Suchttherapie 2004; 5(4): 167-171
DOI: 10.1055/s-2004-813766
Schwerpunktthema

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Stigmatisierung von Drogenabhängigen

Stigmatization of Drug AddictsJ. H. Gölz1
  • 1Schwerpunktpraxis für HIV, Hepatitis, Suchtmedizin, Praxiszentrum Kaiserdamm Berlin
Further Information

Dr. med. Jörg H. Gölz

Praxiszentrum Kaiserdamm Berlin, Schwerpunktpraxis für HIV, Hepatitis, Suchtmedizin

Kaiserdamm 24

14057 Berlin

Email: goelz@snafu.de

Publication History

Publication Date:
14 December 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Die „Normalen” einer Gesellschaft bedürfen einer oder mehrerer stigmatisierter Personengruppen, um sich selbst ihrer Normalität vergewissern zu können. Stigmatisierung entspricht also einem starken und allgemeinen Bedürfnis jeder Gesellschaft. Andererseits widerspricht ein exzessives Ausleben dieses Bedürfnisses den Maximen einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft. Drogenabhängige bieten sich mit einer Fülle von Attributen zur Stigmatisierung geradezu an. Besonders tragisch ist, dass die meisten ihrer Attribute durch eine historische Entscheidung der Gesellschaft hervorgerufen wurde, durch den prohibitionsbedingten hochriskanten Lebens- und Konsumstil. Ihr Stigma ist also in doppelter Weise gesellschaftlich aufgezwungen. Einmal als Diskreditierung eines Lebensstils und zum Zweiten als Diskreditierung der Folgen der Prohibition. Die Stigmatisierung von Drogenabhängigen setzt sich auf allen Ebenen der Gesellschaft fort, sogar bis in ihr Hilfs- und Versorgungssystem hinein. Die komplexen Identifizierungsprozesse und die artifiziellen Kommunikationsstile, die ihnen die Stigmatisierung aufzwingt, erschweren Therapie und Rehabilitation erheblich. Eine ernst zu nehmende schadensmindernde Drogenpolitik muss deshalb immer auch gegen die Stigmatisierung ankämpfen, auch auf die Gefahr hin, in diesem Kampf selbst Opfer stigmatisierender Zuweisungen zu werden.

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Abstract

Normal” people always need other - stigmatized - groups to assure themselves of their “normality”. Thus, stigmatization generally is a strong need in any society. The values of an enlightened democratic society though are not reconcilable with excessive stigmatization. Drug users show a broad range of attributes that seem to be predestined for stigmatization. It is tragical that most of these attributes are in fact consequences of an arbitrary agreement that emerged in the history of our society: the prohibition of certain drugs - leading to a high-risk lifestyle and consumption. The drug users’ stigma is forced upon them in a double sense: their characteristics, which are socially produced, are discredited by society. Drug users are stigmatized on all social levels, even on the level where they are meant to find help and care. Complex processes of identification and artificial ways of communication that are forced upon them by stigmatization make therapy and rehabilitation extremely difficult. Therefore, a serious harm reducing drug policy has to fight stigmatization - even at the risk of becoming the victim of stigmatization itself.

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Einleitung

Stigma bezeichnet im Sprachgebrauch der Soziologie und der Psychologie ein menschliches Attribut, das etwas Ungewöhnliches, Abstoßendes, Wertloses ausdrückt. Stigmatisierung bezeichnet die Deutung von Eigenschaften oder Merkmalen einer Menschengruppe als Ausdruck von Minderwertigkeit [1].

Das von einer aktuellen Norm Abweichende unterliegt immer der Gefahr abgelehnt zu werden. Diese Ablehnung kann sich auf seelische und körperliche Erkrankungen beziehen, kann Armut, Unfruchtbarkeit oder sexuelle Orientierung zum Inhalt haben. Sie kann sich gegen die Zugehörigkeit zu einer Religion, zu einer Rasse oder zu einer Hautfarbe richten. Die für eine Stigmatisierung geeigneten Sachverhalte sind prinzipiell beliebig. Es gibt keine geschichtliche oder regionale Konstanz: Was vor hundert Jahren ein Stigma war, gilt heute als normal, was in der einen Gesellschaft als abstoßend gekennzeichnet ist, genießt in einer anderen Gesellschaft höchste Wertschätzung.

