Alkoholbezogene Störungen und hausärztliche Praxis
Alkoholbezogene Störungen und hausärztliche Praxis
Die WHO skizziert in ihrem „Global Status Report on Alcohol” [1] den globalen Schaden im Jahr 1990 durch bestimmte Risikofaktoren und Krankheiten.
Mehr als eine dreiviertel Million Menschen starben an den Folgen von Alkohol, 80 %
dieser Mortalität fielen auf Industrienationen. Gemessen an dem zentralen Indikator
YLD (years lived with disability) - ein u. a. nach der Schwere der Beeinträchtigung
gewichtetes Maß für die Erkrankungsjahre in einer Bevölkerungsgruppe - hatten alkoholbezogene
Störungen weltweit sogar größere Auswirkungen auf die globale Gesundheit als Probleme
wie Unterernährung oder fehlende Hygiene.
Eine 2000 vom Bundesministerium für Gesundheit erstellte Hochrechnung, basierend auf
der Bundesstudie 1997 [2] und der TACOS-Studie [3], geht davon aus, dass in Deutschland 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig sind
(dies entspricht etwa 3 % der erwachsenen Bevölkerung). Etwa 2,7 Millionen betreiben
einen „schädlichen Gebrauch” von Alkohol [4], weitere 5 Millionen Menschen einen „riskanten Konsum” [5]. Hinsichtlich der Verbrauchszahlen (gemessen am Pro-Kopf-Alkoholverbrauch im Jahr
1996) liegt Deutschland mit einem jährlichen Alkoholkonsum von 11,7 l reinen Alkohols
pro Kopf [1] deutlich vor Ländern wie Großbritannien (9,4 l) oder den Vereinigten Staaten (8,9
l).
Die geschätzten volkswirtschaftlichen Gesamtkosten, die durch alkoholbezogene Störungen
verursacht werden (Krankheitstage, Folgeerkrankungen etc.), von jährlich rund 20 Mrd.
€ stellen wahrscheinlich die Untergrenze der tatsächlichen Kosten dar, da etwa Kosten
durch alkoholbedingte Delikte (z. B. Unfälle, Personenschäden) in den gängigen Aufstellungen
bisher nicht berücksichtigt werden [6]. Diesen immensen Kosten und der hohen Punktprävalenz steht eine niedrige Behandlungsprävalenz
gegenüber: Weniger als ein Drittel der alkoholabhängigen Personen ist in Behandlung,
viele davon nur sporadisch [5]. Von Problembereichen der Routineversorgung alkoholbezogener Störungen sind die
verschiedenen Versorgungsbereiche unterschiedlich betroffen. Im hausärztlichen Bereich
stellt sich vor allem die Frage der richtigen diagnostischen Einordnung, der therapeutischen
Maßnahmen und der Entscheidungen bezüglich eigener Grenzen in den Behandlungsmöglichkeiten
(notwendige Überweisung an Beratungsstelle, Facharzt oder Psychotherapeuten) wie auch
die oft als insuffizient erlebte Motivationslage des Patienten [7].
Wie unterschiedlich beispielsweise auch die als gesundheitsunschädlich angesehenen
Trinkmengen unter den Hausärzten variieren, ist in einem Ländervergleich in Abb. [1] dargestellt. Angaben zur Prävalenz von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit in Allgemeinarztpraxen
schwanken zwischen 10 und 20 % [8]
[9]. Nur wenige Allgemeinmediziner screenen ihre Patienten beim ersten Kontakt auf Alkoholmissbrauch-
oder -abhängigkeit [10].
Abb. 1 Umfrage unter 2347 Allgemeinmedizinern; Mittelwerte der oberen Grenzwerte Alkohol
pro Woche, die für Männer und Frauen als gesundheitlich unschädlich angesehen werden
(A = Österreich, B = Belgien, BG = Bulgarien CAN = Kanada, F = Frankreich, H = Ungarn,
I = Italien, NZ = Neuseeland, NOR = Norwegen, POL = Polen, P = Portugal, UK = United
Kingdom), zitiert nach [52].
