefer liegende psychische Beeinträchtigungen, die wo möglich eine spezifischere
Intervention erfordern?
Die Gesamtverbreitung psychischer Störungen im Jugendalter schwankt je nach Studie
zwischen 15 % und 20 %. Die hier präventiv erreichten Jugendlichen liegen mit einer
„Morbiditätsrate” von 34 % erheblich darüber. Indikatoren der Morbidität in supra-f
sind die Ängstlichkeit, Depression und Suizidalität (internale Störungen) sowie Substanzkonsum
und Delinquenz (externale Störungen). Die Aufteilung in vier Gruppen unterschiedlich
ausgeprägter Morbidität gibt einerseits Hinweise zur Notwendigkeit einer differenzierten
Intervention je nach Störungsbild und andererseits ermöglicht sie die Beschreibung
des Verlaufs der vier Gruppen über die Zeit.
Abb. 1 Die supra-f-Stichprobe gegliedert nach 4 Gefährdungsgruppen (n = 1124).
Abb. [1] zeigt zusammengefasst, dass sich rund 2/3 der supra-f-Jugendlichen hinsichtlich
der allgemeinen Befindlichkeit im normalen Bereich dieser Altersgruppe befinden. Das
restliche Drittel hingegen weist stark erhöhte Belastungen auf und kann als klinische
Population bezeichnet werden. Besonders hervorgehoben sei die hohe Suizidalität (79
%) in der Gruppe mit hoher Depressivität und Ängstlichkeit.
Wie wirksam ist supra-f? Diese Frage kann auf verschiedenen Ebenen gestellt und beantwortet
werden. Ein erster Vergleich der Verläufe über 3 Messpunkte (t0, t1, t2) bei rund
200 Jugendlichen zeigt keine wesentlichen Unterschiede in den psychosozialen und Verhaltensvariablen
zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. In beiden Gruppen sind geringe Veränderungen
zu beobachten, was nicht erstaunt, ist doch die Beobachtungszeit von rund 18 Monaten
eher kurz. Für die Frage nach dem Nutzen von supra-f-Einrichtungen sind andere Ergebnisse
von größerer Bedeutung. So ist die hohe Zufriedenheit der Jugendlichen wie auch der
Zuweiser ein Hinweis dafür, dass das Angebot offenbar einem Bedürfnis entspricht und
zumindest kurzfristig für das Umfeld eine Entlastung bringt. Auf der politischen Ebene
hat das Programm bewirkt, dass alle Zentren auch ab 2004 und ohne Bundesförderung
von den Kantonen und Gemeinden weitergeführt werden. Auf der fachlichen Ebene schließlich
geben das Programm und seine Ergebnisse eine Menge von Erkenntnissen, die in einem
zweiten Impulsprogramm des BAG zur Sekundärprävention umgesetzt werden sollen.
Die bisherigen Erfahrungen und Auswertungen des sekundärpräventiven Programms supra-f
haben für die Praxis der Prävention einige wichtige Erkenntnisse ergeben, die hier
abschließend und stichwortartig genannt werden:
-
Es gibt keine homogene Gruppe von „Risiko-Jugendlichen”.
-
Sekundärprävention beginnt deshalb mit einer Diagnostik oder „Eintrittsbeurteilung” jedes einzelnen Jugendlichen. Es muss insbesondere geklärt
werden, ob ein Jugendlicher „hinter” seiner Verhaltensproblematik (z. B. in der Schule,
Berufslehre oder zu Hause) tiefer liegende psychische und soziale Belastungen aufweist.
In unserer Stichprobe war dies bei immerhin 34 % der Fall.
-
Aufgrund der Diagnose wird ein Interventionsplan erstellt. Je nach Diagnose sind andere
Schwerpunkte der Intervention angebracht; deshalb wird auch von „indizierter Prävention”
gesprochen. Wer in der Sekundärprävention arbeiten will, muss wissen, mit welchen
Gefährdungen er arbeiten will (und kann) und seine fachlichen und finanziellen Mittel
entsprechend planen.
-
Eine zeitliche Begrenzung des Programms macht insofern Sinn, als Plätze für neue Jugendliche
frei werden. Allerdings muss in jedem einzelnen Fall geklärt werden, ob nicht ein
Anschlussprogramm nötig ist, um eine längerfristige Stabilisierung zu erreichen.
-
Die positive Beeinflussung des Substanzkonsums geschieht am ehesten durch die Verbesserung
der allgemeinen Befindlichkeit, des Selbstwertes und der Familienbeziehungen.
-
Für die Gemeinden und insbesondere die Schulen scheint supra-f eine praktikable Form
der Sekundärprävention zu sein. Das System der präventiven Versorgung wird mit einem
Angebot ergänzt, das zumindest kurzfristig sichtbare und entlastende Effekte zeigt.