Seit Ende der 80er-Jahre betreut das soziotherapeutische Langzeitwohnheim Faßbacher Hof in Leverkusen Menschen mit psychischer Erkrankung und Sucht, darunter mehrheitlich Klienten mit Psychose-Sucht-Komorbidität.
Der Wohn- und Betreuungsverbund besteht zurzeit aus der Stammeinrichtung (22 Plätze), einer Außenwohngruppe (6 Plätze) sowie einem ambulanten Betreuten Wohnen, in dem Klienten in eigenen Wohnungen leben. Alle Klienten in diesen Wohnformen können das ausgedehnte tagesstrukturierende Arbeitsangebot in den Bereichen Garten und Landwirtschaft, Schreinerei, Hauswirtschaft und Bürotätigkeiten nutzen, wodurch stationäre und ambulante Betreuung miteinander verzahnt werden. Innerhalb der Einrichtung besteht die Möglichkeit zu einer weitgehenden Selbstversorgung.
Die Einrichtung arbeitet seit Ende der 80er-Jahre in einem weiten Sinne „abstinenzorientiert”. In unserem grundlegenden Selbstverständnis gehen wir davon aus, dass der Gegensatz von „Abhängigkeit” nicht „Abstinenz”, sondern „Unabhängigkeit” ist. Damit meinen wir eine innere, emotional wirksame Entscheidungsfreiheit über das „Ob”, „Wie” und „Wann” des Konsums psychotroper Substanzen. Der Aufenthalt in der Einrichtung soll als sozialer Rahmen und „Zeitfenster” genutzt werden, in dem der Betroffene für sich einen adäquaten Umgang mit dem Substanzkonsum entwickeln kann. Als Voraussetzung hierfür gilt während des Aufenthalts der in der Hausordnung verankerte Verzicht auf den Konsum aller nicht verordneten psychotropen Substanzen.
Im Unterschied zu niedrigschwelligen, ausschließlich auf „harm reduction” zielenden Angeboten gilt der Konsum also nicht als „Normalfall”, sondern als „Rückfall”, der einer Behandlung bedarf. Rückfälle werden jeweils individuell mit dem Klienten und in der Klientengruppe bearbeitet. Der Aufenthalt in der Einrichtung wird so lange fortgesetzt, wie eine Betreuungsbeziehung aufrechterhalten wird und Entwicklungen sichtbar sind.
Eine unserer langfristigen Erfahrungen ist dabei, dass innerhalb eines soziotherapeutischen Feldes Menschen mit Psychose-Sucht-Komorbidität bezogen auf die Rückfälligkeit keineswegs eine negativere Prognose haben müssen als Menschen mit neurotischen oder Persönlichkeitsstörungen. So ergab eine Auswertung der Rückfallverläufe von zehn Jahren (1991 bis 2001): 20 % der Bewohner mit Psychose und 23 % der Bewohner mit nicht psychotischen Störungen blieben während des gesamten Aufenthaltes rückfallfrei. Eine Abstinenz innerhalb der Einrichtung entwickelte sich nach längerem Aufenthalt bei 25 % der Klienten mit Psychose und bei 16,6 % der Klienten mit nicht psychotischen Störungen.
Im qualitativen Vergleich dominierten bei Klienten mit Psychosen Rückfälle mit geringer Intoxikation und kurzer Dauer. Die hohe Rückfälligkeit von Menschen mit Psychose und Sucht kann offenbar durch einen adäquaten, ihren Bedürfnissen entsprechenden Betreuungszusammenhang deutlich reduziert werden.