Abb. 2 Schematische Übersicht des BMBF-geförderten Projektes „AQAH - Ambulantes Qualitätsmanagement
alkoholbezogener Störungen in der hausärztlichen Praxis” [47].
Dies steht im Kontrast zu Forderungen, die Allgemeinarztpraxen als den idealen Ort
für Primär- und Sekundärprävention alkoholbezogener Störungen ansehen [11].
Ziel dieses Beitrages ist eine Übersicht über die Möglichkeiten zur Früherkennung
und Frühintervention in der hausärztlichen Versorgung.
Früherkennung - Screening
Früherkennung - Screening
Insgesamt finden 70 % aller Kontakte mit Suchtkranken in Arztpraxen und nicht beim
Suchtberater statt, was die Bedeutung der Frühdiagnostik und -behandlung alkoholinduzierter
Störungen im primärärztlichen Bereich unterstreicht [12]. In der Regel wird weniger als die Hälfte der therapiebedürftigen Alkoholprobleme
richtig erkannt [13]. Als Grund für die Defizite in Diagnosestellung und Einleitung einer adäquaten Therapie
werden häufig die geringen Heilungsaussichten genannt.
Die WHO konnte durch ihr Collaborative-Study-Projekt eindrucksvoll die Vernachlässigung
des Themas alkoholbezogener Störungen in der Ausbildung von Allgemeinmedizinern aufzeigen
[14]. Gleichzeitig zeigte diese Studie, dass die Qualität der Diagnostik und Behandlung
mit vermehrter Ausbildung steigt.
Folgende Vorteile einer frühzeitigen Intervention bei Patienten mit alkoholbezogenen
Störungen in der Hausarztpraxis sind in Anlehnung an den „WHO World Health Report
2001” [15] zu beachten:
-
geringere Stigmatisierung von Patienten und Mitarbeitern;
-
verbesserte Screeningmöglichkeiten und frühere Behandlung, insbesondere deutlich verbesserte
Früherkennung von Patienten mit leichten somatischen Beschwerden als Hinweis auf eine
alkoholbezogene Störung;
-
verbesserte und frühzeitige Behandlung somatischer Folgen.
Ein regelmäßiges Screening auf alkoholbezogene Störungen beim Hausarzt könnte somit
zu Kostenersparnissen führen und gewährleistet eine optimale Versorgung in Bezug auf
Früherkennung dieser Störungen.
Trotz der hohen Prävalenz alkoholbezogener Störungen werden Screeningmaßnahmen selten
eingesetzt [10]
[16]. Allerdings wurden auch die Chancen eines Screenings insgesamt als sinnvolle Methode
der Früherkennung angezweifelt. So fanden etwa Beich et al. 2003 [17] in einer Metaanalyse von 8 randomisierten Studien eine „Number Needed to Screen”
von rund 400 Patienten, um schließlich bei einem Patienten eine Reduzierung der Trinkmenge
zu erreichen (wobei diese Zahlen mit Screeningprogrammen beispielsweise für Hypertonie
oder Hyperlipidämie vergleichbar sind). In der Praxis wird sich diese Zahl durch Fokussierung
auf Risikogruppen (Auftreten von Aufgreifkriterien/„Red Flags”) wahrscheinlich reduzieren.
Allerdings bleibt die organisatorische Hürde der Implementation solcher Screeningverfahren,
die im Idealfall nur wenig Zeit in Anspruch nehmen sollten, in die Routinepraxis.
Generell stehen als Verfahren zur Früherkennung zur Verfügung:
-
klinische Untersuchungsverfahren;
-
Einsatz von Laborparametern;
-
indirekte Fragebogentests;
-
direkte alkoholbezogene Fragebogentests.
Für den Einsatz von Screeningverfahren mit Hilfe von klinischen Untersuchungsverfahren sprechen die Tatsache, dass die klinische Untersuchung regelmäßig durchgeführt wird,
und die vergleichsweise geringe Anfälligkeit für Dissimulationstendenzen der Patienten.
