Im Streit um die Praxisgebühr und durch die scheinbare Existenzsicherung der KVen
ging vielen Ärzten verloren, dass die wohl einschneidenden Veränderungen durch das
Zusammenspiel von Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz (GMG) mit der Wirksamkeit
des neuen EBM zum 1. Juli 2003 zum Tragen kommen.
EBM - ein vergessener Todesengel
EBM - ein vergessener Todesengel
Die niedergelassene Ärzteschaft hatte sich daran gewöhnt, dass prognostizierte neue
Gebührenordnungsvorschläge immer wieder in die Schubladen gesteckt wurden. Das ging
solange gut, wie die niedergelassene Kassenärzteschaft noch selbst über die Honorarverteilung
entscheiden konnte. Mit dem neu beschlossenen und wirksamen Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz
ist das anders. Die Entscheidungshoheit über die Wirksamkeit von Honorarverteilungsmaßnahmen
liegt - auf der Basis der Vorgaben des GMG - beim Bundesausschuss Ärztekrankenkassen.
Er ist das gemeinsame und verbindliche Entscheidungsorgan für die Honorarpolitik der
nächsten Jahre. Kommt der Bundesausschuss Ärztekrankenkassen zu keinem Ergebnis, kann
der Bundesgesundheitsminister unmittelbar die notwendigen Honorarverteilungsmaßnahmen
anordnen, soweit es das Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz erlaubt. Damit hat
- existenziell gesehen - die niedergelassene Kassenärzteschaft ein wesentliches Element
der Selbstverwaltung verloren.
Krankenkasse tragen Morbiditätsrisiko
Krankenkasse tragen Morbiditätsrisiko
Gleichzeitig hat der Gesetzgeber angeordnet, dass die Verantwortung für das Risiko
der Morbidität von den Kassenärztlichen Vereinigungen an die gesetzlichen Krankenversicherungen
übergeht. Das bedeutet konkret, dass die Krankenkassen Interesse daran haben, nur
noch tatsächlich auftretende, existenzielle Krankheiten zu bezahlen. Das GMG sieht
deshalb vor, dass durch Praxisgebühr und zeitliche Plausibilität der Ablauf einer
Arztpraxis transparent wird.
Zeitvorgaben des EBM
Zeitvorgaben des EBM
Der jetzt von der KBV beim Bundesausschuss und beim Ministerium vorgelegte EBM-Entwurf
vom 11.11.2003 trifft die Erwartungen von Krankenkassen und Gesundheitsministerium.
In der betriebswirtschaftlichen Kalkulation für das ärztliche Honorar gilt nach den
Absprachen zwischen KBV, Krankenkassen und Gesundheitsministerium folgender Rahmen:
Die maximale kassenärztliche Arbeitszeit beträgt pro Woche 51 Stunden oder 600 Minuten
pro Tag inkl. Verwaltungstätigkeit. Jede ärztliche Leistung wird erfasst und kann
nunmehr auch von den Krankenkassen auf ihre inhaltliche und zeitliche Plausibilität
hin geprüft werden.
Die durchschnittliche Zeitstruktur für die ”Ordinationsgebühr“ als Lebenselixier der
Praxen ist z. B. wie folgt:
Augenärzte: 15 min.
Gynäkologen: 11 min.
Urologen: 9 min.
Bei 10 Minuten Dauer ist nach dem 54. Patienten das Limit der zeitlichen Plausibilität
eines Tages erfüllt. Durchschnittsziel: 1,5 Kontakte pro Quartal.
Da aber noch weitere Kontakt-, Operations-Ziffern etc. zusammenkommen, wird die mittlere
Höchstmengenbegrenzung - bundesweit - vom Bundesausschuss Ärztekrankenkassen wahrscheinlich
bei der Durchschnittsgröße einer mittleren Praxis (bundesweiter Durchschnitt) angesiedelt
werden. Diese Zeiten wurden im Benehmen mit Sachverständigen und Berufsverbänden ermittelt.
