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DOI: 10.1055/s-2003-814912
Was in der Täterbehandlung wirkt…
Publication History
Publication Date:
28 May 2004 (online)
Peter Fiedler ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Heidelberg.
PiD: Herr Fiedler, Sie haben ein sehr umfassendes Buch geschrieben über sexuelle Orientierungen und sexuelle Abweichungen[1]. Darin beschäftigen Sie sich unter anderem mit Psychotherapieansätzen, insbesondere auch mit der Behandlung von Tätern, speziell Sexualstraftätern. Sie sind Forscher und haben die Ergebnisse der Therapieforschung in diesem Bereich analysiert. Können Sie einen ersten Gesamteindruck der Ergebnisse wiedergeben?
P. Fiedler: Metaanalysen der letzten Jahre zeigen, dass einige Innovationen in der psychologischen Sexualstraftäterbehandlung zwischenzeitlich zu Erfolgen geführt haben, die Anfang der 90er-Jahre noch undenkbar schienen. Damals waren mit therapeutischen Programmen gewisse zusätzliche Erfolge gegenüber Gefängnisstrafen vor allem beim Exhibitionismus und bei sexuellem Missbrauch von Kindern erreichbar. Sorgen bereiteten den Therapieforschern vor allem Vergewaltigungstäter und Sexualmörder, bei denen man mit psychologischen Behandlungsmaßnahmen gegenüber Gefängnisstrafen kaum zusätzliche Erfolge erreichen konnte. Inzwischen konnten aber auch bei den Tätern mit schwereren Sexualdelikten die Zahl der Rückfälle deutlich gesenkt werden.
PiD: Können Sie das in Zahlen ausdrücken?
P. Fiedler: Während ohne Behandlung etwa ein Viertel (also 25 %) aller Missbrauchstäter und Vergewaltiger über kurz oder lang wieder rückfällig werden, kann man diese Zahl mittels Psychotherapie heute deutlich unter 10 % absenken. Das ist beträchtlich, wenn man bedenkt, welche Kosten Staat und Gesellschaft durch Strafverfolgung, Prozesskosten und Unterbringung der Straftäter in Gefängnissen oder Einrichtungen der forensischen Psychiatrie entstehen. Mit ein oder zwei zusätzlich erfolgreich behandelten Straftätern könnte man gut eine Psychotherapeutenstelle finanzieren.
PiD: Was zeichnet Ihres Erachtens erfolgreiche und erfolglose Programme aus?
P. Fiedler: Der Erfolg ist im Wesentlichen auf zwei Veränderungen zurückzuführen. Einerseits ist in den letzten 20 Jahren das Wissen über die Ursachen sexueller Delinquenz enorm angewachsen. Die meisten Sexualstraftäter sind unter sehr ungünstigen familiären und sozialen Bedingungen aufgewachsen, die sie im Laufe des Lebens zu Außenseitern unserer Gesellschaft haben werden lassen. Ihnen mangelt es in aller Regel erheblich an sozialen Fertigkeiten und Bindungskompetenzen, und sie haben in der Jugend im Unterschied zu Altersgenossen selten angemessene sexuelle Erfahrungen machen können.
PiD: Was bedeutet das für die Therapie?
P. Fiedler: Wesentliche Erfolge der aktuell praktizierten Behandlungsprogramme sind darauf zurückzuführen, dass man die therapeutische Vermittlung von sozialen Fertigkeiten und von Bindungskompetenzen zum Kern- und Angelpunkt der Täterbehandlung hat werden lassen. Sexualstraftäter sollen lernen, wie man zwischenmenschliche Beziehungen auf eine befriedigende Art entwickeln, ausgestalten und zur wechselseitigen Zufriedenheit über lange Zeit hinweg leben kann. Wenn dies den Straftätern nach erfolgreicher Behandlung und nach Entlassung aus Gefängnis und forensischer Psychiatrie gelingt, kommen sexuelle Übergriffe, die häufig als Ersatz für reale Beziehungen dienten, viel seltener vor.
PiD: Die Stärkung sozialer Kompetenz ist - so würden viele Behandlerinnen und Behandler sagen - auch heute ein wichtiger Baustein in der Täterbehandlung.