Als Verfahren steht z. B. der Alcohol-Clinical-Index [18] oder der klinische AUDIT-Test [19] zur Verfügung. Entscheidender Nachteil der vorgeschlagenen Verfahren ist jedoch,
dass deren z. T. hohe Strukturierung (umfangreiche Checklisten) einen erheblichen
Einarbeitungs- und Dokumentationsaufwand erfordert und die Interrater-Reliabilität
häufig niedrig ist. Insgesamt findet sich in Studien meist eine für die Belange der
klinischen Praxis zwar oft akzeptable Sensitivität, jedoch eine oft zu niedrige Spezifität,
die zu hohen Anteilen von falsch positiv Entdeckten führt (z. B. [20]).
Ähnliches gilt für den Einsatz von Laborparametern, die von Hausärzten wie Patienten in hohem Maße zur Diagnostik verwendet werden [16]. Die „Objektivität” der Testsituation ist von den gescreenten Patienten wenig durch
Dissimulation beeinflussbar. Für einzelne Laborparameter (wie GGT, MCV oder CDT) sind
jedoch die Validität und Reliabilität nur mäßig (vgl. z. B. die aktuelle Metaanalyse
zur CDT-Diagnostik von Koch et al. [21]). Die Kombination verschiedener Testverfahren zeigt zwar eine deutlich verbesserte
Testcharakteristik [22]
[23], hat jedoch in der Praxis die entscheidenden Nachteile der z. T. hohen Kosten und
des notwendigen zeitlichen Abstandes zur weiterführenden Diagnostik. Im direkten Vergleich
zeigten sich Laborparameter den Fragebogentests unterlegen [24].
Indirekte Fragebogenverfahren verzichten auf Items, die direkt den Alkoholkonsum betreffen. Auf diese Art und Weise
soll Leugnungs- bzw. Dissimulationstendenzen der Patienten entgegengewirkt werden.
Alle verfügbaren Verfahren sind jedoch weder von ihren Testgütekriterien noch von
ihrer Länge als Screeninginstrument in der Hausarztpraxis anwendbar (eine Übersicht
findet sich bei [25]). Grundsätzlich ist infrage zu stellen, ob ein Einsatz von indirekten Methoden ein
geeignetes Instrument zur Früherkennung und -intervention in der Hausarztpraxis darstellt.
Zwar lässt sich u. U. die Gruppe von Patienten mit Leugnungstendenzen dadurch besser
identifizieren, diese Patienten zeigen jedoch insgesamt geringere Erfolgsaussichten
für Interventionen. Zusätzlich fällt der höhere Aufwand der Methodik (umfangreiche
Itemlisten) ins Gewicht. Deutlicher Nachteil ist der mangelnde Bezug dieser Technik
zu weiterführender Diagnostik und Intervention.
Direkte Fragebogentests bieten den besten Anknüpfungspunkt für eine weiterführende Diagnostik und Intervention
aufgrund der Selbstaussagen der Patienten. Dies erleichtert den Ärzten wiederum das
Gespräch mit ihren Patienten als Grundlage jeder weiterführenden Intervention. Auf
diese Art und Weise leitet der Arzt die weitere Diagnostik mit einer kriteriengeleiteten
Verdachtsdiagnose ein. Das aufgrund seiner Testgüte am besten für die hausärztliche
Praxis geeignete Screeningverfahren stellt der Alcohol Use Disorders Identification
Test (AUDIT) der WHO [26] dar. Das Verfahren besteht aus einem Fragebogen von 10 Selbstbeurteilungsitems und
acht zusätzlichen Fremdbeurteilungskriterien durch den Arzt, wobei man sich in der
Praxis meist auf das Rating durch den Patienten beschränkt. Ein Score von 8 oder mehr
Punkten gilt nach WHO-Empfehlung als Anhalt für riskanten Konsum. Der AUDIT bietet
eine gute Sensitivität, Spezifität und Reliabilität. Problematisch sind allerdings
die für Deutschland noch fehlenden validen Cut-off-Empfehlungen. Außerdem ist das
Verfahren natürlich anfällig für Dissimulation. Weitere zur Verfügung stehende Testverfahren
wie der CAGE-Fragebogen [27] oder der LAST [28], die z. T. für Deutschland validiert wurden, sind besser für die Identifikation
von Missbrauch und Abhängigkeit geeignet als zur Identifikation von Risikotrinken
[25].