In dem, was aktuell stigmatisiert wird, drückt sich daher immer eine aktuelle Vorstellung von Normalität aus. Häufig ist die stigmatisierende Gruppe selbst nur eine groteske Karikatur von Lebenszielen und geistigen Inhalten. Die Stigmatisierung der Drogenabhängigen entstammt den moralischen Maximen der weißen amerikanischen Mittelschicht der USA. Es sind vor allem die Einwohner des Südens („bible belt”), des Westens und Südwestens der Vereinigten Staaten. Der Inbegriff von Normalität in diesem Teil der USA besteht im gottgefälligen Leben entsprechend den asketischen Idealen des Protestantismus [2]. Bis zur Karikatur gesteigert erscheint die moralisierende Haltung in der religiösen Ekstase der Erweckungskirchen und anderer christlicher Sekten. Der Angehörige dieser Gesellschaftsgruppe fühlt sich auserwählt als „God’s Choosen People”, heimisch im auserwählten Land „God’s Own Country”, Teil der „nation with the soul of a church” [3].

Mit ekstatischem Eifer wurde alles verfolgt, was diesem Wertekanon nicht entsprach. Die geltenden Tugenden bestanden im Verzicht auf Lebensfreude, in harter Arbeit, in wirtschaftlichem Erfolg, in sexueller Enthaltsamkeit, gebunden an „family values”. In diesem religiösen Milieu herrscht die Gewissheit, dass ausschließlich die eigenen Normen Wert besitzen und zur Erlösung führen.

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Gesellschaftliche Funktion der Stigmatisierung

Durch Stigmatisierungsprozesse vergewissert sich das Gros einer Gesellschaft oder einer Großgruppe seiner Normalität. Das Andersartige der Stigmatisierten erst vermittelt das Gefühl der eigenen Unversehrtheit und der eigenen „höherwertigen” Daseinsform. Die negative bestimmte Gegenidentität der Stigmatisierten ist der Grund, auf dem die eigene Überlegenheit sich erleben lässt.

Die Herabsetzung von Subgruppen stellt also ein unverzichtbares gesellschaftliches Element der Identitätsgewinnung dar und ist deshalb ein ubiquitär zu beobachtendes Phänomen. Je mehr eine Gesellschaft solcher stigmatisierter Subgruppen bedarf und je heftiger die Stigmatisierten ausgeschlossen werden, desto unsicherer ist eine Gesellschaft selbst in Bezug auf die Werte, auf denen ihre Identität fußt.

Selbstverständlich gibt es in der Gesellschaft auch Vorgaben, die eine Identitätsfindung über den Mechanismus Stigma verbieten. Es sind dies die Maximen Toleranz, Freiheit des Einzelnen und Gleichheit. Im Wesentlichen also das Erbe der Aufklärung, das politische Unterpfand der Moderne, das auch nicht durch fundamentalistische religiöse Orientierungen relativiert werden darf. Das freiheitliche Milieu einer Gesellschaft wird also durch die Einschränkung und Aufhebung von Stigmatisierungen im Namen der Gleichheit und Toleranz bestimmt.

Stigmatisierungen können mit unterschiedlicher Wucht ausgestattet sein. Beginnend beim wortlosen Abwenden reicht das Spektrum über deklamatorische Bloßstellung bis zur gewalttätigen Unterdrückung und kann im Genozid gipfeln. In Krisenzeiten der „Normalen” kann jede stigmatisierte Gruppe tödlich gefährdet sein.

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Drogenabhängige als idealtypische Stigmakandidaten

Bei Drogenabhängigen überlagern sich häufig zwei oder mehr Stigmata und schaffen so ein nahezu unüberwindbares Hindernis für soziale Akzeptanz. Als Erstes tragen Drogenabhängige das Stigma der Sucht, der fehlenden Selbstkontrolle. Innerhalb der Gruppe der stigmatisierten Süchtigen stellen sie eine besonders verachtete Gruppe dar: Sie konsumieren illegale Suchtmittel, sie sind also zusätzlich kriminell. Der gesellschaftliche Akt, bestimmte Rauschmittel zu illegalisieren, führt bei den Konsumenten zwangsläufig zu weiteren Merkmalen, die das Stigma verbreitern: Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung, Prostitution, ansteckende Infektionserkrankungen. Ohne Rücksicht auf Ursache und Wirkung wird dem Drogenabhängigen angelastet, was ihm die Gesellschaft zuvor angetan hat.

