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DOI: 10.1055/s-2004-818934
Gemeinsam trauern und träumen
Sozialarbeiterische Begleitung beim Übergang vom Beruf ins Rentenalter anhand eines FallbeispielsPublication History
Publication Date:
26 March 2004 (online)

Im Rahmen des berufspraktischen Jahres zur Diplom-Sozialarbeiterin lernte ich in der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie zwei stationäre Patienten im Sozialanamnesegespräch kennen. Beide wurden etwa zur gleichen Zeit auf die Station aufgenommen, belegten gemeinsam ein Patientenzimmer.
In unserer Klinik findet der erste sozialarbeiterische Kontakt schon in der Anfangsphase der stationären Aufnahme statt, damit nach Abklärung der sozialen Situation die sozialarbeiterische Sichtweise zur Lebenssituation der Patienten möglichst früh in die therapeutische Teambesprechung einfließen kann.
Im Kontakt mit beiden Patienten wurde mir die große Verschiedenheit der Lebenssituationen und Lebensräume bewusst, im familiären, beruflichen, finanziellen oder Freizeitbereich. Obwohl beide fast gleichaltrig (57/58 Jahre) waren, hatten sie scheinbar wenig gemeinsam. Direkte sozialarbeiterische Interventionen waren nicht erforderlich.
Im Rahmen der wöchentlichen Sozialvisite besuchte ich die beiden Herren auf ihrem Zimmer. Sie lagen sehr leidend, von ihren Krankheitssymptomen geplagt im Bett. Nach kurzen Gesprächen verließ ich das Zimmer, bedrückt und angerührt angesichts der Not der Patienten und ratlos. Die Situation nachspürend wurde mir der mangelnde Kontakt der Zimmernachbarn bewusst, sie kannten sich kaum, sprachen wenig miteinander, drehten sich den Rücken zu. Die Kontaktlosigkeit schien die bestehende Symptomatik noch zu verstärken.
Ich überlegte, wie ich im Rahmen meiner Profession der Sozialen Arbeit, zur Interaktion beitragen und soziale Kompetenzen stärken und die beiden Herren gemeinsam zu einem Gespräch bitten könnte. Den Anknüpfungspunkt hierzu fand ich im Thema der Berentung, da beide erst seit kurzem im Rentenstand waren.
Meine Gedanken stellte ich zur Abklärung im Team vor, wobei die Arbeitsweise des Teams den formalen Kriterien der Balintgruppenarbeit entspricht[1].
Im Anschluss an die Teambesprechung lud ich die beiden „Rentner” zum Gespräch ein. Sie begrüßten die Idee und schienen sehr motiviert für ein solches Treffen. Es sei dringend nötig, sich doch einmal über den „Ruhestand” zu unterhalten, kommentierte Hr. B., und sie erschienen zum vereinbarten Gesprächstermin pünktlich bei mir. Beide brachten Stift und Heft mit, hielten sich daran fest, wollten alles Wichtige notieren. Im ersten gemeinsamen Gespräch wurde die Unterschiedlichkeit der Berentungssituationen sehr deutlich, Hr. B. hatte von sich aus den „Ruhestand” angestrebt, Hr. Qu. wurde laut Eigenaussage ins „Aus” geschickt.
Da beide mit Schreibuntensilien ausgerüstet waren, bat ich, jeder möge für sich eine Gewinn- und Verlustbilanz erstellen unter der Fragestellung: „Was habe ich mit der Berentung verloren, was habe ich gewonnen?” Beide arbeiteten sehr intensiv daran, und stellten die Ergebnisse vor. Trotz der großen Unterschiedlichkeit der Situationen fanden sich viele Gemeinsamkeiten. Ähnliche Verluste mussten überstanden werden: Die schwindenden sozialen Kontakte, die verloren gegangene Tagesstruktur, fehlende Anerkennung. Gewonnen hatten beide Zeit, die sie sehr unterschiedlich füllten, bzw. nicht auszufüllen wussten. Deutlich wurde zum Ende des Gespräches, dass dieser „Ruhestand” nicht notwendig „Stillstand” bedeutet, sondern Bewegung, Organisation und Neuentwicklung erfordert. Das Gespräch entwickelte sich zu einem ernsten und teilweise sehr traurigen Austausch. Am Ende bedankten sich die Männer für das gelungene Gespräch und wünschten einen neuen gemeinsamen Termin. Nach der Verabschiedung beobachtete ich, wie die beiden sich auf dem Rückweg zur Station unterhielten.
Das Eis war gebrochen!
Einige Tage später fand ich die beiden Herren in ihrem Zimmer im intensiven Gespräch vor. Sie freuten sich beide auf den nächsten Termin, bestätigten die Wichtigkeit und die Bedeutung des Austauschs: „Man(n) könne ja sonst nicht darüber reden, andere hätten wenig Verständnis für dieses Thema!” Auch ich freute mich auf das Wiedersehen. Die Bedeutung des Themas war mir aus theoretischer und lebenspraktischer Erfahrung bekannt. Ich wusste, wie schwierig Anpassungsleistungen beim Übergang in neue Lebensphasen und Lebensaufgaben sein können, dass Verluste Raum und Verständnis brauchen und betrauert werden müssen, damit eine Neuorientierung stattfinden kann.
