Als sich die antituberkulöse Chemotherapie als Therapie der Wahl erwiesen und anfangs
der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts nach und nach durchgesetzt hatte, trat bald
eine Reihe von praktischen Problemen stärker in den Vordergrund. Eines betraf die
lange Dauer der Medikamenten-Einnahme (damals 18 bis 24 Monate). Mit dieser Zeitspanne,
wesentlich länger als heutigentags erforderlich und durch die geringere Wirksamkeit
der damals verfügbaren Medikamente bedingt, hatten manche Patienten große Schwierigkeiten.
Derart lange Medikamentengaben waren unbekannt und ungewohnt, sonst unüblich; hinzu
kam die Furcht vor den Nebenwirkungen der Behandlung, welche auch nicht selten in
Erscheinung traten.
Zur damaligen Zeit war eine Kooperation der Patienten somit sicherlich noch schwerer
zu erreichen als jetzt: Die Dauer der medikamentösen Therapie, ihre Nebenwirkungen
bei längerfristiger Gabe von Mehrfachkombinationen und die schlechtere Verträglichkeit
auch der einzelnen Komponenten führten viel häufiger dazu, dass der Patient die Therapie
abbrach, weil er sich subjektiv bald besser fühlte; damit wurde es schwieriger, die
weitere Behandlung einzusehen und zu akzeptieren, zumal die verbleibenden Beschwerden
lediglich durch die Medikamente bedingt waren beziehungsweise auf diese bezogen wurden.
Diese Patienten, welche die Therapie vorzeitig abbrachen, wurden als „unzuverlässig”
eingeordnet. Zu ihnen gehörten natürlich auch diejenigen, welche prinzipiell unfähig
und/oder nicht willens waren, die Medikamente langfristig in eigener Regie verlässlich
und regelmäßig einzunehmen.
Um auch diesen Patienten eine Heilungschance zu eröffnen, wurde mancherorts eine kontrollierte
Behandlung angeboten, vorwiegend während eines stationären Aufenthaltes. Das heißt, dass diese Patienten zustimmten, ihre Medikamente unter
Aufsicht, „strikt überwacht”, einzunehmen.
Der erste Bericht über Erfahrungen in Deutschland mit dieser Behandlungsmöglichkeit
während einer ambulanten [1]
[2] Tuberkulosetherapie wurde 1973 von mir publiziert [3]. Es handelte sich um 41 Patienten aus den Jahren 1968 - 1972, welche an einer infektiösen
Lungentuberkulose litten und aus disziplinarischen Gründen mehrfach eine Klinik verlassen
mussten oder den stationären Aufenthalt eigenmächtig abgebrochen hatten. Unter ihnen
waren vor allem Alkoholiker [4] und dissoziale Menschen (Debile, Rauschgiftsüchtige, völlig Haltlose, Obdachlose
und Kriminelle), an denen Kliniken und Gesundheitsbehörden gescheitert waren.
Als Kriterien für die Aufnahme in diese Studie „ambulante überwachte Chemotherapie”
galten:
-
eine mindestens zweimalige disziplinarische und/oder eigenmächtige Beendigung des
Klinikaufenthaltes,
-
wiederholte inkorrekte Medikamenteneinnahme während der ambulanten Behandlung; dies
ließ sich durch die Berechnung des Zeitraumes, für den die verordneten Medikamente
nur hätten ausreichen müssen, erkennen,
-
eindeutiges Rezidiv unter einer der Bakteriensensibilität angepassten und korrekt
verordneten Therapie,
-
und/oder eine schon aus früherer Behandlung bekannte mangelhafte Kooperation des Patienten.
Die Einwilligung des Patienten zu einem solchen Vorgehen zu erlangen war nicht schwierig.
Denn dadurch entging er disziplinarischen Maßnahmen, wie Zwangsunterbringung (bei
offener Tuberkulose) oder Sperrung der Sozialunterstützungen. Schwieriger war es schon,
die Einwilligung der Kostenträger zu erhalten. Bedeutete doch eine strikt überwachte
ambulante Therapie, dass die Patienten täglich (fünfmal in der Woche) die Praxis aufsuchen
mussten. Und das überschritt im Allgemeinen das Budget des Kassenarztes. Aber obwohl
diese Form der ambulanten Behandlung bisher in Deutschland noch nicht durchgeführt
wurde, waren die Krankenkassen von dieser Maßnahme zu überzeugen; denn eine ambulante
Behandlung war ja weniger kostenaufwändig als ein monatelanger stationärer Aufenthalt.