Als drittes Stigma kommt hinzu, dass in vielen Regionen der westlichen Welt Drogenabhängige auch noch Angehörige von Gruppen sind, die mit einem phylogenetischen Stigma behaftet sind: zum Beispiel die Afroamerikaner und die Hispanics in den USA, die Algerier in Frankreich, die russischen Aussiedler in der BRD und andere mehr. Drogenabhängige verstoßen damit gegen eine Fülle von gesellschaftlichen Primär- und Sekundärtugenden.

Im transatlantischen Kulturraum haben sich die Kontrolle von Affekten und die Erringung beruflicher Erfolge als höchste Persönlichkeitswerte herausgebildet. Lebensgenuss ist nur in Übereinstimmung mit diesen Idealen und deren Erfüllung vorgesehen. Diese Kontrollfunktionen und Leistungen des Ichs werden im Rauschzustand aufgelöst. Damit verstößt der Drogenkonsument gegen ein Grundprinzip des gesellschaftlichen Konsens. Wie gefährlich und deshalb verdammenswert dieser Verstoß bewertet wird, lässt sich daran ablesen, wie gefährdet die Gesellschaft sich als Ganzes durch den rauschmittelbedingten Verlust der Selbstkontrolle bedroht fühlt: Das dokumentiert die immer wieder aufflammenden Bemühungen, nicht nur die „illegalen” Drogen durch Prohibition von den Menschen fernzuhalten, sondern auch die legale Hauptdroge Alkohol zu verbieten.

Die Gefahren des Drogenkonsums wurden und werden ins Gigantische verzerrt. In einer Radiosendung zur Drogenerziehung 1928 in den USA verstieg sich der Kongressabgeordnete Richmond P. Hobson zu der Aussage: „Upon this issue (drug addiction) hangs the perpetuation of civilization, the destiny of the world and the future of human race” [4]. Ein größeres Menetekel ist nicht an die Wand zu zeichnen. Sekundiert wurde diese Verteufelungskampagne seit 1930 durch Harry S. Anslinger, dem ersten Chef des Federal Bureau of Narcotics [5]. Als Höhepunkt des staatlichen Strafbedürfnisses wurde unter seiner strengen moralischen Ägide sogar wieder die Todesstrafe für besondere Fälle des Heroinhandels eingeführt [6]. Solche Strafandrohungen sollten dem „Normalen” zeigen, dass es sich lohnt, die Anstrengungen der Normalität auf sich zu nehmen und lebenslang dem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen.

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Inhalte, Formen und Ausgestaltungen der Stigmatisierungen

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Stigmatisierung zur Begründung der Prohibition

Um die Maßnahmen der Prohibition als politisch gerechtfertigt und notwendig erscheinen zu lassen, bedarf es einer Dämonisierung des Gebrauchs der verbotenen Drogen und einer Diskreditierung der Konsumenten. Sie mussten zum augenfälligen Beleg für die zerstörerische Wirkung des Drogenkonsums stilisiert werden.

Das weltweite Wächteramt für diese Aufgabe haben die politischen Repräsentanten des puritanischen Amerikas übernommen. Zum Zentralkomitee dieses moralischen Feldzuges wurde das Federal Bureau of Narcotics, das seit 1930 jede neue Droge illegalisierte und deren Konsumenten stigmatisierte [7].

Die Stigmatisierung wurde flankiert von einer Kette internationaler Verträge und Vereinbarungen, die sich gegen die Verbreitung illegaler Drogen richteten: Von der Haager Opiumkonvention und dem Harrison Act über die Genfer Opiumkonferenzen bis zum International Narcotics Control Board der UN wurde und wird die restliche Welt in den amerikanischen „war on drugs” eingebunden. Es wird der Versuch unternommen, Produktion, Handel und ärztliche Verfügungsgewalt über Opiate immer weiter einzuschränken [8].