Die beiden Herren erschienen überpünktlich zum zweiten vereinbarten Termin. Dieses Mal sollten Zukunftsperspektiven das Thema sein. Hierzu legte ich einige wunderschöne Landschafts-bilder aus, die beiden sollten sich eines davon zu ihrer Situation und ihren Zukunftsvisionen passend aussuchen und darüber sprechen. Es wurde wieder ein sehr lebhafter, intensiver Austausch, in dem die Trauer, über das, was nicht mehr möglich war ausgesprochen werden konnte. Darüber hinaus konnten Wünsche und Ideen artikuliert werden, von Träumen sowie deren Realisierungsmöglichkeiten erzählt werden. Anhand der Bilder konnten wir Parallelen zum Alter finden: die Winterlandschaft mit Bergen, die wunderschön ist und ihren eigenen Reiz hat, auch wenn der Sommer vorbei ist; die Heißluftballons, die nicht so schnell sind wie ein Düsenjet, aber die Natur intensiver erblicken und erleben lassen. Die Gesprächsrunde war sehr intensiv, dicht und bereichernd, sowohl für die beiden Patienten, als auch für mich.
In der Zwischenzeit war ein neuer 57-jähriger Patient stationär aufgenommen worden, der aufgrund seiner Symptomatik und Erkrankung ebenfalls vor der Berentung stand. Im Team wurde der Vorschlag unterbreitet, Hr. M. doch mit in die „Rentnergruppe” aufzunehmen. In Absprache mit den Patienten geschah dies auch. Beim nächsten gemeinsamen Treffen erstellten die Drei einen „Rentnersteckbrief” und stellten sich mit diesem gegenseitig vor. Dabei wurde über die Bedeutung, die positiven Möglichkeiten, die Schwierigkeiten, Unterstützungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven der Rentensituation gesprochen (z. B. Rente bedeutet „weg vom Fenster sein”, „weniger Geld, weniger Kontakte haben”, „nichts mehr gegen eigene Überzeugungen tun müssen”, „Zuwachs an Freiheit” usw.).
Der neue Patient hatte Gelegenheit, die beiden anderen zu interviewen und seine Sorgen anzusprechen. Die beiden waren sehr stolz den „Neuling” einführen zu können und zeigten sich dabei sehr einfühlsam und fürsorglich.
Ich selbst betrachtete mich, wie auch in den Gesprächen zuvor, als Moderatorin, die mit methodischen, pädagogischen Angeboten zur Interaktion anregt. Die Experten der Runde und der Thematik waren die drei Patienten. Wir verabredeten einen weiteren Termin, um den Abschied Hr. B's. in der kleinen Gruppe vorzubereiten.
Die Abschiedsrunde.
Die Patienten erzählten auf meine Bitte hin über ihre konkreten Pläne für den folgenden Herbst. „Meinen Sie den Herbst des Lebens, oder die Jahreszeit?”, so die Frage von Hr. M. Diese blieb in der Austauschrunde offen, den Vergleich fanden wir jedoch sehr gelungen. Deutlich wurde, dass die Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit der ersten Gespräche konkreten Zielen und Planungen gewichen waren. Diese reichten von Renovierungs- und Reiseplänen bis zur Aufnahme eines Seniorenstudiums. Auch für den zuletzt hinzugekommenen Patienten wurde die Rententhematik deutlich klarer. Außerdem wurde darüber diskutiert, was noch abgeschlossen werden müsse: Für Hr. B. war der stationäre Aufenthalt ein Einschnitt, Hr. Qu. wollte „mit seiner Krankheit abschließen” und reflektierte die ausstehende berufliche Abschiedsfeier. Die Patienten verabredeten sich auch nach dem stationären Aufenthalt zu weiteren Treffen.
Meinen Vorschlag, in der nächsten Zeit ein „Tagebuch der schönen Dinge” zu führen, um somit den Blick auf die positiven Erlebnisse des neuen Lebensabschnittes zu schärfen, wollten die Patienten für sich überdenken und ausprobieren.
Mit dem Gedicht „Stufen” von H. Hesse verabschiedeten wir uns in dieser kleinen, dennoch gelungenen Runde.
„Wohlan denn, Herz nimm Abschied und gesunde!”
(Hermann Hesse)
1 Petzold ER (1984): Klinische Wege zur Balint-Arbeit: Die Zugänge zur Balint-Arbeit aus der Inneren Medizin und Chirugie, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, New York.
Petra Leister
Dipl. Sozialarbeiterin
Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
Pauwelsstr. 30
52074 Aachen