Aktuelle Urol 2004; 35(1): 24-26
DOI: 10.1055/s-2004-822934
Aus der Rechtsprechung

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Praxen vor strategischen Existenzentscheidungen

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Publication Date:
15 July 2004 (online)

 
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Im Streit um die Praxisgebühr und durch die scheinbare Existenzsicherung der KVen ging vielen Ärzten verloren, dass die wohl einschneidenden Veränderungen durch das Zusammenspiel von Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz (GMG) mit der Wirksamkeit des neuen EBM zum 1. Juli 2003 zum Tragen kommen.

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EBM - ein vergessener Todesengel

Die niedergelassene Ärzteschaft hatte sich daran gewöhnt, dass prognostizierte neue Gebührenordnungsvorschläge immer wieder in die Schubladen gesteckt wurden. Das ging solange gut, wie die niedergelassene Kassenärzteschaft noch selbst über die Honorarverteilung entscheiden konnte. Mit dem neu beschlossenen und wirksamen Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz ist das anders. Die Entscheidungshoheit über die Wirksamkeit von Honorarverteilungsmaßnahmen liegt - auf der Basis der Vorgaben des GMG - beim Bundesausschuss Ärztekrankenkassen. Er ist das gemeinsame und verbindliche Entscheidungsorgan für die Honorarpolitik der nächsten Jahre. Kommt der Bundesausschuss Ärztekrankenkassen zu keinem Ergebnis, kann der Bundesgesundheitsminister unmittelbar die notwendigen Honorarverteilungsmaßnahmen anordnen, soweit es das Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz erlaubt. Damit hat - existenziell gesehen - die niedergelassene Kassenärzteschaft ein wesentliches Element der Selbstverwaltung verloren.

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Krankenkasse tragen Morbiditätsrisiko

Gleichzeitig hat der Gesetzgeber angeordnet, dass die Verantwortung für das Risiko der Morbidität von den Kassenärztlichen Vereinigungen an die gesetzlichen Krankenversicherungen übergeht. Das bedeutet konkret, dass die Krankenkassen Interesse daran haben, nur noch tatsächlich auftretende, existenzielle Krankheiten zu bezahlen. Das GMG sieht deshalb vor, dass durch Praxisgebühr und zeitliche Plausibilität der Ablauf einer Arztpraxis transparent wird.

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Zeitvorgaben des EBM

Der jetzt von der KBV beim Bundesausschuss und beim Ministerium vorgelegte EBM-Entwurf vom 11.11.2003 trifft die Erwartungen von Krankenkassen und Gesundheitsministerium. In der betriebswirtschaftlichen Kalkulation für das ärztliche Honorar gilt nach den Absprachen zwischen KBV, Krankenkassen und Gesundheitsministerium folgender Rahmen: Die maximale kassenärztliche Arbeitszeit beträgt pro Woche 51 Stunden oder 600 Minuten pro Tag inkl. Verwaltungstätigkeit. Jede ärztliche Leistung wird erfasst und kann nunmehr auch von den Krankenkassen auf ihre inhaltliche und zeitliche Plausibilität hin geprüft werden.

Die durchschnittliche Zeitstruktur für die ”Ordinationsgebühr“ als Lebenselixier der Praxen ist z. B. wie folgt:

Augenärzte: 15 min.

Gynäkologen: 11 min.

Urologen: 9 min.

Bei 10 Minuten Dauer ist nach dem 54. Patienten das Limit der zeitlichen Plausibilität eines Tages erfüllt. Durchschnittsziel: 1,5 Kontakte pro Quartal.

Da aber noch weitere Kontakt-, Operations-Ziffern etc. zusammenkommen, wird die mittlere Höchstmengenbegrenzung - bundesweit - vom Bundesausschuss Ärztekrankenkassen wahrscheinlich bei der Durchschnittsgröße einer mittleren Praxis (bundesweiter Durchschnitt) angesiedelt werden. Diese Zeiten wurden im Benehmen mit Sachverständigen und Berufsverbänden ermittelt. Daher wird dieses Modell alle Anhänger einer zeit- und zuwendungsorientierten, genauen fachärztlichen Tätigkeit beglücken. Die Vertreter dieser Gruppe sind oft auch die Repräsentanten von Inhabern mittlerer und kleinerer Praxen. Da der maximale Gewinn aus dieser Tätigkeit rund 96 000 Euro pro Jahr betragen soll, entsteht für die Krankenkassen ein planbares Regelleistungsvolumen und scheinbar bei den Vertretern mittlerer und kleinerer Praxen ein Ausdruck hoher persönlicher Befriedigung für ihre Tätigkeit.