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Stigmatisierung innerhalb des medizinischen Versorgungssystems

1919 verbot der Supreme Court der Vereinigten Staaten zum ersten Mal die ärztliche Verordnung von Opiaten an Opiatabhängige [9]. Die Substitutionskliniken mehrerer Bundesstaaten wurden geschlossen. Diesen Eingriff in die ärztliche Entscheidungsfreiheit haben die USA in der gesamten westlichen Medizin durchgesetzt. Zuletzt blieb nur noch den britischen Ärzten die Freiheit, Heroin an Abhängige zu verordnen oder als Schmerzmittel einzusetzen. Erst mit Beginn der AIDS-Epidemie und den damit verbundenen Befürchtungen haben sich die europäischen Ärzte wieder von dieser Bevormundung befreit. Dieser prohibitive Übergriff auf ärztliche Optionen hat lange Zeit die Anwendung von Opiaten und die Behandlung Opiatabhängiger stigmatisiert. Innerhalb der Ärzteschaft herrschte geradezu eine Opiophobie.

Überreste davon finden sich noch allenthalben im Versorgungssystem. In einer psychiatrischen Abteilung eines großstädtischen Krankenhauses werden alle substituierten Patienten zuerst zwangsentzogen und dann erst widmet man sich dem eigentlichen Behandlungsanlass. Mit diesem ideologischen Willkürakt möchte der Chefarzt der Abteilung zeigen, dass ihm die ganze therapeutische Richtung nicht passt. Er setzt sich in seinem Einflussbereich darüber hinweg, dass die Substitutionsentscheidung im ambulanten Bereich durch erfahrene Kollegen getroffen wurde und zusätzlich von einem spezialisierten ärztlichen Ausschuss abgesegnet worden ist.

In einer anderen psychiatrischen Abteilung eines großstädtischen Krankenhauses wird jeder substituierte Patient auf höchstens 80 mg Methadon herabdosiert: auch hier eine opiophobe willkürliche Festlegung einer Höchstdosierung, für deren Sinn in der Literatur keine Belege zu finden sind.

In der geburtshilflichen Ambulanz einer Universitätsklinik werden substituierte Schwangere mehr oder weniger dazu gedrängt, bis zur Entbindung zu entziehen. Das Glück der Mutterschaft wird offenbar vom geburtshilflichen Personal so hoch eingeschätzt, dass davon ausgegangen wird, auch einer drogenabhängigen Schwangeren müsse doch in dieser Situation der Verzicht auf Opiate besonders leicht fallen. Die für dieses Vorgehen gern zitierten geburtshilflichen und neonatologischen Begründungen sind vorgeschoben. Es gibt keine gewichtigen Gründe, die die gleichzeitige Gefahr eines unkontrollierten Rückfalls während der Schwangerschaft aufwiegen.

Aber nicht nur der medizinische Bereich leistet sich ideologisch begründete Übergriffe. Jugendämter signalisieren substituierten Frauen mit Kleinkindern, dass es für sie besser wäre, wenn sie abstinent lebten. Die Chance, das Kind zu behalten, sei dann größer. Auch hier finden sich keinerlei Belege, dass abstinente Mütter ihre Kinder besser versorgten als Substituierte. Das Sorgerecht weist ebenfalls keine Bestimmungen auf, dass wegen fortgesetzter Substitution das Sorgerecht für ein Kind entzogen werden könnte. Es handelt sich um ungerechtfertigte Einschüchterungen. Aus dem Versorgungssystem gibt es also ständig Übergriffe mit dem Ziel, die Wertvorstellungen der Normalen in eine abweichende Lebenspraxis zu transplantieren.

