Psychiatr Prax 2004; 31(6): 275-277
DOI: 10.1055/s-2003-815027
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

50 Jahre Neuroleptika

50 Years Major TranquilizersAsmus  Finzen
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Publication Date:
19 August 2004 (online)

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Neuroleptika sind immer noch ungeliebte Medikamente. Sie haben nach wie vor einen schlechten Ruf. Dabei ist bemerkenswert, dass sie von der Öffentlichkeit mit größeren Vorbehalten betrachtet werden als von den meisten Kranken mit Neuroleptikaerfahrung: Sie wirkten nur symptomatisch, sie dämpften nur, nähmen den Kranken ihren eigenen Willen und hätten vielfältige unerwünschte Wirkungen. Einiges davon ist richtig, anderes nicht; aber davon später. Richtig ist allerdings, dass die Neuroleptika unvollkommene Medikamente sind, dass sie viele Wünsche offen, viele Hoffnungen unerfüllt lassen - auch die neuen Substanzen, die Neuroleptika der zweiten Generation, die so genannten Atypika.

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Historischer Rückblick

Um die Bedeutung der Neuroleptika für die Psychosebehandlung angemessen zu würdigen, empfiehlt sich ein kurzer Rückblick auf die Psychiatrie ohne Neuroleptika. Dazu müssen wir gar nicht sehr weit zurückgehen: Nach der Entdeckung der „antipsychotischen” Wirkung des Chlorpromazins (Largactil, Megaphen) durch französische Ärzte 1952 und ersten klinischen Tests 1953 begann 1954, also vor genau 50 Jahren, ein wahrer Siegeszug des neuen Medikaments und seiner Nachfolger durch die psychiatrischen Kliniken der Welt, durch die psychiatrischen Anstalten jener Zeit. Die Hälfte dieser Zeit habe ich mit einem Buch begleitet. Auch das ist Anlass für eine kritische Würdigung.

Damals, im ersten Nachkriegsjahrzehnt, stand das 100 Jahre alte System der Versorgung bzw. Verwahrung psychisch Kranker vor dem Zusammenbruch. Für immer mehr Kranke wurde immer weniger Hilfe angeboten. Die Verhältnisse in den Anstalten seien teilweise „menschenunwürdig und unmenschlich” hieß es noch 1973 im ersten Zwischenbericht der deutsche Psychiatrie-Enquete.

Die damals (vor 1954) üblichen Behandlungsmethoden waren Ausdruck der Hilflosigkeit. Dabei waren Insulinkur und Elektrokrampftherapie schon ein Fortschritt gegenüber Dauerbädern, lebensgefährlichen Barbituratschlafkuren und permanenter Einschließung. Ein bedeutender Schweizer Psychiater schrieb in seinen Erinnerungen: Es war die Hölle.

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Euphorische Anfänge

Das war die Ausgangssituation für die vorübergehend euphorische Begrüßung der ersten Neuroleptika. Sie beruhigten Erregte, ohne sie einzuschläfern. Sie vertrieben die psychotische Angst. Sie unterdrückten Halluzinationen. Sie lösten den Wahn auf. Alles das waren Dinge, die vorher kaum jemand für möglich gehalten hatte. Aber sie machten die Kranken nicht gesund, sie heilten sie nicht. Wenn man sie allzu rasch absetzte, flammten die Symptome meist schnell wieder auf. Und sie hatten Nebenwirkungen.

Am Anfang fiel vor allem auf, dass sie in wirksamer Dosis oft gleichzeitig zu Müdigkeit und innerer Trägheit führten, dass sie das verstärkten, was wir später Negativsymptome nannten. Deshalb galt es von Anfang an als Kunstfehler, nur Medikamente zu geben und nicht gleichzeitig Beschäftigung und soziale Anregung zu vermitteln - nicht dass das überall beherzigt wurde! Die extrapyramidalen Nebenwirkungen, die oft zu noch größeren Beeinträchtigungen führten, wurden erst später beobachtet.

Aber mit Hilfe von Neuroleptika hatten die Psychosekranken erst mal eine Chance, ihre Gedanken durch äußere Einwirkungen zu ordnen, hatten ihre Seelen und ihre Körper Gelegenheit, an die Zeit vor der akuten Psychose anzuknüpfen und Prozesse der Selbstheilung einzuleiten; und das sollten wir trotz aller Unzulänglichkeiten der neuen Medikamente nicht unterschätzen.