Umgestaltung seit 2001
Umgestaltung seit 2001
Bis zum Jahre 2001 wurden innerhalb des Wohnverbundes vor allem Menschen aufgenommen, bei denen in der Suchtkomponente der Konsum von Alkohol im Mittelpunkt stand. Allerdings lagen bei einem Teil der Klienten ein multipler Konsum oder eine Mehrfachabhängigkeit vor, wobei der Drogenkonsum zum Aufnahmezeitpunkt in den Hintergrund getreten war. In der Nachfrage nach Betreuungsplätzen zeigte sich ein - auch generationsspezifischer - Wandel der Konsummuster, bei dem immer seltener komorbide Klienten zur Vorstellung kamen, bei denen ausschließlich ein Alkoholkonsum vorlag.
Eine wesentliche Erfahrung in dieser Phase war für uns, dass für Menschen mit Psychose-Sucht-Komorbidität die Frage, wer welche Substanz konsumierte, nur eine untergeordnete Bedeutung zu haben schien. Für uns schien der Grund hierfür zu sein, dass die Betroffenen ihre psychotische Erkrankung meist tiefgehender und existenzieller erlebten als den Faktor des Substanzkonsums. Die klassischen Trennungslinien zwischen Alkohol- und Drogenbenutzern werden durch die gemeinsame Psychoseerfahrung so weit „überlagert”, dass nur selten feindliche, nicht integrierbare, Gegensätze entstehen.
Seit Ende der 90er-Jahre signalisierten uns die kooperierenden psychiatrischen Kliniken deutlich geänderte „Bedarfsmeldungen”, darunter auch Betreuungsplätze für langfristig psychisch kranke Menschen mit Opiatabhängigkeit in Substitutionsprogrammen. Die Nachfrage konzentrierte sich auf städtische Ballungszentren mit einer ausgeprägten Drogenszene, vor allem aus dem Großraum Köln.
Nach teilweiser kontroverser Teamdiskussion wurden die Aufnahmekriterien im Jahr 2000 neu definiert. Seitdem ist eine Aufnahme unabhängig davon möglich, welche Substanz im Mittelpunkt des Konsums steht. Zwischen Mitte 2001 und Mitte 2003 wurden daraufhin auf den 28 stationären Betreuungsplätzen acht, im Betreuten Wohnen eine substituierte Klientin aufgenommen.
Da es keine vergleichbaren Erfahrungen gab, kann die Folgezeit als „kontrolliertes Experiment” bezeichnet werden, bei dem wir von folgenden Fragestellungen ausgingen:
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Trifft die Annahme zu, dass durch die soziotherapeutische Betreuung Rahmenbedingungen angeboten werden können, die es den Betroffenen ermöglichen, sich von ihrer tradierten Drogenszene zu distanzieren, ihren Beikonsum zu reduzieren oder ganz zu vermeiden?
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Ist es möglich, substituierte Klienten in die Einrichtung zu integrieren, ohne dass es zu unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen Menschen mit Alkoholpräferenz und Drogenpräferenz sowie zwischen Substituierten und Nicht-Substituierten kommt?
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Ist die Aufnahme substituierter Klienten ohne unkontrollierbare Rückfalleffekte in der Gesamteinrichtung möglich?
Beschreibung der Klientengruppe
Beschreibung der Klientengruppe
Die Gruppe der Substituierten war bei Aufnahme durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Bei 7 Klienten waren schizophrene Psychosen (einschließlich schizoaffektiver Psychosen), bei zwei Klienten Borderline-Störungen diagnostiziert. Alle Klienten wurden mit Neuroleptika, zwei von ihnen zusätzlich mit Benzodiazepinen, behandelt.
In der Suchtkomponente war bei 8 von 9 Klienten neben der Opiatabhängigkeit ein polyvalenter Drogenmissbrauch (am häufigsten von Cannabis, Alkohol und Benzodiazepinen) gegeben. Das durchschnittliche Aufnahmealter betrug 38,6 Jahre, der jüngste Klient war 26, der älteste 48 Jahre alt. Die Dauer des Substanzmissbrauchs lag bis zum Aufnahmezeitpunkt bei 10 bis 29 Jahren. In Substitution befanden sich die Klienten, teils mit Unterbrechungen, zwischen 2 und 9 Jahren.