Schließlich haben später die Ergebnisse die Maßnahmen gerechtfertigt.
Über 60 % der behandelten Patienten waren Alkoholiker. Über die Hälfte war ledig oder
geschieden. Die überwiegende Zahl der Patienten war ungelernter Arbeiter oder Maurer.
Aber auch vier Patienten aus Krankenpflegeberufen waren darunter.
Die in die Studie aufgenommenen Patienten mussten arbeitstäglich (fünfmal wöchentlich)
die lungenfachärztliche Praxis[1] aufsuchen. Hier erhielten sie ihre Medikamente (in einmal täglicher Gabe) als intravenöse
Infusion, intramuskuläre Injektion beziehungsweise oral. Letztere wurden unter der
Aufsicht einer erfahrenen Sprechstundenhilfe eingenommen. Auch wurden regelmäßig die
erforderlichen Kontrolluntersuchungen vorgenommen [5].
Patienten, die während dieser Therapie auch nicht kooperierten[2], brachen diese vorwiegend bereits innerhalb des ersten Monats nach Beginn der überwachten
Behandlung ab. Wurde der erste Monat aber durchgehalten, dann kamen die Patienten
auch im ganzen ersten Jahr regelmäßig oder mit nur kurzen Unterbrechungen. Wenn hierdurch
auch ein Rezidiv nicht zu erwarten war, zog sich doch die überwachte Therapie durch
solche Unterbrechungen länger hin als gewöhnlich, wobei zu bedenken ist, dass zur
damaligen Zeit die Chemotherapie ohnehin länger durchgeführt werden musste als jetzt.
Bei der Überprüfung, welche Patienten am kooperativsten waren, stellte sich heraus,
dass Alkoholiker im Allgemeinen als kooperativ angesehen werden konnten, selbst wenn
sie schon zerebrale Folgeschäden hatten. Das Gleiche gilt auch für die Gruppe der
im Krankenhaus Uneinsichtigen. In der Gruppe der Dissozialen war dagegen die überwachte
Chemotherapie schlecht praktikabel. Hier hätte man nur mit einem gewissen Erfolg rechnen
können, wenn man die Medikamente den Patienten regelmäßig in die Wohnung hätte bringen
können.
Bei manchen Patienten waren die Beendigung der Injektions- beziehungsweise Infusionsbehandlung
oder die Wiederaufnahme der Arbeit Ursache für ihren Therapieabbruch. Diese Zahl lag
im geschilderten Kollektiv relativ hoch im Gegensatz zu Berichten aus anderen Ländern.
Das erklärt sich daraus, dass sich dort Organisationen mit Psychologen, Fürsorgerinnen
und Schwestern der Patienten annehmen, und dass oft auch noch gewisse Möglichkeiten
des Zwanges bestehen.
Von den 42 Patienten war die überwachte ambulante Therapie bei ⅔ erfolgreich. Bei
diesen Kranken konnte sie über die individuell erforderliche Zeit durchgehalten werden.
Die Tuberkulose besserte sich klinisch und röntgenologisch, eine dauerhafte Sputumkonversion
konnte erreicht werden.
Postskriptum
Vergleicht man das geschilderte Vorgehen mit heutigen Verhältnissen, vor allem mit
der Propagierung von DOT (directly observed treatment) [6] durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), so ist letztere ausgefeilter, weltweit
angewandt und auf einen erheblich größeren Patientenkreis bezogen. Doch klingen die
der Publikation von 1973 zugrunde liegenden Verhältnisse, Überlegungen und Vorgehensweisen,
auch die Ergebnisse, wie ein Vorgriff auf diese derzeit erfolgreiche Strategie (DOT),
welche gleichfalls eine „strikt überwachte” Chemotherapie als ein wesentliches Element
ihres Vorgehens zum Inhalt hat [7].