Wichtig ist zu beachten, dass die Zeiteinheiten nicht nur für konservative Praxistätigkeiten gelten, sondern auch für ambulant-operative Tätigkeiten. Beispielsweise hat die KV Bayern erklärt, dass sie mit Sicherheit den neu vorgelegten EBM zum 1.7. zur Grundlage ihrer Plausibilitätskalkulation macht. Damit sitzen alle diejenigen in der Falle, die übergroße Einzel- und Operationspraxen betrieben haben. Die von den Berufsverbänden der KBV vorgegebenen Zeiteinheiten entsprechen objektiv nicht den durchaus gesicherten, tatsächlichen Erbringungs-Zeit- einheiten qualifizierter Operateure, um nur ein Beispiel zu nennen.

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OP-Zeiten und Ordinationszeiten müssen addiert werden

Damit bricht die gesamte Rentabilitätsstruktur bisher starker Operateure in Mehrbehandlerpraxen zusammen, weil diese oft nicht nur ein überdurchschnittliches Überweisungs-Patientengut für Operationen hatten, sondern daneben selbst ein großes konservatives Patientengut. Nach vorläufigen Recherchen kann man sagen, dass es hier zu Einbrüchen in der Rentabilität von über 50-60% der Einnahmen kommen wird.

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Berufspolitisches Dilemma: Zeiten runter - Honorare runter!

Gehen jetzt die Operateure mit ihren wesentlich geringeren OP-Zeiten an die Öffentlichkeit, werden die Krankenkassen nicht widersprechen. Gibt man den Operateuren Recht, was alle Sachverständigen wissen, geschieht das Folgende. Die OP-Zeiten werden abgesenkt und damit - im gleichen Verhältnis - die Honorare. Damit hat das untere Drittel der Kollegen massivste Einnahmeverluste. Betriebswirtschaftlich kann es nur eine einzige, sachliche Einnahme-Berechnungsgröße für kassenärztliche Tätigkeit (51 Stunden) geben. Im Vergleichsmaßstab bedeutet das die Einnahme eines Amtsarztes im öffentlichen Dienst.

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30 % Zuschlag für 4-er Gemein- schaftspraxen - Das Todes-Torpedo für die Einzelpraxis

Auch hier gilt es, sich die strategischen Auswirkungen dieses Vorschlages - getragen vom Willen des Gesetzgebers - klar zu machen. Wer die ersten Zeilen des EBM liest, findet folgenden Text.

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Die Rechnung kann aufgehen: Bei einem zweiten Praxisstandort muss die Einzelpraxis ökomisch nicht beeinträchtigt sein (Bild: Archiv).

Mit dieser Regelung mildert der EBM und der Gesetzgeber zu Teilen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Zeitvorgaben und der neuen Plausibilitätsprüfung ab. Insbesondere deshalb, weil die Plausibilitätszeiten nicht bei der Prüfung des einzelnen Arztes zugrunde gelegt werden, sondern bei der Gesamtplausibilität all derjenigen Ärzte, die hypothetisch die jeweilige - mit Zeitvorgaben versehene - Leistung erbringen könnten. Das bedeutet zum Beispiel, dass kassenärztliche Katarakt-Chirurgie auf alle - auch die konservativ arbeitenden - Partner einer Augenarztpraxis verteilt wird. Dennoch werden von dem 30 %-igen Zuschlag auf die Ordinationsgebühr - das werden im Einzelfall ca. 40 000 Euro sein (gerechnet bei einem Kontaktvolumen von 1,5 Kontakten pro Quartal) - viele Kolleginnen und Kollegen in einer Einzelpraxis profitieren wollen.

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Starke, regionale Gemeinschaften erwünscht

Die KBV macht diesen Veränderungsschritt nicht leichten Herzens. Sie weiß, dass die volle Verhandlungsmacht für die Morbidität spätestens 2007 bei den Krankenkassen liegt. Treffen nun die Krankenkassen auf vereinzelte, niedergelassene Ärzte, haben die Einzelpraxen keine Verhandlungsposition bei Versorgungsvertragsverhandlungen. Nehmen aber die bisherigen Einzelpraxen die ökonomischen Anreize auf und vereinen sich in den nächsten Jahren unter dem Dach großer, regionaler Gemeinschaftspraxis- und medizinischer Versorgungsmodelle, entstehen in jeder Region extrem ernst zu nehmende Verhandlungspartner der Krankenkassen.