P. Fiedler: Wichtig sind natürlich Umfang und vor allem Konsequenz in der Therapie. Aber ein wohl noch wichtigerer Fortschritt wurde dadurch erzielt, dass man die zunächst im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen erprobte Rückfallprävention auf den Bereich der Sexualdelinquenz übertrug. Im Rahmen eines so genannten Rückfallpräventionstrainings werden Sexualstraftäter auf der Grundlage einer genauen Analyse ihrer jeweiligen Straftaten systematisch darin unterwiesen, wie sie von sich aus ihre persönlichen Rückfallrisiken erkennen und selbstständig vermeiden können. Dabei handelt es sich um eine systematische Schulung und detaillierte Einübung in so genannte Rückfallstrategien, die sich in der Forschung bei Sexualdelinquenz inzwischen als wirksam erwiesen haben. Leider werden sie in dieser Form immer noch nicht überall in bestehende Behandlungskonzepte einbezogen.
PiD: Das heißt, die Patienten sollen sehr genau die Kette mit den frühzeitigen Auslösebedingungen erkennen, die zur Tat geführt hat und auch den Rückfall einleiten könnte?
P. Fiedler: Ja. Es ist nun nachweislich genau diese Art der Rückfallprävention, die zu den bisher beeindruckendsten Verbesserungen geführt hat. Abpuffert wird dieser Behandlungsaspekt übrigens dadurch, dass mit den Straftätern Merkmale erarbeitet werden, an denen andere Personen (Familienmitglieder, Bekannte, Freunde, Bewährungshelfer der Täter) frühzeitig erkennen können, dass ein eventuelles Rückfallrisiko erneut zunimmt. Die Patienten selbst benennen dann eine oder mehrere Personen ihres Vertrauens, die zur Absicherung der Rückfallprophylaxe in die Nachbetreuung einbezogen werden.
PiD: Sie setzen auf „Multimodularität” der Behandlungskonzepte. Was sind Ihres Erachtens die Module, die „im Behandlungspaket” drin sein müssen?
P. Fiedler: Die ersten beiden Module hatte ich bereits angesprochen: Die Entwicklung und Einübung zwischenmenschlicher Beziehungskompetenzen sowie die systematische Einübung und Absicherung einer selbstkontrollierten Rückfallvermeidung. Um nichts weniger wichtig werden heute jedoch auch noch weitere Behandlungsschwerpunkte angesehen: Als unverzichtbare Voraussetzung für das Gelingen der Rückfallprävention gilt inzwischen, dass sich Täter detailliert und gründlich mit den Folgen auseinander setzen, die sie mit ihren Taten bei den Opfern bewirkt haben. Den meisten Tätern mangelt es nämlich eindrücklich an Empathie für die Opfer. Um Opferempathie zu entwickeln, müssen sich zum Beispiel Sexualstraftäter intensiv mit Videos und Berichten über psychische und seelische Schäden von Missbrauchs- und Vergewaltigungsopfern auseinander setzen. Sie werden auch dazu angehalten, detaillierte Angaben zu den Schäden zu machen, die sie selbst bei ihren Opfern durch ihre Taten bewirkt haben.
PiD: Mit welcher Wirkung?
P. Fiedler: Einige Forscher sind inzwischen sicher, dass dieses Therapiemodul entscheidende Einstellungsänderungen bei den Tätern bewirken kann. In einigen Therapieprogrammen dürfen die Täter übrigens erst zu weiteren Therapiebausteinen voranschreiten, wenn sie das Modul der Einübung von Opferempathie erfolgreich durch das Anfertigen schriftlicher Ausarbeitungen der zum Teil verheerenden Folgen ihrer Taten absolviert haben.
PiD: Wir haben jetzt also die Stärkung sozialer und Beziehungskompetenz, das Erkennen persönlicher Rückfallrisiken und Schaffung einer Opferempathie. Sie sprachen noch von weiteren Faktoren.
P. Fiedler: Weitere wichtige Bausteine betreffen unterschiedliche Tätertypen, bei denen zumeist sehr unterschiedliche affektive oder emotionale Probleme bestehen. Eine Reihe von Sexualstraftätern verüben sexuelle Übergriffe, um aus sozialem Stress und psychischen Belastungen auszubrechen oder um psychische Störungen, wie soziale Ängste, Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen, zu überwinden. In solchen Fällen sind Module vorgesehen, in denen Möglichkeiten eines angemessenen Umgangs mit sozialen Belastungen erarbeitet und erprobt werden oder in denen die Behandlung psychischer Störungen im Vordergrund steht.