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Von der Kur zur Hochdosierung

Dabei ist eines zu beachten: Weil die Neuroleptikatherapie ein radikal neues Prinzip war, hatten Therapeuten und Kranke gleichermaßen einen Prozess zum bestmöglichen Umgang mit den neuen Substanzen durchzumachen: Am Anfang stand die Kur, vorzugsweise die Injektionskur über sechs Wochen - wie etwa beim Insulin. Es folgte die niedrig dosierte Tabletten- oder Tropfenbehandlung - etwa 3 mg Haloperidol oder 150 mg Chlorpromazin am Tag über sechs Wochen oder drei Monate; dann die längerzeitige Behandlung zur Rückfallverhütung, schließlich die Dauerbehandlung mit niedrigen Dosen langzeitig wirksamer Depotpräparate.

Das ging eigentlich ganz gut. Aber je mehr - auch im Rahmen der Psychiatriereform - die „therapieresistenten” Langzeitpatienten ins Blickfeld gerieten, desto mehr entgleiste die Neuroleptikabehandlung nach dem Prinzip „viel hilft viel”. Bis zu 3 g (3000 mg) Haloperidol wurden in den USA zeitweilig verabreicht; und bestimmte Interessenvertreter behaupteten dreist, je höher die Dosis, desto geringer die Nebenwirkungen.

Das war natürlich Unsinn. Aber manche Ärzte waren in ihrem therapeutischen Furor, auch noch den letzten „alten Langzeitpatienten” zu „heilen”, nicht zu bremsen.

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Ernüchterung

So kam es, dass die Neuroleptikabehandlung spätestens Anfang der 80er-Jahre vor einem Trümmerhaufen stand. Sie hatte des Vertrauen vieler Kranker und weiter Teile der Öffentlichkeit verspielt. Der Spiegel schrieb 1980 in einer berüchtigten Titelgeschichte von „sanftem Mord”; die Grünen im Bayrischen Landtag wollten die Neuroleptika verbieten lassen, und auch die Schweizerische Pro Mente Sana ließ (1988) kein gutes Haar an den Medikamenten.

Am wichtigsten aber war die resignierte Feststellung zweier angesehener internationaler Experten - am wichtigsten deswegen, weil sie eine doppelte Wende einleitete - zurück zur Niedrigdosierung und weiter zur Suche nach besseren Medikamenten:

„Für einige Patienten ist das Elend der Behandlungsfolgen - insbesondere Akathisie, Akinesie und - weniger häufig Spätdyskinesie - so schwerwiegend wie die Symptome der Krankheit selber. Andere sprechen auf die verfügbaren Medikamente nur unzureichend an; die quälendsten Krankheitssymptome erfahren keine Linderung. Die Schizophrenie kann aber eine so schwere Krankheit sein, dass man Behandlungsverfahren in Betracht ziehen muss, die nicht so sicher sind, wie man das gern hätte.”

St. Marder und Th. Van Putten schrieben das 1988 im Zusammenhang mit ihren Bemühungen, die Zulassung des Leponex in den USA zu erreichen.

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Das Dilemma

Das Dilemma war Folgendes: Es gab zwar mittlerweile über 40 verschiedene Neuroleptika; aber diese waren mit einer Ausnahme das, was man heute „konventionell” nennt: Sie zielten auf die Blockade der D2-Rezeptoren der Nervenzellen, ganz gleich welcher chemischen Gruppierung sie angehörten - und unbeschadet der Tatsache, dass man bei der Einführung von Chlorpromazin, Haloperidol und ihren Anverwandten herzlich wenig über Neurotransmitter, Neurorezeptoren und deren Funktion wusste.

Sie alle hatten etwas gemeinsam. Sie bewirkten extrapyramidalmotorische Beeinträchtigungen wie das Parkinsonoid, die Akathisie (quälende Bewegungsunruhe), die gefährliche Frühdyskinesie, und bei längerer Anwendung die Gefahr der andauernden Spätdyskinesie.

In ihren Wirkungen unterschieden sie sich kaum; bei den Nebenwirkungen standen bei den einen - den sog. niederpotenten - Müdigkeit und vegetative Einschränkungen im Vordergrund, bei den anderen - den hochpotenten -, z. B. Haldol und Fluanxol, die extrapyramidalen Zeichen.

Das bedeutet nicht, dass diese Neuroleptika der ersten Generation keine entscheidenden Fortschritte in der Schizophrenietherapie gebracht hätten. Es bedeutet auch nicht, dass alle Patientinnen und Patienten vor allem unter Nebenwirkungen litten. Im Gegenteil, vor allem bei niedrigen und mittleren Dosen, zu denen wir seit einigen Jahren endlich zurückgekehrt sind, sind sie bei sehr vielen Kranken nach wie vor wirksam und gut verträglich. Aber sie haben ihre Grenzen.