Kurzintervention und Motivation
Kurzintervention und Motivation
Mehrere Metaanalysen randomisierter, kontrollierter Studien unterstrichen die Durchführbarkeit
und Wirksamkeit von Kurzinterventionen in der hausärztlichen Praxis [29]. Die meisten Studien stammen jedoch entweder aus Ländern mit staatlichen Gesundheitssystemen
[30]
[31]
[32] oder aus Ländern mit Managed-Care-Systemen [33]. Transferstudien solcher Techniken in die Routinepraxis fehlen weitgehend.
Diese Kurzinterventionen umfassen ein weites Spektrum von Maßnahmen und reichen von
Austeilung von Selbsthilfemanualen bis zu mehreren intensiven Therapiegesprächen:
So zeigten Fleming et al. [34], dass zwei 10 - 15 Minuten dauernde Beratungsgespräche im hausärztlichen Setting
zu einer signifikanten Reduktion der durchschnittlichen Trinkmenge pro Woche und der
Häufigkeit exzessiven Trinkens führten. Senft et al. [35] fanden eine signifikante Reduktion der Trinkmenge bei Patienten, die eine Kurzberatung
(30 s), Patientenmaterialien und ein 15-minütiges motivationales Gespräch mit einem
Berater während eines ambulanten Termins erhielten. Ebenso berichteten Ockene et al.
[36] über eine Verringerung in der Zahl der alkoholischen Getränke und der Häufigkeit
von Binge-Drinking-Episoden unter Patienten, die eine 5- bis 10-minütige Beratung
während eines regulären Arztbesuches erhalten hatten.
Ob sich die Effekte dieser Intervention allerdings auf die Routinetätigkeit generalisieren
lassen, bleibt fraglich. Gelegentlich ist in solchen Studien auch die signifikant
erhöhte Drop-out-Rate in der Interventionsgruppe eine wesentliche Verzerrungsquelle,
wie z. B. in einer aktuellen Untersuchung von Curry et al. mit 21 % Abbrechern in
der Interventions- und 4 % in der Kontrollgruppe [33]. Auch zeigen sich oft keine anhaltenden Effekte dieser Kurzinterventionen, wie in
der Studie von Richmond et al. [37], die zwar nach 6 Monaten eine Trinkmengenreduktion fanden, nicht aber nach 12.
Den meisten dieser Interventionen liegt das Transtheoretische Modell der „Stages of
Change” [38] zugrunde. Dies betont, dass nicht alle Patienten mit riskantem Konsum sich ihres
gesundheitsschädlichen Verhaltens bewusst und bereit zu einer Veränderung des Trinkverhaltens
sind. Somit sind verschiedene Interventionen oder Intensitäten von Interventionen
nötig, die jeweils von der Bereitschaft der Patienten abhängen, ihr Trinkverhalten
zu ändern. Entgegen der in der Bevölkerung weit verbreiteten Meinung haben Studien,
die die Veränderungsbereitschaft untersuchten, höhere Erfolgsraten bei Patienten gezeigt,
die höhere Level von intrinsischer (z. B. Besorgnis um die Gesundheit, Wunsch nach
Selbstkontrolle) relativ zu extrinsischer Motivation (z. B. sozialer Druck, finanzielles
Anreizsystem) hatten [39].
Die wohl wesentlichen inhaltlichen Elemente der wirksamen Kurzinterventionen [29] sind in Tab. [1] aufgezeigt. Sie umfassen Schritte wie Rückmeldung des Risikos bzw. bestehender Beeinträchtigungen
durch das Konsummuster, Betonung der persönlichen Verantwortung des Patienten für
den Alkoholkonsum, eine klare, strukturierte Auswahl von Handlungsempfehlungen, einen
empathischen Beratungsstil und die Anwendung von Techniken zur Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung.