Vergewaltigungstaten wiederum finden sehr häufig in ehelichen oder partnerschaftlichen Beziehungen statt und sind das Ergebnis einer mangelnden Impulskontrolle der Betroffenen. Für solche Fälle sind spezielle Module vorgesehen, in denen die Betroffenen einen angemessenen Umgang mit Ärger und Wut kennen lernen und Möglichkeiten vermittelt bekommen, wie sie zukünftig ihrem Ärger in konstruktiver Weise Ausdruck verleihen können.
Bei wieder anderen Straftätern, zum Beispiel beim Exhibitionismus gegenüber Kindern oder Erwachsenen, könnten sexuelle Funktionsstörungen oder massive Ängste vor realen sexuellen Beziehungen mitverantwortlich sein, die wieder andere Behandlungsmaßnahmen erforderlich machen.
Kurz: Der Vorteil einer multimodalen Behandlung liegt darin, dass man für sehr unterschiedliche Bedingungen, die für sexuellen Missbrauch und Gewalt infrage kommen, auch auf individueller Ebene therapeutisch angemessene Antworten finden kann.
PiD: Sie ziehen als Konsequenz aus den Metaanalysen, dass die klassische Verhaltenstherapie sexueller Störungen oder die gesprächspsychotherapeutisch oder die psychodynamisch orientierte Einzel- und Gruppentherapie bei Sexualstraftätern als nicht mehr angemessen anzusehen ist. Ergibt sich diese Schlussfolgerung aus fehlenden oder aus negativen Forschungsbefunden dieser Verfahren?
P. Fiedler: Die multimodulare Therapie, wie ich sie eben beschrieben habe, ist das Ergebnis einer inzwischen gut funktionierenden Forschungskooperation unterschiedlicher Forscher in verschiedenen Ländern. Sie kommen vor allem aus Kanada und Australien, aber auch einige Einrichtungen der forensischen Psychiatrie aus den USA und in Europa sind aktiv daran beteiligt. Sie haben die Wirksamkeit der neuen multimodalen Rückfallpräventionsprogramme mit den herkömmlichen Therapieansätzen verglichen und dabei inzwischen eine deutliche Wirksamkeitssteigerung nachweisen können. Wenn man diese Ergebnisse ernst nimmt - und das sollte man zwingend tun - dann kann das nur heißen, dass diese erfolgreichen Behandlungskonzepte auch dort zum Einsatz kommen, wo heute noch mit den eher als „klassisch” zu bezeichnenden Therapiekonzepten gearbeitet wird. Alles andere würde meines Erachtens nicht nur den Sexualstraftätern, sondern auch der Gesellschaft zum Nachteil gereichen. Andererseits bedeutet das nicht, dass man herkömmliche Ansätze grundsätzlich über Bord werfen müsste. Nur sollte auf erfolgreich evaluierte Therapieelemente zukünftig nicht bedenkenlos verzichtet werden.
PiD: Ihre Therapievorschläge umfassen viele Themen sozialer Kompetenzgewinnung. Viele Täter stecken ja bereits in Beziehungen oder kommen aus solchen, Partner, Eltern, Geschwister, Kinder. Wie relevant sind diese Beziehungen und ihre weitere Entwicklung therapeutisch?
P. Fiedler: Sie haben hohe Priorität. Die wohl meisten sexuellen Übergriffe und Gewalttaten finden in familiären und partnerschaftlichen Beziehungen statt oder zwischen Personen, die sich bereits näher kennen. So betrifft denn auch einer der wichtigsten Aspekte des oben beschriebenen Moduls zur Anreicherung von sozialen Kompetenzen den Aufbau und die Einübung zwischenmenschlicher Bindungskompetenzen, und das heißt: Wie können familiäre und partnerschaftliche Interaktionen zukünftig so aufgebaut und ausgestaltet werden, dass sich sexuelle Verfehlungen erübrigen. Und wo dies möglich ist, gehört - wie ebenfalls angedeutet - die Einbeziehung von Angehörigen und vertrauten Personen der Straftäter zur Planung der Rückfallprophylaxe und Stützung während der Zeit der Bewährung nach Entlassung zwingend dazu.
PiD: In Ihren Ausführungen über Ressourcenorientierung führen Sie einige etwas ungewohnt klingende Begriffe ein, wie z. B. Empowerment, Beratung, Coaching oder Wellness. Was konkret empowert den Sexualstraftäter, und wie würden Sie ihn dahin führen?