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Je mehr Praxen zusammen wirken, desto besser die Verhandlungsposition

Der entscheidende Machtfaktor wird nicht die Beratungsgesellschaft der KV (KV-Consult) sein, sondern die am Service orientierte, extrem spezialisierte und kompetente Kassen- und Privat-Versorgungsstruktur einer kooperativen Ärztegemeinschaft in einer Region. Der Zuschlag von 30 % führt dazu, dass durch ein stufenweises Zusammengehen Kosten gespart werden und sich gleichzeitig fachgleiche, operative und konservative Kollegen zusammenschließen und sich interdisziplinär ergänzen.

Damit entstehen in den Landkreisen und in den Ballungsgebieten innerhalb der nächsten 3 Jahre extrem starke fachgleiche oder auch interdisziplinär fachärztlich-hausärztliche Zentren an Krankenhäusern oder in der Fläche. Alle Experten sind sich einig darüber, dass in der Sekunde, in der die deutsche Ärzteschaft diesen Kooperationsweg geht, die Macht des Handelns wieder an die Ärzteschaft übergeht und nicht mehr bei den Krankenkassen liegt. Die jetzige Verhandlungsmacht der Krankenkassen ist ausschließlich durch das historische Leitbild der vereinzelten deutschen Praxis bedingt.

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Beispiel USA: Mehr innerärztliche Kooperationen und bessere Honorare

Die Kollegen in den Vereinigten Staaten wurden schon vor 20 Jahren mit der geballten Nachfragemacht der in USA privatrechtlich organisierten Krankenkassen konfrontiert. In einer beispiellosen und sehr geschickten Konzentrationswelle fassten sich immer mehr Ärzte zusammen. Das Ergebnis sind inzwischen Vergütungen, die wesentlich höher zu Gunsten der Ärzte ausfallen als in der Zeit der Einzelleistungsvergütung. Allerdings übernehmen diese Praxen - inklusive angestellter Ärzte - viele Servicestrukturen von Notdiensten und ambulanten Krankenhaus-Stationen. Der Preis für mehr Einnahmen liegt in Verbesserungen der Infrastruktur und höherer Spezialisierung.

Ab dem 1.5.2004 steht die Niederlassungsmöglichkeit oder die Tätigkeit als Angestellter im niedergelassenen Sektor jedem Arzt aus Osteuropa (EU-Gebiet) offen. Damit lösen sich auf einen Schlag alle Probleme zur Entlastung - auch für Zeiten von Not-, Nacht- und Wochenenddienst. Es entsteht - wie am Krankenhaus - ein gegliedertes System von Ärzten mit unterschiedlichen Kompetenzen, Aufgabenfeldern und Einnahmestrukturen.

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Sinnvoll: Zwei Standorte pro Praxis

Der Sozialgesetzgeber hat die Landesärztekammern unter Druck gesetzt, das Berufsrecht zu ändern und ggf. auch angestellte Ärzte und Praxisstrukturen mit zwei Standorten zuzulassen. Er hat das Recht, aus eigener Rechtsmacht für das Vertragsarztwesen Sonderstrukturen - abweichend vom Berufsrecht - anzuordnen. Folgen die Landesärztekammern nicht, kann nun der Staat medizinische Versorgungszentren, Krankenhäuser und Apotheker auffordern, mit angestellten Ärzten aus Osteuropa Teile der ambulanten Versorgung zu übernehmen.

Erkennen aber die Vertreterversammlungen der Landesärztekammern die Chance, die darin liegt, zweite Praxisstandorte für jede Praxis zu akzeptieren, ergibt sich folgendes, sehr sinnvolles Modell. Niedergelassene Praxen schließen sich zu regionalen Dachgesellschaften zusammen, die die im EBM vorgesehenen 30 % Ordinationszuschlag in Anspruch nehmen. Gleichzeitig betreuen sie weiter in ausgelagerten Praxisräumen oder aber mit dem zweiten, genehmigten Praxissitz die Patienten standortnah.

Auf diese Weise können betriebswirtschaftlich die noch existierenden Mietverpflichtungen bezahlt und Einzelpraxen in Ruhe weitergeführt werden. Im Ergebnis könnte man an diesen Standorten präventive Aktivitäten kollegial zusammenfassen und privatmedizinische Leistungen in Ruhe in entsprechendem Ambiente erbringen. Andere Standorte könnten im Bereich der medizinischen Wellness, Ästhetik oder mit Gesundheitsshops genutzt werden.

Auf diese Weise wäre ohne eine unmittelbare, ökonomische Beeinträchtigung der Einzelpraxis ein stufenweises, kollegiales Miteinander für eine gesicherte Zukunft möglich.

H. J. Schade, Broglie Schade & Partner GBR, Wiesbaden/München

 
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Die Rechnung kann aufgehen: Bei einem zweiten Praxisstandort muss die Einzelpraxis ökomisch nicht beeinträchtigt sein (Bild: Archiv).