In die alltägliche therapeutische Auseinandersetzung mit Drogenkonsumenten fließen ebenfalls ständig diskriminierende Vorgaben ein, die stigmatisierend wirken. Eine der wichtigsten therapeutischen Funktionen ist die hilfsweise Übernahme von steuernden Ich-Funktionen. Die Kunst der Therapeuten ist hier, die Balance zu wahren zwischen dem Hilfs-Ich und dem Übergriff auf die Autonomie des Drogenabhängigen. Diese Balance geht oft verloren. Eine Fülle von unverständlichen Regeln in therapeutischen Einrichtungen spricht eine klare Sprache: kurze Haarlänge, Verbot bestimmter Kleidungsstücke, das Verbot von Nikotin, das Verbot von Süßigkeiten, überstrenge Anforderungen an Termindisziplin etc. sind in ihrem therapeutischen Wert nicht belegt.

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Stigmatisierung innerhalb der Gesellschaft

Die Stigmatisierung von Drogenabhängigen geschieht ohne Schamgefühl vor aller Öffentlichkeit. So verlässt der Ministerpräsident von Thailand bei der letzten Welt-AIDS-Konferenz in Bangkok demonstrativ die Eröffnungsveranstaltung, während der im Programm vorgesehene ehemalige Drogenkonsument über die Situation von HIV-infizierten Drogenkonsumenten sprechen soll. Dies geschieht vor den laufenden Kameras aller großen Fernsehgesellschaften der Welt. Auf dem gleichen Kongress berichtet der oberste iranische Gefängnisarzt darüber, dass es langsam gelinge, auch suchttherapeutische Angebote für die frisch eingelieferten Drogenkonsumenten in iranischen Gefängnissen zu installieren. Der überwiegende Teil der Bevölkerung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sieht in Drogenkonsumenten moralische Versager und wendet sich scharf gegen die Installation von Harm-Reduction-Programmen [10].

Die breite gesellschaftliche Beteiligung an der Stigmatisierung Drogenabhängiger lässt sich überall an dem heftigen Widerstand ablesen, wo schadensmindernde Maßnahmen installiert werden sollen. Ob es sich um Spritzenautomaten in Haftanstalten, szenenahe Druckräume, medizinische Programme, Drogen-Checking gegen Überdosierungsgefahren, Aufklärung über die Sterilisierung von Spritzbestecken oder um Methadonsubstitution handelt, überall stößt man auf ein Gegenargument von trostloser Rationalität: „Solche Maßnahmen geben ein falsches Signal, sie sind eine Aufforderung zu bequemem und gefahrlosem Drogengebrauch.” Nur die Angst vor der Verbreitung der HIV-Infektion hat Mitte der 80er-Jahre ein kurzes Intermezzo mit schadensmindernden Angeboten geschaffen [11]. Heute, da klar ist, dass in Europa die HIV-Infektion nicht die Anfang der 80er-Jahre befürchtete Dimension erreicht, werden allenthalben die schadensmindernden Szenarien wieder mit den gleichen Argumenten abgebaut. Jetzt wird sichtbar, dass nicht ein echter Wandel der Einstellungen eingetreten war, sondern nur die vorübergehende Angst vor der Verbreitung einer tödlichen Infektionskrankheit Motor der Veränderung war. Sobald deutlich wurde, dass diese Krankheit nicht in nennenswertem Maße von den Drogenkonsumenten auf die Bevölkerung überspringt, schwand das öffentliche Interesse an Prophylaxe. Es besteht keine Veranlassung, Stigmatisierte vor Ansteckung zu schützen.

Wo auch immer eine Versorgungsinstitution im öffentlichen Raum für Drogenkonsumenten geschaffen werden soll (Ambulanz zur Heroinvergabe, Druckräume, Notübernachtung etc.), tritt sofort eine mächtige Eltern- oder Anwohner-Initiative auf, die den handlungswilligen Lokalpolitiker stoppt. Diese Initiativen setzen sich zur Wehr, als ob ein offenes Internierungslager für Lepra oder Tuberkulose in ihrem Wohngebiet aufgeschlagen werden sollte. Der Vermieter von Praxisräumen lässt gegenüber dem Arzt verlauten: „Wenn ich gewusst hätte, was Sie in meinem Haus machen [Substitutionsbehandlung], hätten sie keinen Mietvertrag von mir bekommen.”