P. Fiedler: Diese Begriffe verdeutlichen einen weiteren Wandel dessen, was man heute in der Straftäterbehandlung zunehmend in den Vordergrund rückt. Früher ging es vorrangig darum, Probleme der Sexualstraftäter wie ihre sexuelle Devianz wegzutherapieren. Heute steht die Frage im Vordergrund: Wie kann ich den Straftäter befähigen, nach Entlassung aus der Institution ein befriedigendes Leben zu führen, sodass sich für ihn die Devianz als Ersatz für befriedigende Beziehungen erübrigt. Das erfordert neue Aufgaben des Therapeuten: Statt eines Herumtherapierens an Problemen geht es bei der Ressourcenorientierung um kluge Vermittlung zwischenmenschlicher Kompetenzen sowie um eine ebenso kluge und sachliche Beratung und Supervision bei der Übertragung neu gelernter Strategien in den Alltag.
PiD: Supervision von Patientinnen und Patienten? Wofür?
P. Fiedler: Eine Supervision von Patienten mag vielen Therapeutinnen und Therapeuten zunächst befremdlich erscheinen. Man braucht sich jedoch nur zu vergegenwärtigen, was geschieht, wenn Therapeuten selbst um Hilfe und Rat bei einem Supervisor, einer Supervisorin oder bei Kollegen in der Intervision nachsuchen. Supervision von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erfolgt üblicherweise, um mit besonders komplizierten Problemlagen im Berufsleben zurechtzukommen. Supervision gilt nicht ohne Grund als Therapieäquivalent für Psychotherapeuten. Warum sollten nicht auch Patienten von der Supervision eines Psychotherapeuten oder Bewährungshelfers profitieren?
PiD: Wie kann das konkret aussehen?
P. Fiedler: Konkret geht es darum, die Patienten in die Lage zu versetzen, zwischenmenschliche Krisen zu identifizieren, rational zu bewerten und auf sachliche Weise konstruktiv zu bewältigen. Untersuchungen mit Sexualstraftätern verdeutlichen, dass diese sich von anderen Menschen nicht in ihrer Spontaneität unterscheiden, für zwischenmenschliche Probleme konkrete Lösungen zu präsentieren. Sie unterscheiden sich von anderen vielmehr dadurch, dass sie in typischer Weise zumeist ungeeignete Lösungen produzieren. Das gilt es zu verändern. Schrittweise werden kognitive Handlungskonzepte vermittelt, die von der genauen Selbstbeobachtung in zwischenmenschlichen Krisen ausgehend neue Lösungsmuster ermöglichen, mit denen allzu spontane Reaktionen gezielt unterbrochen und auf eine andere Weise als bisher gemeistert werden können.
PiD: Ressourcenorientierung ist also das therapeutische Schlagwort.
P. Fiedler: Ja, und zwar eröffnet die um konkrete Beratung erweiterte therapeutische Ressourcenorientierung völlig neue Gestaltungsspielräume. Es wird nämlich auch noch die aktive Partizipation des Therapeuten an der Neugestaltung von Lebenslagen erwartet.
PiD: Das heißt, dass die Behandlerinnen und Behandler noch stärker eine Beratungsfunktion einnehmen?
P. Fiedler: Ja, genau. Durch Beratung, Training und Supervision wird sich sogar, wie immer schon von Therapeuten aller Therapieschulen gewünscht, das Machtgefälle verschieben: weg vom kompetenten Behandler persönlicher Probleme hin zum Solidarpartner des Patienten - und zwar im gemeinsamen Erarbeiten von Handlungsspielräumen im Umgang mit widrigen Lebensumständen.
PiD: Therapeutinnen und Therapeuten als Partner der Patienten in der forensischen Klinik? Wie lässt sich das mit der Gutachter- oder Beurteilerrolle für Ausgänge, Freigänge, Entlassungen usw. vereinbaren.