Bei der Mehrzahl der Klienten war die erste manifeste Erkrankung im zweiten Lebensjahrzehnt (in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter) aufgetreten, so dass auch recht junge Klienten schon auf eine über zehn Jahre anhaltende Krankheitsgeschichte zurückblicken konnten. Alle Klienten hatten mehrfache stationäre psychiatrische und Entgiftungsbehandlungen, Langzeittherapien sowie in Einzelfällen gescheiterte Wohnheimaufenthalte zu verzeichnen.
Die soziale Situation vor Aufnahme in die Einrichtung war in der Regel durch „Drehtüreffekte” gekennzeichnet. Zwischen stationären Behandlungen erfolgten misslungene Versuche, selbständig zu wohnen, oder Zeiten von Obdachlosigkeit.
Alle Klienten waren erwerbslos. Mit einer Ausnahme hatten sie zwischen den stationären Aufenthalten kein tagesstrukturierendes Angebot. Unter diesen Bedingungen gab es meist einen exzessiven, in manchen Fällen lebensbedrohlichen Beikonsum. Dieser war häufig mit einem Absetzen der neuroleptischen Medikation und psychotischen Dekompensationen verbunden. Nur bei zwei von neun Klienten konnte der Beikonsum als selten oder geringfügig bezeichnet werden.
In ihrer subjektiven Zielsetzung ging ein Teil der Klienten davon aus, auf Dauer substituiert zu bleiben und unter diesen Bedingungen psychische Stabilität zu erreichen. Andere sehen die Substitution als Übergang, um später - in der Regel in einem mehrjährigen Prozess - den Versuch zu unternehmen, suchtmittelfrei zu leben.
Kurzbeschreibung des Settings
Kurzbeschreibung des Settings
Der integrative Ansatz des Faßbacher Hofs beinhaltete von jeher, dass wir auf die Bildung von Untergruppen entlang diagnostischer Trennungslinien verzichteten. Vielmehr wurde in den soziotherapeutischen Strukturen eine ausbalancierte Zusammensetzung der verschiedenen Gruppen nach Alter, Geschlecht und Diagnosen angestrebt. Daher wurden auch die substituierten Klienten in die bestehenden Wohn- und Arbeitsgruppen integriert. Dies wirkte sowohl einer inneren „Scenebildung” als auch einer möglichen Stigmatisierung durch andere Bewohner entgegen.
In Verbindung mit der soziotherapeutischen Betreuung in den Funktionsbereichen Wohnen und Arbeiten erfolgen Substitution und begleitende psychiatrische Behandlung im Rahmen der Suchtambulanz der Rheinischen Klinik Langenfeld.
Bei Aufnahme in die Substitutionsbehandlung erfolgt durch das Ärzteteam eine differenzierte psychiatrische Problemanalyse mit konkreten Folgerungen für die Therapie unter Einbeziehung der Psychopharmakotherapie. Die Auswahl eines Neuroleptikums wird auf die individuelle Verträglichkeit mit dem Substitutionsmittel überprüft. Anschließend findet ein interdisziplinärer Austausch mit den Fachkräften des Faßbacher Hofs statt, die die psychosoziale Behandlung übernehmen. Für die substituierten Klienten findet einmal wöchentlich eine Sprechstunde in der Klinikambulanz statt. Um eine enge Vernetzung der psychiatrischen Behandlung mit den Erfahrungen aus der soziotherapeutischen Betreuung sicherzustellen, werden die Gespräche gemeinsam mit einer Fachkraft aus dem Faßbacher Hof geführt, soweit der Klient dem zustimmt.