Die ohne Zweifel häufig gestressten Mitarbeiter in großstädtischen Sozialämtern lassen ebenfalls gerne ihren Unmut an Drogenkonsumenten aus. Bescheinigungen werden verzögert, ein Bündel von Attesten wird eingefordert, um einen banalen Verwaltungsakt in Gang zu bringen, Auszahlungen werden verschleppt, Bewilligungen werden von nicht beibringbaren Attesten abhängig gemacht.

Als mit der letzten Gesundheitsreform auch die bisher über das Sozialamt krankenversicherten Drogenkonsumenten sich eine Krankenkasse suchen mussten, haben die Kassen alles getan, möglichst wenig dieser Patienten aufnehmen zu müssen. Interne Dienstanweisungen kursierten, in denen den Angestellten ein distanziert-unfreundliches Verhalten im Umgang mit solchen Bewerbern anempfohlen wurde. Ließen sie sich auch dadurch nicht abweisen, so wurden sie Bezirksstellen der Kassen zugewiesen, die bis zu 40 km von ihrem Wohnsitz entfernt waren.

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Stigmatisierung der Ärzte und des therapeutischen Personals im Drogenhilfssystem

Über die mit dem Opiumabkommen transportierte Stigmatisierung des medizinischen Gebrauchs von Opiaten hinaus wurde die ärztliche Beschäftigung mit Drogenkonsumenten zusätzlich offen als „dirty medicine” diffamiert [12]. Die Ärzte mussten sich mit der pejorativen Formel „dope doctors” [13] belegen lassen. In der Bundesrepublik hieß die entsprechende Formel: „Dealer in Weiß”. So ist es nicht erstaunlich, dass man als Behandler von Drogenabhängigen von Kollegen mit verständnislosem Blick gefragt werden kann, warum man sich mit diesen Patienten abgebe. Hier findet sich ein verbreitetes Phänomen wieder: Diejenigen, die wie z. B. Drogenberater und Ärzte aus therapeutischen Gründen mit den stigmatisierten Drogenkonsumenten zu tun haben, unterliegen ebenfalls der Diskreditierung. Es entstehen stigmatisierte therapeutische Beziehungen. Die Akzeptanz dieser Rollenzuweisung führt zu seltsamen Reaktionen unter den Betroffenen: Ein Teil der Ärzte und Drogenberater identifiziert sich nun weit über das therapeutisch Notwendige hinaus mit den Drogenkonsumenten, übernimmt deren Vorliebe für bestimmte Kleidungsstücke und beginnt den Jargon der Drogenszene zu sprechen. Ein anderer Teil verteidigt ständig seine therapeutische Arbeit mit Drogenkonsumenten und fordert Anerkennung für die hohen sozialen Motive seines Handelns.

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Identitätsprozesse und Interaktionsstile bei Stigmatisierten

Identitätsangebote an den Einzelnen können als typisierende und deutende Formen betrachtet werden, die im kommunikativen Bezug auf Individuen angewandt werden. An ihnen kann man sehen, womit man rechnen muss, wenn man es mit solch typisierten Einzelnen zu tun hat [14]. Auf den Stigmatisierten wirken gleichzeitig zwei solcher Identitätsangebote ein: Einmal unterwirft er sich mehr oder weniger den aus der sozialen Umwelt zugeschriebenen Charakterisierungen des Stigmatisierten, zum anderen schreibt er sich selbst aus seinem Inneren heraus die Identität der Normalen zu. Intrapsychisch und in der Kommunikation mit anderen Menschen innerhalb und jenseits der Drogenszene führt das zu schwierigen Vermittlungsprozessen.

Wir erleben häufig, dass das Stigma prononciert und wie eine Waffe von den Stigmatisierten übernommen wird. Drogenkonsumenten bezeichnen sich dann selbst mit den pejorativen Termini (Fixer, Junkie, Kokser, Kiffer etc.) und deuten sie zu einer positiven Identität um. Das erspart ihnen den Prozess des Versteckens und Vertuschens. Auch die wichtigste deutsche Selbsthilfeorganisation für Drogenabhängige verfährt so und nennt sich JES - Junkies, Exuser, Substituierte. So entfällt auch hier der Zwang zur Verheimlichung der diskreditierten Persönlichkeitsmerkmale.