P. Fiedler: Dieses Problem ist sicherlich nicht ganz einfach zu bewältigen. Im Kern geht es meines Erachtens um maximale Transparenz. Dass ich mich auf die Seite der Sexualstraftäter begebe, um mit ihnen neue Perspektiven für ihr Leben zu erarbeiten, bedeutet doch nur: ich bemühe mich mit den Patienten zusammen darum, dass die von uns gemeinsam erreichten Erfolge natürlich auch in der notwendigen Beurteilung ihren Niederschlag finden werden. Wir verfolgen gemeinsam das Ziel, dass es zukünftig zu keinen weiteren sexuellen Übergriffen kommen wird. Dadurch wird die Notwendigkeit nicht eingeschränkt, dass ich als Therapeut den Erfolg der Behandlung beurteilen muss. Wichtig ist, dass ich die Straftäter regelmäßig sachlich über meine Einschätzungen aufkläre und kontinuierlich andeute, wie die weiteren Ziele der Therapie aussehen und erreicht werden könnten.
PiD: Gerade die Straftäterbehandlung unterliegt doch einem großen gesellschaftlichen Druck.
P. Fiedler: Sich so weit und radikal vom vor Jahren noch üblichen Therapieren persönlicher Probleme bei Sexualdelinquenz wegzubewegen, dazu hat es in der Tat vieler Jahre bedurft. Zu groß war der gesellschaftliche Druck, primär die Gesellschaft zu schützen. Erst nachdem die Erfolgszahlen Silberstreifen am Horizont signalisierten, konnte man dazu übergehen, auch bei Sexualdelinquenz eine positive Vision von Psychotherapie zu entwickeln - nämlich: die persönlichen Interessen und Bedürfnisse der Sexualstraftäter als gleichwertig neben die gesellschaftliche Forderung nach erfolgreicher Rückfallprävention zu stellen. Das Empowerment von Sexualstraftätern könnte sich bereits auf mittlere Sicht als weiteres unverzichtbares Element zur Absicherung des Therapieerfolgs und zur Verminderung des Rückfallrisikos erweisen.
PiD: Einige Tätertherapien sind in der Öffentlichkeit wegen ihres aggressiv-aversiven Auftretens oft kritisch diskutiert worden: früher die Aversionstherapien, heute die Konfrontationen auf dem Heißen Stuhl. Wie stehen Sie dazu?
P. Fiedler: Die inzwischen zu beiden Aspekten vorliegenden Therapieverlaufsstudien wie zugleich katamnestische Untersuchungen sind in folgender Hinsicht recht eindeutig: Frühere Versuche mit verhaltenstherapeutischer Aversionstherapie waren nicht sehr erfolgreich. Gelegentlich fielen die Rückfallzahlen der auf diese eher bestrafende als heilende Weise behandelten Patienten höher aus als die von gar nicht behandelten Kontroll-Patienten.
PiD: Und der Heiße Stuhl?
P. Fiedler: Übungen mit dem Heißen Stuhl entfalten ihre erhoffte Wirkung offensichtlich nur bei einigen wenigen Patienten. Wurde in Forschungsprojekten auf Übungen mit dem Heißen Stuhl verzichtet, konnten die Rückfallzahlen insgesamt deutlicher als in Projekten mit Heißem Stuhl verringert werden. Das müssen wir unbedingt zur Kenntnis nehmen. Oft sind Therapeuten und Therapeutinnen von der vermeintlichen Wirkung des Heißen Stuhls bei einzelnen Patientinnen und Patienten positiv überrascht, weshalb sie die Wirkungen in Einzelfallberichten positiv dargestellt haben. Gruppenstudien zeigen, dass man dabei die Patienten aus den Augen verliert, die von solchen Übungen nicht profitieren. Die Anzahl derjenigen, die vom Heißen Stuhl und anderen provokativ konfrontierenden Strategien nicht profitieren, scheint ganz offenkundig zu überwiegen.
PiD: Also eine kritische Haltung gegenüber Einzelfallstudien?
P. Fiedler: Ja, die beschriebenen Beobachtungen werfen ein äußerst kritisches Licht auf den Umgang mit Einzelfallstudien im Bereich der Sexualtätertherapien. Mein Fazit: möglichst keine Einzelfallstudien zum Beleg therapeutischer Erfolge. Einzelne Fälle und ihre erfolgreiche Darstellung müssen gerade im Bereich der Sexualdelinquenzforschung sehr (selbst-)kritisch betrachtet werden. Immerhin kommt es bei bis zu 80 % der Sexualdelinquenten nur durch Gefängnisstrafen und ohne therapeutische Behandlung zu keinerlei Rückfällen. In dieser Zahl sind auch zuvor als Wiederholungstäter aufgefallene Personen enthalten. Deshalb verbietet es sich in diesem Bereich, den Erfolg einer Behandlung mit Einzelfällen begründen zu wollen. Zwingend erforderlich sind Gruppenstudien, weil sich erst aus ihnen ablesen lässt, wie erfolgreich ein Behandlungskonzept wirklich ist. Solche Erfolgszahlen liegen meinen einführenden Bemerkungen zugrunde. In Gruppenstudien mit Katamnesezeiten weit über fünf, teils über zehn Jahre hinaus ließ sich das Rückfallrisiko zum Teil auf weit unter 10 % senken.