Im Krisenfalle ist jederzeit eine Klinikaufnahme zur Beikonsumentgiftung oder zur stationären psychiatrischen Behandlung möglich. Die Rückfallbearbeitung erfolgt primär durch Einzel- und Gruppengespräche in der Einrichtung (auch dann, wenn zwischenzeitlich eine stationäre Beikonsumentgiftung erforderlich war). Ein besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, ob ein erkennbarer Zusammenhang zur psychischen Erkrankung besteht. Gegebenenfalls wird das therapeutische Setting individuell modifiziert und/oder die neuroleptische Medikation durch den behandelnden Facharzt überprüft.
Die substituierten Klienten fahren anfangs täglich zu festen Vergabezeiten in die Klinikambulanz. Nach ca. 5-monatiger Beikonsumfreiheit besteht die Möglichkeit, schrittweise in das Take-Home-Programm zu wechseln. In der Regel erhalten die Klienten zunächst „Take-Home” für drei Tage, bei optimalem Verlauf schließlich für eine Woche. Sie nehmen dann das Substitutionsmittel selbständig in der Einrichtung oder in der eigenen Wohnung ein.
Bisherige Ergebnisse
Bisherige Ergebnisse
Nach nun dreijährigen Behandlungsverläufen können die Erfahrungen als überwiegend positiv bezeichnet werden. Bei der Gruppe der substituierten Klienten kam es in keinem Fall zu einem Abbruch des Aufenthaltes. Nur in zwei Fällen waren wir zu einer Kündigung des Betreuungsvertrages gezwungen, da sich keinerlei Änderung des Konsumverhaltens zeigte. 7 von 9 substituierten Klienten konnten hingegen nachhaltig von der Aufnahme in unsere Einrichtung profitieren. Die Betroffenen blieben überwiegend psychisch stabil, so dass es lediglich zu einer stationären psychiatrischen Krisenintervention kam. Es gelang den meisten Klienten, im Verlauf des Aufenthalts ihren Beikonsum zu reduzieren oder ganz aufzugeben. Bei lediglich 3 von 9 Klienten waren - zumeist in den ersten Monaten des Aufenthaltes - stationäre Beikonsumentgiftungen erforderlich.
Vergleichen wir die Rückfallhäufigkeit zwischen Gruppen unterschiedlicher Substanzpräferenz (Klienten, bei denen Alkoholmissbrauch im Mittelpunkt steht, Drogenabhängige und substituierte Drogenabhängige), weist die Gruppe der Substituierten das beste Ergebnis auf. So blieben vier von neun substituierten Klienten rückfallfrei, hingegen keiner der nicht substituierten drogenabhängigen Bewohner (s. Tab. 1).
Tab. 1 Rückfallvergleich nach Substanzpräferenz, Faßbacher Hof (Basis: Neuaufnahmen 6/2001 bis 6/2004)
| Drogen substituiert | Drogen nicht substituiert | Alkohol | gesamt |
Anzahl Klienten | 9 | 9 | 17 | 35 |
Gesamtdauer (Monate) | 99 | 115 | 273 | 487 |
Abbrüche | 0 | 0 | 1 | 1 |
rückfallfrei | 4 | 0 | 3 | 7 |
mit Rückfällen | 5 | 9 | 14 | 28 |
Rückfälle gesamt | 11 | 27 | 39 | 77 |
Kündigung wg. fortgesetzter Rückfälligkeit | 2 | 3 | 5 | 10 |
ambulant behandelte Rückfälle | 5 | 18 | 19 | 42 |
Entgiftungsbehandlungen | 6 | 9 | 20 | 35 |
stationäre psychiatrische Behandlungen (nicht durch Rückfall verursacht) | 1 | 3 | 3 | 7 |
reguläre Auszüge | 3 | 2 | 2 | 7 |
Auf der Basis des überwiegend positiven Verlaufs konnten 6 von 9 Klienten in das Take-Home-Programm aufgenommen werden. Ein Klient konnte bislang nach seinen Aufenthalten in Wohnheim und Außenwohngruppe erfolgreich in unser ambulantes Betreutes Wohnen, eine Klientin vom Betreuten Wohnen in eine völlig selbständige Wohnform wechseln.