Wichtige Ergebnisse für den deutschsprachigen Raum werden aus den vom BMBF geförderten
Projekten der „Verbünde für Suchtforschung” zu erwarten sein (Tab. [2]).
Tab. 1 Inhaltliche Elemente von wirksamen Kurzinterventionen [29]
| F |
Feedback
Rückmeldung des Risikos bzw. bestehender Beeinträchtigungen durch das Konsummuster |
| R |
Responsibility
Betonung der persönlichen Verantwortung des Patienten für den Alkoholkonsum |
| A |
Advice
klare, strukturierte Handlungsempfehlungen |
| M |
Menue
Anbieten einer Auswahl verschiedener Änderungsoptionen |
| E |
Empathy
empathischer Gesprächs- und Beratungsstil |
| S |
Self-Efficacy
Anwendung von Techniken zur Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung |
Tab. 2 Projekte der Suchtforschungsverbünde zu alkoholbezogenen Störungen in der hausärztlichen
Praxis
| Verbund-Projektthema |
Projektleitung |
Weitere Informationen |
Verbund Nord-Ost EARLINT
Ein Behandlungsstufenansatz für Patienten mit alkoholbezogenen Störungen in Allgemeinarztpraxen |
Dr. Hans-Jürgen Rumpf h.rumpf@ukl. mu-luebeck.de |
www.medizin.uni-greifswald.de/epidem/forschung/ intervention/earlint.html
|
Verbund Nordrhein-Westfalen
Früherkennung und minimale Intervention (Alkohol und Nikotin) in Allgemeinarztpraxen |
Prof. Dr. Fred Rist rist@psy.uni-muenster.de |
www.suchtforschungsverbund-nrw.de
|
Verbund Baden-Württemberg
Ambulantes Qualitätsmanagement alkoholbezogener Störungen in der hausärztlichen Praxis |
PD Dr. Götz Mundle goetz.mundle@oberbergkliniken.de |
www.bw-suchtweb.de
|
In mehreren Studien wurde gezeigt, dass sich eine große Zahl von alkoholabhängigen
Patienten im Stadium der Absichtslosigkeit befindet (z. B. [40]), d. h. keine oder wenig Änderungsmotivation aufweist. Aus diesem Grund stellt die
motivationale Gesprächsführung [41] eine wichtige Technik zum Aufbau von Änderungsmotivation dar. Die Grundlage der
Technik bilden fünf Prinzipien: Eine empathische Grundhaltung liefert die entscheidende Grundlage, um Veränderung hervorzurufen. Für das Erleben
der Notwendigkeit einer Veränderung ist das Erzeugen von Diskrepanz notwendig. Dies bedeutet die Förderung der Wahrnehmung des Patienten hinsichtlich
des Unterschieds von Ist-Zustand (Realität des Alkoholkonsums) und Soll-Zustand (Freiheit
von unangenehmen Auswirkungen des Substanzgebrauches). Ein weiteres wichtiges Element
ist die Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung („Glaube”, „Hoffnung”, „positives Denken”) des Patienten als entscheidendes motivierendes
Agens. Oft wird Widerstand als negative und eher stabile Eigenschaft von Personen
gesehen, verbunden mit Leugnung und Abwehr. Die motivierende Gesprächsführung deutet
den Widerstand des Patienten als Hinweis, dass die vorgeschlagene Maßnahme nicht zur
Änderungsmotivation des Patienten gepasst hat (z. B. eine klare Abstinenzempfehlung
bei Patienten, die keine Notwendigkeit der Änderung des Trinkverhaltens sehen). In
der motivierenden Gesprächsführung soll deshalb der Widerstand des Patienten aufgenommen werden und konstruktiv als Hinweis auf Ambivalenzkonflikte genutzt werden. Schließlich sollen
Beweisführungen vermieden werden.