PiD: Und diese Gruppenstudien sprechen eine klare Sprache in Bezug auf die konfrontative Arbeit in der Täterbehandlung?
P. Fiedler: Die Gruppenstudien zeigen, dass eine systematische und möglichst sachliche Einübung in die Entwicklung einer Empathie für die Opfer sehr viel erfolgreicher ist als konfrontative Übungen mit dem Heißen Stuhl. Die oben beschriebene selbstkritische Auseinandersetzung der Täter mit den eigenen Taten und ihren ungünstigen Folgen für die Opfer (mit dem Ziel einer Einstellungsänderung) lässt sich besser durch eine sachliche und konstruktive Therapiearbeit erreichen. Der Heiße Stuhl führt leider bei einigen Straftätern zur Verstärkung ihrer Reaktanz gegenüber Veränderung. Besonders schlimm ist dies offensichtlich, wenn diese Reaktanz durch die Täter in einer Therapiegruppe geäußert wird. Diese Reaktanz lässt sich später, wenn überhaupt, therapeutisch nur noch sehr schwer auflösen. Wie gesagt, das ist jetzt nicht meine persönliche Meinung, sondern wurde in Verlaufsstudien sehr gut untersucht.
PiD: Heilemann (in diesem Heft) postuliert die Notwendigkeit, Täterinnen und Täter müssten zunächst eine realistisch-schonungslose Bilanz ihrer eigenen „Achievements” machen, um dann klar zu bekommen, woran sie arbeiten müssen. Dem Kaiser klar zu machen, dass er keine Kleider an hat - ist das eine Voraussetzung von Tätertherapie? Klären wir den Begriff: Was genau meinen Sie mit „Konfrontation”?
P. Fiedler: Ich bin dafür, den Begriff „Konfrontation” aus dem Vokabular der Therapeuten zu streichen. Er ist zu mehrdeutig und verführt zu drängenden oder provokativen Strategien. Ich habe oben beschrieben, dass und wie die Entwicklung von Empathie für die Folgen sexueller Übergriffe sachlich und ungeschönt erfolgen kann. Auch Täter erleben Scham und Schuld, auch wenn sie das zunächst nicht zeigen. Und es bedarf gelegentlich an viel Zuwendung, Geduld und Zeit, sie von der Unrechtmäßigkeit ihres Handelns zu überzeugen. Es ist Erfolg genug, wenn die Einsicht in unrechtmäßiges Handeln erst im Verlauf ihrer sowieso langwierigen Behandlung geschieht. Auch in dieser Hinsicht ist die Therapieverlaufsforschung eindeutig. Sexualstraftäter müssen nicht bereits zu Beginn ihrer Therapie Einsicht in schuldhaftes Verhalten bekennen, um erfolgreich zu sein. Selbst eine zu Behandlungsbeginn fehlende Therapiemotivation hat sich in der Therapieforschung bisher nicht als Misserfolgsprädiktor dingfest machen lassen.
PiD: Ihre Ausführungen zu den Wirkfaktoren in der Täterbehandlung haben weit reichende Implikationen für die Arbeitshaltung von Therapeutinnen und Therapeuten.
