Suchttherapie 2004; 5(3): 145-146
DOI: 10.1055/s-2004-813333
Kasuistik

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Mein Leben war Chaos und Sehnsucht!”

Ein integrativer Behandlungsansatz bei einem mehrfachabhängigen Patienten mit komorbider Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie Posttraumatischer Belastungsstörung“My Life was Chaos and Longing!”Integrative Treatment Approach in a Patient with Multiple Substance Abuse and Comorbid Borderline Personality Disorder and Posttraumatic Stress DisorderH. Faller1
  • 1Rehaklinik Glöcklehof, Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen, Schluchsee
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Heike Faller

Rehaklinik Glöcklehof, Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen

79859 Schluchsee

eMail: heike.faller@gmx.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. August 2004 (online)

Inhaltsübersicht

Es wird der Verlauf eines mehrfachabhängigen Patienten mit komorbider Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie Posttraumatischer Belastungsstörung dargestellt. Eingegangen wird auf die Besonderheiten eines integrativen Behandlungsansatzes mit Elementen der Dialektisch-Behavioralen Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung (DBT) und der Traumatherapie auf der Basis einer verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Suchttherapie. Daraus ergeben sich einige Anregungen für die Behandlung traumatisierter süchtiger Patienten mit komorbider Borderline-Störung.

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Einleitung

In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung schwerer Traumatisierungen bei der Entstehung vieler psychischer Störungen dargelegt worden. Besonders hoch ist die Komorbidität einer PTBS bei Männern mit einer Suchterkrankung [1]. Verschiedene Studien belegen, dass die Therapieerfolge bei allen Achse-I-Störungen (Zwangsstörung, Panikstörung, Depression, Sucht) schlechter sind, wenn eine Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen besteht [2]. Die Kasuistik dieses Patienten zeigt Möglichkeiten und Grenzen einer integrativen Therapie. Exemplarisch haben wir einen Patienten ausgewählt, der ein typisches Symptombild miteinander verflochtener Störungen (Mehrfachabhängigkeit, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Posttraumatische Belastungsstörung) zeigte.

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Aufnahmebefund

Der 30-jährige Herr A. hat mit großem Druck bei Berater und Kostenträger für seine Aufnahme in einer „Alkohol-Klinik” gesorgt, da er „weg von der Drogenszene und endlich ein normales Leben führen wolle!” Er kommt entgiftet, jedoch voller Angst und Anspannung zur Aufnahme. Er leide unter diversen psychischen Beschwerden, wiederkehrenden Beziehungsproblemen sowie seiner desolaten sozialen Situation (Schulden, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektive). Die ausführliche Diagnostik ergibt zunächst eine Mehrfachabhängigkeit von Heroin, Kokain und Alkohol mit zusätzlichem Missbrauch von weiteren Drogen und Medikamenten aller Art. Daneben bestehen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie eine langjährige Posttraumatische Belastungsstörung.

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Familienanamnese

Herr A. wuchs die ersten beiden Lebensjahre beim gewalttätigen, alkoholkranken Vater und der spielsüchtigen Mutter auf, die zeitweise der Prostitution nachging. Wegen schwerer Misshandlungen und Verwahrlosung wurde er über das Jugendamt bis zum 16. Lebensjahr in einem Heim untergebracht. Es bestand jedoch weiter unregelmäßiger Kontakt zu den Eltern. Der mehrfach inhaftierte Vater verstarb später bei einer Kneipenschlägerei, die Mutter habe wieder geheiratet, neben dieser fassadär bürgerlichen Ehe jedoch immer wieder Nebenbeziehungen zu alkoholkranken und gewalttätigen Männern unterhalten. Drei Halbgeschwister seien teils zur Adoption freigegeben worden, teils bei der Großmutter aufgewachsen. Mit 15 Jahren sei er zu Mutter und Stiefvater gezogen, nach heftigen Konflikten jedoch bereits nach einem Jahr rausgeflogen; seitdem lebte er in der Drogenszene und entwickelte schnell eine Alkohol- und Heroinabhängigkeit. Zusätzlich zu den frühen Gewalt- und Verlusttraumata sei er hier weiter mit Gewalt- und Todeserfahrungen konfrontiert gewesen. Seit der Kindheit leidet er unter schwerer PTBS-Symptomatik (Alpträume, Schlafstörungen, Hyperarousal, Flashbacks, Dissoziation). Alle engen Beziehungen seien schwierig verlaufen, nach Trennungen hatte er zwei Suizidversuche unternommen.