Die Technik der motivierenden Gesprächsführung ist auch von medizinischem Hilfspersonal
leicht zu erlernen und kann in Situationen, in denen nur relativ wenig Zeit zur Verfügung
steht, eingesetzt werden. Generelles Ziel ist, das Gespräch auf die Möglichkeit einer
Verhaltensänderung zu lenken („Change Talk”) und diese so vorzubereiten. Zwar bestätigte
sich in Metaanalysen randomisierter Studien die Wirksamkeit dieser Technik [42], der Transfer in die Routinepraxis außerhalb von Behandlungszentren stellt sich
jedoch schwierig dar [43].
Transfer in die klinische Praxis
Mehrere Untersuchungen bei Hausärzten in verschiedenen Ländern zeigten, dass zwar
die Notwendigkeit frühzeitiger Intervention gesehen wird, jedoch nur eine geringe
Zahl von Ärzten entsprechende Maßnahmen durchführt [7]
[16]
[31]
[44]. Dabei wurde aber auch gezeigt, dass die Motivation der Allgemeinmediziner durch
das Angebot relevanter Fortbildung und Hilfen (wie z. B. Unterstützung durch medizinisches
Hilfspersonal) wesentlich gesteigert werden kann [13]
[45].
Somit stellt die Entwicklung geeigneter Transferinstrumente für entsprechende Screening-
und Frühinterventionsprogramme wie etwa für den BzgA-BÄK-Leitfaden „Kurzinterventionen
bei Patienten mit Alkoholproblemen” [46] eine wesentliche Aufgabe dar. Ohne entsprechende Implementationsmaßnahmen ist eine
breite Anwendung der Manuale und Interventionen unwahrscheinlich. Diese Maßnahmen
sollten sowohl dem Zeitmangel als auch der Motivationslage der Hausärzte Rechnung
tragen. Ein aktuelles Forschungsprojekt des Suchtforschungsverbundes Baden-Württemberg
(Tab. [2]) untersucht hierzu („AQAH - Ambulantes Qualitätsmanagement alkoholbezogener Störungen
in der hausärztlichen Praxis”, Abb. [2]) im Rahmen der „Verbünde für Suchtforschung” [47] die Auswirkungen der Implementation eines Qualitätsmanagementsystems (Versorgungsleitlinie,
Screeninginstrumente, Dokumentationsmaterialien etc.) auf die Erkennensrate und Behandlung
von Patienten mit alkoholbezogenen Störungen. Im Rahmen dieser BMBF-geförderten randomisierten
Studie wurden in der Etablierungsphase bei insgesamt 58 Hausärzten im süddeutschen
Raum mehr als 2900 Patienten mit verschiedenen Methoden (AUDIT, Laborparameter) auf
alkoholbezogene Störungen gescreent und Behandlungsverläufe von ca. 300 Patienten
dokumentiert. Derzeit wird die Etablierungsphase (Fortbildung der Interventionsgruppe
durch eine Kombination aus Präsenzveranstaltung und individuellen Praxisterminen mit
anschließender mehrmaliger Telefonberatung) abgeschlossen. Das Projekt wird nach seinem
Abschluss im Herbst 2004 wichtige Informationen und Daten zu den Möglichkeiten und
Grenzen der Intervention in der Allgemeinpraxis liefern.
Ein letzter wesentlicher Punkt ist die Frage nach sinnvollen Konsequenzen von Interventionen,
d. h., wie die gestufte Versorgung im deutschen Gesundheitssystem weiter optimiert
(„vernetzt” oder „integriert”) werden kann, um die Versorgung alkoholkranker Patienten
kontinuierlich zu verbessern. Solche Überlegungen können dabei helfen zu klären, welche
Rollen z. B. Hausärzte, Suchberatungsstellen, die betriebliche Suchtprävention, Psychiater,
Psychotherapeuten sowie psychiatrische Kliniken und Rehabilitationskliniken in der
Versorgung von Patienten mit Alkoholproblemen sinnvollerweise übernehmen können [48]
[49]
[50]
[51].