Andere Stigmatisierte versuchen, ihren Makel durch Überkompensation zu mildern. Sie verhalten sich ganz besonders so, wie es von Normalen erwartet wird [15]. Wieder andere Stigmatisierte ziehen aus ihrem Anderssein zunächst den Vorteil, sich für keinen Misserfolg in ihrem Leben mehr verantwortlich zu fühlen. Eine weitere Gruppe verarbeitet das Stigma derart, dass sie es ins Gegenteil transformiert: Sie inszeniert das Stigma als höchste Auszeichnung. Die diskreditierten Attribute weder mit großem Nachdruck öffentlich dargestellt und hervorgehoben. Die Aufmerksamkeit, die dem grandios Abscheulichen entgegengebracht wird, entschädigt für die eigentlich damit verbundenen Verletzungen. Der soziale Umgang wird aufgespalten. Befindet man sich in der abweichenden Gemeinschaft von Drogenkonsumenten, kann man sich nach dem Kommunikationsstil der Drogenszene verhalten. Ist man mit Normalen zusammen, muss man ein kompliziertes Rollenspiel beherrschen, das einen in seiner stigmatisierten Existenz nicht verrät [16]. Oder es finden aufwändige Spaltungen statt. Ein HIV-infizierter Substituierter lässt sich in einer Praxis substituieren und in einer anderen antiretroviral behandeln. Als Grund gibt er an: „Dort, wo ich substituiert werde, bin ich eben der Junkie. Hier, wo meine HIV-Infektion behandelt wird, bin ich ein ganz normaler Patient.”

Die Fülle der Reaktionsstile und der Interaktionsformen, die der Stigmatisierte erfinden und erlernen muss, führt später in der Therapie und der Rehabilitation zu großen neuen Anpassungsschwierigkeiten. Im Einlernen eines „normalen” Lebensvollzugs ist der Drogenabhängige gezwungen, seine hochabnorme Vergangenheit und ihre Spuren (z. B. narbige Unterarme und Hände) zugleich als Teil der eigenen Identität aufzubewahren und als unpassenden Teil der neuen Identität abzulehnen. Selten entwickelt sich aus dieser Aufgabe eine geschlossene Person, die Lösung liegt im Rollenspiel. Häufig - meist im Berufsleben - muss auch die Erfahrung gemacht werden, dass man nicht mehr aus der früheren Identität entlassen wird. Als Lebensraum bleibt dann nur noch die alte Gemeinschaft oder ein schützendes Milieu durch bestimmte Gruppen im Hilfssystem.

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Paradoxie im Kampf gegen Stigmatisierung

Wer gegen die Stigmatisierung von Personengruppen ankämpft, darf keine soziale Gratifikation für sein Handeln erwarten. Er gerät immer in eine schwierige Lage. Er muss mit Argumenten der Aufklärung gegen irrationale Bedürfnisse von erheblichem Gewicht angehen. Er wird von den Normalen als jemand erlebt, der ihnen das Ablehnenswerte als harmlos und ungefährlich verkaufen möchte. Mit der Aufforderung, dem Stigmatisierten nicht die Einfühlung zu verweigern, betreibt der Anwalt der Stigmatisierten ein für ihn selbst gefährliches Unterfangen. Denn die Einfühlung in den Ausgestoßenen und die Annäherung an dessen Schicksal gefährden einen wichtigen Pfeiler der Identität des Normalen. Die Gefährdung macht sich sofort Luft: Nach einer Pressemitteilung über eine Anti-Stigmakampagne für Drogenabhängige erhalten die Urheber der Kampagne per E-mail wütende Beschimpfungen: „Und für diese Verbrecher [die Drogenabhängigen] soll man auch noch Verständnis haben!?”

Alles, was sich mit den Stigmatisierten in Verbindung setzt, unterliegt sofort der Gefahr, selbst dem Stigmatisierungsprozess anheim zu fallen. Der Kampf gegen die Stigmatisierung ist also immer ein Zwei-Fronten-Kampf: für die stigmatisierten Menschen und gegen die eigene Stigmatisierung.