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Therapieverlauf

In der Anfangsphase leidet Herr A unter ständigen Stimmungsschwankungen, Rückfall- und Abbruchgedanken. Deshalb wird eine Modifikation des Settings hinsichtlich Pharmakotherapie, Einzeltherapie und Kriseninterventionen notwendig. Aufgrund starker Unruhe und Schlafstörungen erhält er phasenweise Atosil. Statt eines 45-minütigen Einzelgesprächs wöchentlich erhält er zwei 30-minütige Gespräche sowie die Möglichkeit, bei Krisen kurzfristig pragmatische therapeutische Hilfe zu erhalten, was er in den ersten Wochen fast täglich in Anspruch nimmt, um Alltagsprobleme, Ängste und Sorgen zu besprechen. Fokus der kurzen Kriseninterventionen ist nach den Methoden der DBT die lösungsorientierte Vermittlung von Fertigkeiten zur Stressbewältigung, Emotionsregulation und Beziehungsverbesserung unter Betonung seiner Ressourcen und Eigenverantwortung. Entsprechend der DBT-Therapieziel-Hierarchisierung [3] erhält das Durchhalten der Therapie oberste Priorität, wobei die hier vermittelten Fertigkeiten gleichzeitig die Abstinenzfähigkeit von Herrn A. allmählich erhöhen. Die anfänglich kindlich-abhängige, jedoch fragile Beziehungsaufnahme zur Therapeutin verbessert sich deutlich in Richtung eines stabilen Arbeitsbündnisses über die Besprechung seiner Traumagenese mithilfe eines Traumatogramms [4]. Psychoedukativ wird er zusätzlich über die Entstehung, Symptomatik und Therapie der PTBS und BPS aufgeklärt. Dies hilft ihm, seine vielfältigen psychischen Beschwerden in einen verstehbaren Kontext einzuordnen und Angst abzubauen. In Krisen kann nun auf diese gemeinsam erarbeitete Basis zurückgegriffen werden. Herr A. lernt aktuelle Konflikte und seine impulsiven Reaktionen darauf in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen, zu verstehen und alternative Verhaltensweisen einzuüben (z. B.: Bedürfnisse und Gefühle äußern statt Flucht in das Suchtmittel). Darüber stabilisiert er sich allmählich, Kriseninterventionen werden seltener notwendig.

Zusätzlich zur Gruppentherapie erlernt er in der Indikativgruppe „Emotionale Stabilisierung” traumaspezifische Imaginationstechniken [5] zur inneren Stabilisierung und Ressourcenmobilisation. In der Indikativgruppe „Bewerbungstraining” finden eine berufliche Standortbestimmung, Vorstellungstraining sowie die Erstellung persönlicher Bewerbungsunterlagen statt. Herr A. sieht erste Erfolge, beantragt eine Verlängerung der 16-wöchigen Behandlung um weitere acht Wochen und interessiert sich für eine „Betreute Nachsorge-WG”.

Vor seiner Vorstellung dort hat Herr A. einen schweren Alkoholrückfall. In der Rückfallanalyse wird seine Angst vor dem Abschied von der Therapeutin und der neuen „Heimunterbringung” deutlich. Herr A überwindet die Krise und beendet die Therapie regulär nach Verlängerung. In seiner Abschlussbewertung gibt er als wichtigste Therapieergebnisse mehr Lebensmut, Ausgeglichenheit und Selbst-Verantwortung an. Unter Betonung seiner Autonomie lehnt er jedoch jede professionelle Nachsorge ab und zieht zunächst zur Halbschwester. Es gelingt ihm, nach einigen Wochen erstmals eine legale Arbeit sowie eine eigene Wohnung zu finden. Er hält weiter lockeren Kontakt zur Therapeutin. Nach einjähriger Abstinenz kommt es nach einer Beziehungsenttäuschung zu einem Rückfall mit Alkohol und Kokain. Herr A. beantragt sofort eine Auffangbehandlung. Neben Rückfallanalyse und Abstinenzbilanz unter Betonung der erreichten Erfolge fokussiert Herr A. diesmal auf die Ablösung von der Therapeutin. Er wirkt deutlich gereifter und frustrationstoleranter als in der Vortherapie, Kriseninterventionen sind nicht mehr nötig. Er schließt die Behandlung nach acht Wochen regulär ab. Zwanzig Monate später ist er weiter abstinent, in Arbeit, hat den Führerschein erworben und seit Monaten eine feste Partnerin, mit der er zusammenlebt und eine Familie gründen will. Den losen Kontakt zur Therapeutin hat er beibehalten. „Ich hab Ordnung in mein Leben gebracht, das meiste läuft gut, nur manchmal hab ich noch diese Sehnsucht, ich weiß nicht richtig, wonach?!”