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Neue Hoffnung

Vor allem die schädlichen Auswirkungen der Hochdosierung bei begrenzter Wirkung bei Chronifizierung und „Therapieresistenz” waren es, die nach 30-jährigem Stillstand endlich den Anstoß zu Neuentwicklungen gaben, zu den sog. atypischen, richtiger den Neuroleptika der zweiten Generation, gaben. Inzwischen gibt es zehn solcher Substanzen, von denen zwei allerdings kurz nach der Einführung wegen gefährlicher Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen werden mussten. Verfügbar sind Risperdal, Zyprexa, Seroquel, Solian, Zeldox, Aripiprazol - und Leponex.

Letzteres ist zwar schon 30 Jahre alt, aber es ist trotzdem „atypisch”. Es war nicht nur das erste Neuroleptikum, das praktisch keine extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen hatte. Es wurde nach seiner verspäteten Einführung in den USA Anfang der 90er-Jahre zum Modell für die Neuentwicklungen - und es ist nach meiner Überzeugung nach wie vor das wirksamste aller Neuroleptika.

Dass die anderen überhaupt notwendig wurden, hängt mit einer gefährlichen - seltenen, aber potenziell tödlichen - Nebenwirkung des Leponex zusammen, einer Schädigung der weißen Blutzellen, die bis zu deren völligem Verschwinden führen kann, einer Agranulozytose. Anwendungseinschränkungen des Herstellers, ein rigoroses Überwachungssystem und verbesserte hämatologische Behandlungsmöglichkeiten haben aber dazu geführt, dass tödliche Verläufe zur absoluten Ausnahme geworden sind.

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Zweite Generation

Die Neuroleptika der zweiten Generation, die ganz unterschiedlichen chemischen Gruppierungen angehören, versuchen auf verschiedenen, recht komplexen Wegen die „extrapyramidale Falle” zu umgehen, etwa durch Selektivität ihrer Angriffspunkte im Dopaminsystem oder durch Verminderung ihrer Rezeptorbindungskraft. Das ist in unterschiedlichem Maße gelungen, im Allgemeinen recht gut.

Die meisten neuen Neuroleptika sind heute bei vergleichbarer Dosis ähnlich oder etwas besser wirksam als etwa Haloperidol - und subjektiv besser verträglich. Es besteht auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die meisten von ihnen bei langer Anwendung nicht zu Spätdyskinesien führen werden.

Aber sie sind natürlich nicht ohne Nebenwirkungen. Dazu gehören bei den meisten deutliche Gewichtszunahmen mit der Gefahr der Entwicklung einer diabetischen Stoffwechsellage und bei einzelnen Wirkungen auf das blutbildende System. Es ist hier weder der Ort, ihren ganzen Katalog möglicher unerwünschter Wirkungen aufzuführen, noch zwischen den einzelnen Substanzen zu differenzieren. Sie unterscheiden sich und bieten damit die Chance einer individualisierten Psychopharmakotherapie.

Die Chance, die neuen Medikamente könnten zu einer deutlichen Verbesserung von kognitiven Störungen oder Negativsymptomen beitragen, beurteile ich allerdings skeptisch.

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Zwischenbilanz

Die Pharmakotherapie schizophrener Psychosen befindet sich in Bewegung. Die Neuentwicklungen des vergangenen Jahrzehnts sind ermutigend. Das Spektrum verfügbarer Neuroleptika hat sich entscheidend vergrößert. Eine auf die einzelnen Kranken abgestimmte Therapie ist heute besser möglich als vor zehn Jahren. Sie erfordert allerdings noch mehr Kenntnisse und Erfahrungen als damals.

Die neuen Neuroleptika haben die alten nicht überflüssig gemacht. Es gibt zahlreiche Kranke, die diese in angemessener Dosis bei sehr guter Wirkung auch subjektiv gut vertragen. Es gibt deshalb keinen Grund, sie ihnen vorzuenthalten. Negativsymptome und kognitive Störungen sind nach wie vor die Nagelprobe der Neuroleptikatherapie. Es gibt gute Gründe, dass diese, wenn überhaupt nur über Substanzen mit völlig neuen Wirkungsprinzipien und ganz andere Angriffspunkte erreicht werden können.

Ein Wort noch zu den Kosten. Es ist nicht unmoralisch, darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn bestimmte neue Medikamente bei vergleichbarer Wirkung und nur geringfügig ausgeprägteren Nebenwirkungen, wie jüngst dem Wirtschaftsteil der FAZ (19.3.04, 24) zu entnehmen, fast 100-mal so viel kosten wie Haloperidol (acht Dollar gegenüber 10 Cent pro Tag) - und das nicht nur im Hinblick auf Länder der „Dritten Welt”.