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Literatur

  • 1 Goffmann E. Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. Englewood Cliffs, N.J; Prentice-Hall Inc 1963
  • 2 Weber M. Die protestantische Ethik und der „Geist “ des Kapitalismus. Weinheim; Beltz Athenäum Verlag 2000: 53 ff.
  • 3 Mead S E. The Nation with the Soul of a Church.  Church History. 1967;  36 275 ff
  • 4 Hobson R P. The peril of narcotic drugs.  Congressional Record. 18.2.1925;  4088-4091
  • 5 United States 71st Congress. public law no. 357. To create in the Treasury department a Bureau of Narcotics. Approved June 14, 1930. 
  • 6 United States 84th Congress. public law no.728. Narcotic Control Act of 1956. Approved July 18, 1956. 
  • 7 Musto D F. The Marihuana tax act of 1937.  Arch Gen Psychiatry. 1972;  26 101
  • 8 de Ridder M. Heroin. Vom Arzneimittel zur Droge. Frankfurt/New York; Campus Verlag 2000
  • 9 United States Supreme Court. Webb et al. versus U.S. 249 U.S. 96, 1919; U.S. versus Doremus 249 U.S. 86, 1919. 
  • 10 Bornemann R. Epidemiologie des Drogenkonsums und drogenassoziierter Infektionskrankheiten, insbesondere HIV/AIDS, in Osteuropa. Bielefeld; Karoi Verlag 2001
  • 11 Jacob J, Keppler K, Stöver H  (Hrsg). Drogengebrauch und Infektionsgeschehen (HIV/AIDS und Hepatitis) im Strafvollzug. Berlin; AIDS-Forum DAH 1997
  • 12 Macqueen A R. Why general practitioners might avoid drug and alcohol work.  Drug Alcohol Review. 1991;  16 429-431
  • 13 United States 63rd Congress. public law no.233. Approved December 17, 1914. 
  • 14 Stulpe A. Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität. Dissertationsmanuskript,. Berlin; 2004
  • 15 Keitlin T, Lobsenz N. Farewell to Fear. New York; Avon 1962: 10
  • 16 Messinger S. et al . Life as Theater: Some Notes on the Dramaturgic Approach to Social Reality.  Sociometry. 1962;  25 98-110

Dr. med. Jörg H. Gölz

Praxiszentrum Kaiserdamm Berlin, Schwerpunktpraxis für HIV, Hepatitis, Suchtmedizin

Kaiserdamm 24

14057 Berlin

Email: goelz@snafu.de

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Literatur

  • 1 Goffmann E. Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. Englewood Cliffs, N.J; Prentice-Hall Inc 1963
  • 2 Weber M. Die protestantische Ethik und der „Geist “ des Kapitalismus. Weinheim; Beltz Athenäum Verlag 2000: 53 ff.
  • 3 Mead S E. The Nation with the Soul of a Church.  Church History. 1967;  36 275 ff
  • 4 Hobson R P. The peril of narcotic drugs.  Congressional Record. 18.2.1925;  4088-4091
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  • 6 United States 84th Congress. public law no.728. Narcotic Control Act of 1956. Approved July 18, 1956. 
  • 7 Musto D F. The Marihuana tax act of 1937.  Arch Gen Psychiatry. 1972;  26 101
  • 8 de Ridder M. Heroin. Vom Arzneimittel zur Droge. Frankfurt/New York; Campus Verlag 2000
  • 9 United States Supreme Court. Webb et al. versus U.S. 249 U.S. 96, 1919; U.S. versus Doremus 249 U.S. 86, 1919. 
  • 10 Bornemann R. Epidemiologie des Drogenkonsums und drogenassoziierter Infektionskrankheiten, insbesondere HIV/AIDS, in Osteuropa. Bielefeld; Karoi Verlag 2001
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  • 16 Messinger S. et al . Life as Theater: Some Notes on the Dramaturgic Approach to Social Reality.  Sociometry. 1962;  25 98-110

Dr. med. Jörg H. Gölz

Praxiszentrum Kaiserdamm Berlin, Schwerpunktpraxis für HIV, Hepatitis, Suchtmedizin

Kaiserdamm 24

14057 Berlin

Email: goelz@snafu.de