P. Fiedler: Die Forschungsergebnisse erfordern eine positive Grundhaltung der Therapeuten und Therapeutinnen, die sich um Geduld und Wertschätzung bemüht. Sollen Sexualstraftäter Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen lernen, müssen ihnen ihre Therapeuten mit Vertrauen entgegentreten. Sollen sie Empathie entwickeln, benötigen sie einen empathischen Therapeuten als Modell. Sollen sie anderen Menschen mit Wertschätzung und Respekt gegenübertreten, muss man ihnen selbst mit Wertschätzung und Respekt begegnen. Wie und von wem sollten sie sonst entsprechende Verhaltensmuster lernen? Es ist deshalb nicht sehr verwunderlich, wenn die Forschung zeigt: Es sind jene Therapeuten erfolgreicher, denen es gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten aufzubauen. Wenn übrigens erst einmal Vertrauen zwischen Patienten und Therapeuten besteht, können beide Seiten üblicherweise über alles sprechen. Wohlgemerkt: über alles. Das ist genau die Haltung, die Heilemann auch vertritt. Ich bin nur insofern mit ihm uneins, als ich den auch von ihm empfohlenen und „zur Klarstellung” eingesetzten Heißen Stuhl kritisiere.
PiD: Bei „untherapierbaren” forensischen Wiederholungstätern wird immer wieder dauerhaftes Wegschließen gefordert, nicht zuletzt von der Politik. Wo sehen Sie denn Grenzen der Täterpsychotherapie, gibt es nicht therapierbare Täter oder nicht therapierbare Umstände?
P. Fiedler: „Wegschließen auf immer” widerspricht nicht nur den ethisch-humanen Grundwerten unserer Gesellschaft, sondern auch den Grundrechten des Menschen. Die in den letzten Jahren erreichten Erfolgszahlen haben mich zu der Annahme geführt, dass es möglicherweise völlig unsinnig wäre, die Möglichkeit einer „Unbehandelbarkeit” von Sexualstraftätern gegenwärtig auch nur andenken zu wollen. Für die „Aussonderung” von vermeintlich „unbehandelbaren Patienten” werden von einigen empirisch arbeitenden Sonderlingen in fast schon zynisch anmutender Weise immer stärker reduzierte Einschätzskalen und Tests entwickelt, was auf dem erstrebenswerten Weg erfolgreicher Behandlung und Rehabilitation keinen Schritt vorwärts gebracht hat. Die, die therapeutisch schwer erreichbar sind, werden übrigens zunehmend seltener. Und seltene Fälle verschließen sich üblicherweise der empirischen Forschung. Das gilt es zukünftig für die vermeintliche Validität von „Aussonderungstests” zu beachten. Natürlich sind und bleiben die therapieresistenten Patienten unsere Sorgenkinder, um die wir uns in besonderer Weise bemühen müssen. Angesichts dieser Situation sind übrigens, trotz der Erschwernis, in einzelnen Fällen einen Therapieerfolg zu erreichen, exzellente Einzelfallanalysen bei vorbehandelten Wiederholungstätern erforderlich. Und jene Einzelfallexpertinnen und -experten mit offenem Blick für Alternativen gibt es, was die Sexualdelinquenz angeht, vor allem in deutschen Landen.
PiD: Wie sind die von Ihnen aufgezeigten Therapiemodule bei Patientinnen und Patienten anwendbar, die aufgrund einer geistigen Behinderung oder aufgrund geringer Auffassung oder aufgrund von geminderter Intelligenz wenig auf die herkömmlichen Psychotherapieverfahren ansprechen?
P. Fiedler: Grundhaltung und Grundkonzepte bleiben im Wesentlichen die Gleichen, wie wir sie bis hier angesprochen haben, nur wird man sich mit erheblich mehr Geduld auf erheblich längere Behandlungszeiten einstellen müssen. Zusätzlich erfordern die jeweiligen Hintergründe für eine verminderte Auffassungsgabe einiger Patienten besondere Behandlungsschwerpunkte, die sich aus der jeweiligen Art der Behinderung oder psychischen Störung ergeben.
PiD: Nun werden Ihnen natürlich viele Therapeutinnen und Therapeuten antworten, dass oft noch so gute Therapiekonzepte an den Grenzen der Institution oder der Gesellschaft scheitern. Was antworten Sie denen?