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Diskussion

In der Kindheit traumatisierte Menschen entwickeln häufig frühe psychosoziale Auffälligkeiten, viele lernen ihren erheblichen Leidensdruck im Sinne einer Selbstmedikation mit Alkohol oder Drogen zu regulieren. Eine eigene Untersuchung unserer Patienten [6] mit dem < IES-R > [7] und < PDS-d-1 > [8] zeigte hohe Traumatisierungsraten (95,8 %) sowie Prävalenz einer PTBS (87,5 %) bei der Untergruppe der BPS-Patienten. In unserem Therapiekonzept bieten wir daher spezifische Therapiebausteine für Patienten mit BPS und PTBS an:

  • Traumadiagnostik und Trauma-Anamnese;

  • Psychoedukation zur BPS und PTBS-Behandlung;

  • Indikativgruppe „DBT-Stresstoleranz”;

  • Indikativgruppe „DBT-Emotionsregulation”;

  • Indikativgruppe „Trauma-Imaginationstechniken”;

  • Indikativgruppe „Umgang mit Ärger und Aggression”.

Wie der exemplarische Verlauf von Herrn A. zeigt, wirkt dieses Vorgehen günstig auf Commitment, Abbruch- und Rückfallgefährdung auch bei dieser Gruppe traumatisierter Suchtpatienten mit komorbider BPS und bestätigt neuere Behandlungsansätze:

  • gleichzeitige integrative Behandlung von Sucht, Trauma und komorbider Störung;

  • flexible, aber klare Therapiestrukturen;

  • Therapieziel-Hierarchisierung ausgehend von der bedrohlichsten Symptomatik unter Beachtung der anderen Bereiche;

  • Zusatzangebote für spezielle Problembereiche;

  • Ressourcenorientiertheit.

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Literatur

  • 1 Kessler R C, Sonnega A, Bromet E. et al . Posttraumatic Stress Disorder in the National Comorbidity Survey.  Arch Gen Psychiatry. 1995;  52 1048-1060
  • 2 Reich J H, Green A. Effect of personality disorders on outcome of treatment.  Persönlichkeitsstörungen. 2001;  5 88
  • 3 Linehan M M. Dialektisch-behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München; CIP-Medien 1996
  • 4 Huber M. Trauma und die Folgen. Paderborn; Junfermann 2003
  • 5 Reddemann L. Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart; Pfeiffer bei Klett-Cotta 2001
  • 6 Faller H, Birkenberger A, Dannegger E. Traumatische Belastung bei suchtkranken männlichen Borderline-Patienten, Posterpräsentation beim Borderline-Netzwerktreffen. Bielefeld; 2004
  • 7 Maerker A, Schützwohl M. Die Erfassung von psychischen Belastungsfolgen: Impact of Event-Skala revidierte Version (IES-R).  Diagnostica. 1998;  44 130-141
  • 8 Ehlers A, Steil R. Deutsche Übersetzung der Posttraumatic Stress Diagnostic Scale (PDS). Oxford; University, Warneford Hospital, Department of Psychiatry 1996

Heike Faller

Rehaklinik Glöcklehof, Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen

79859 Schluchsee

eMail: heike.faller@gmx.de

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Literatur

  • 1 Kessler R C, Sonnega A, Bromet E. et al . Posttraumatic Stress Disorder in the National Comorbidity Survey.  Arch Gen Psychiatry. 1995;  52 1048-1060
  • 2 Reich J H, Green A. Effect of personality disorders on outcome of treatment.  Persönlichkeitsstörungen. 2001;  5 88
  • 3 Linehan M M. Dialektisch-behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München; CIP-Medien 1996
  • 4 Huber M. Trauma und die Folgen. Paderborn; Junfermann 2003
  • 5 Reddemann L. Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart; Pfeiffer bei Klett-Cotta 2001
  • 6 Faller H, Birkenberger A, Dannegger E. Traumatische Belastung bei suchtkranken männlichen Borderline-Patienten, Posterpräsentation beim Borderline-Netzwerktreffen. Bielefeld; 2004
  • 7 Maerker A, Schützwohl M. Die Erfassung von psychischen Belastungsfolgen: Impact of Event-Skala revidierte Version (IES-R).  Diagnostica. 1998;  44 130-141
  • 8 Ehlers A, Steil R. Deutsche Übersetzung der Posttraumatic Stress Diagnostic Scale (PDS). Oxford; University, Warneford Hospital, Department of Psychiatry 1996

Heike Faller

Rehaklinik Glöcklehof, Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen

79859 Schluchsee

eMail: heike.faller@gmx.de