P. Fiedler: Hier bedarf es meines Erachtens viel Aufklärungsarbeit, insbesondere gegenüber und in den Medien, in denen oft ein völlig schiefes Bild über die inzwischen tatsächlich erreichbaren Erfolge vermittelt wird. Letzteres hat dazu geführt, die forensische Therapiearbeit mit Straftätern in der Öffentlichkeit als hoffnungsloses Stiefkind zu betrachten, eine Ansicht, die in völlig unverantwortlicher Weise sogar von einigen Politikern mitgetragen wird. Während beispielsweise in die AIDS-Forschung und HIV-Prophylaxe große Summen öffentlicher Forschungsgelder fließen, werden diese nur zögerlich für die rückfallpräventive Straftäterbehandlung freigegeben. Natürlich wird es immer ein Restrisiko auch bei noch so guten Rückfallpräventionsprogrammen geben. Das Restrisiko ist bei einfachen Gefängnisstrafen deutlich höher anzusetzen, als bei zusätzlichen therapeutischen Maßnahmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich dieses Restrisiko deutlich weiter vermindern ließe, wenn dafür notwendige Ressourcen für die Fortentwicklung tragfähiger Therapieprogramme bereit gestellt würden. Dies zu erreichen, ist eine Aufgabe, der sich Forscher und Therapeuten mehr als bisher offensiv stellen müssen. Wie bereits angedeutet: Die Kosten für Gerichtsverfahren und Unterbringung von Sexualstraftätern sind immens. Es lohnt meines Erachtens, bei der Einwerbung von Mitteln für Behandlungsprogramme und Forschungsgeldern auch mit ökonomischen Argumenten zu werben.
PiD: Welche Trends sehen und welche wünschen Sie sich in dieser Hinsicht in den nächsten Jahren?
P. Fiedler: Wenn sich auch die Anzeichen mehren, dass sich inzwischen deutliche Erfolge mit Blick auf eine Senkung von Rückfallzahlen erreichen lassen, kann dennoch kaum sinnvoll daran gezweifelt werden, dass die Behandlungsansätze zur Resozialisierung von Tätern und Täterinnen auch zukünftig weiter fortentwickelt werden müssen. Dazu kann es sinnvoll sein, dass sich psychotherapeutisch orientierte Forscher im Bereich der Sexualdelinquenz endlich daran machen, ihre Scheu vor der empirischen Überprüfung ihrer Behandlungsperspektiven zu überwinden, wie dies in anderen Bereichen längst beobachtet werden kann. So lohnt sich ein Blick in die „Bibel” der Therapieforscher, dem „Handbook of Psychotherapy and Behavior Change”. Dieses Handbuch ist ein Gemeinschaftswerk von Psychotherapieforschern unterschiedlicher Herkunft - empirisch arbeitenden Psychoanalytikern (vorrangig) und Verhaltenstherapeuten -, die in der schulübergreifend und weltweit vernetzten Society of Psychotherapy Research zusammenarbeiten. Wie diesem Handbuch zu entnehmen ist, finden sich in den unterschiedlichen anerkannten Therapieverfahren dieselben Wirkfaktoren, und auch die Therapieziele ähneln sich mehr, als die jeweils anderen Sprachtraditionen vermuten lassen.
PiD: In diesem Handbuch fehlt aber die forensische Psychotherapie.
P. Fiedler: Leider, einschließlich der Behandlung bei Sexualdelinquenz. Dennoch: Wenn man dies genauer in Augenschein nimmt, gilt die Ähnlichkeit therapeutischer Ziele und Wirkaspekte, wie sollte es anders sein, auch für die Behandlung forensischer Patientinnen und Patienten. Natürlich darf man die Erkenntnisse der Psychotherapieforschung zur Behandlung spezifischer psychischer Störungen nicht einfach auf die Behandlung von Sexualstraftätern generalisieren. Unbestreitbar richtig ist dennoch: Wenn die Kooperation auf dem Weg zur Integration psychotherapeutischer Verfahren in anderen Bereichen bereits funktioniert, warum sollte das nicht auch bei der Entwicklung von Behandlungskonzepten für Sexualdelinquenten möglich sein? Es könnte ja sein, dass jene Patienten, die in den gut erforschten Modulen der Psychotherapie, insbesondere der Verhaltenstherapie, nicht profitieren, vielleicht mit Therapiemodulen anderer Verfahren erreicht werden könnten.
PiD: Wichtig wäre aber auch, dass die Therapeutinnen und Therapeuten an den Erfolg ihrer Maßnahmen glauben.
P. Fiedler: Unbedingt, denn umso mehr überträgt sich diese Haltung auf die Patienten und stärkt die Behandlungsmotivation.
PiD: Vielen Dank, Herr Fiedler, für das Gespräch und viel Erfolg für Ihr Buch.
1 Fiedler P. Sexuelle Orientierung, sexuelle Abweichung. Weinheim: Beltz-PVU, 2004 (im Druck).