Daher wird dieses Modell alle Anhänger einer zeit- und zuwendungsorientierten, genauen
fachärztlichen Tätigkeit beglücken. Die Vertreter dieser Gruppe sind oft auch die
Repräsentanten von Inhabern mittlerer und kleinerer Praxen. Da der maximale Gewinn
aus dieser Tätigkeit rund 96 000 Euro pro Jahr betragen soll, entsteht für die Krankenkassen
ein planbares Regelleistungsvolumen und scheinbar bei den Vertretern mittlerer und
kleinerer Praxen ein Ausdruck hoher persönlicher Befriedigung für ihre Tätigkeit.
Wichtig ist zu beachten, dass die Zeiteinheiten nicht nur für konservative Praxistätigkeiten
gelten, sondern auch für ambulant-operative Tätigkeiten. Beispielsweise hat die KV
Bayern erklärt, dass sie mit Sicherheit den neu vorgelegten EBM zum 1.7. zur Grundlage
ihrer Plausibilitätskalkulation macht. Damit sitzen alle diejenigen in der Falle,
die übergroße Einzel- und Operationspraxen betrieben haben. Die von den Berufsverbänden
der KBV vorgegebenen Zeiteinheiten entsprechen objektiv nicht den durchaus gesicherten,
tatsächlichen Erbringungs-Zeit- einheiten qualifizierter Operateure, um nur ein Beispiel
zu nennen.
OP-Zeiten und Ordinationszeiten müssen addiert werden
OP-Zeiten und Ordinationszeiten müssen addiert werden
Damit bricht die gesamte Rentabilitätsstruktur bisher starker Operateure in Mehrbehandlerpraxen
zusammen, weil diese oft nicht nur ein überdurchschnittliches Überweisungs-Patientengut
für Operationen hatten, sondern daneben selbst ein großes konservatives Patientengut.
Nach vorläufigen Recherchen kann man sagen, dass es hier zu Einbrüchen in der Rentabilität
von über 50-60% der Einnahmen kommen wird.
Berufspolitisches Dilemma: Zeiten runter - Honorare runter!
Berufspolitisches Dilemma: Zeiten runter - Honorare runter!
Gehen jetzt die Operateure mit ihren wesentlich geringeren OP-Zeiten an die Öffentlichkeit,
werden die Krankenkassen nicht widersprechen. Gibt man den Operateuren Recht, was
alle Sachverständigen wissen, geschieht das Folgende. Die OP-Zeiten werden abgesenkt
und damit - im gleichen Verhältnis - die Honorare. Damit hat das untere Drittel der
Kollegen massivste Einnahmeverluste. Betriebswirtschaftlich kann es nur eine einzige,
sachliche Einnahme-Berechnungsgröße für kassenärztliche Tätigkeit (51 Stunden) geben.
Im Vergleichsmaßstab bedeutet das die Einnahme eines Amtsarztes im öffentlichen Dienst.
30 % Zuschlag für 4-er Gemein- schaftspraxen - Das Todes-Torpedo für die Einzelpraxis
30 % Zuschlag für 4-er Gemein- schaftspraxen - Das Todes-Torpedo für die Einzelpraxis
Auch hier gilt es, sich die strategischen Auswirkungen dieses Vorschlages - getragen
vom Willen des Gesetzgebers - klar zu machen. Wer die ersten Zeilen des EBM liest,
findet folgenden Text.
Die Rechnung kann aufgehen: Bei einem zweiten Praxisstandort muss die Einzelpraxis
ökomisch nicht beeinträchtigt sein (Bild: Archiv).
Mit dieser Regelung mildert der EBM und der Gesetzgeber zu Teilen die wirtschaftlichen
Auswirkungen der Zeitvorgaben und der neuen Plausibilitätsprüfung ab. Insbesondere
deshalb, weil die Plausibilitätszeiten nicht bei der Prüfung des einzelnen Arztes
zugrunde gelegt werden, sondern bei der Gesamtplausibilität all derjenigen Ärzte,
die hypothetisch die jeweilige - mit Zeitvorgaben versehene - Leistung erbringen könnten.
Das bedeutet zum Beispiel, dass kassenärztliche Katarakt-Chirurgie auf alle - auch
die konservativ arbeitenden - Partner einer Augenarztpraxis verteilt wird. Dennoch
werden von dem 30 %-igen Zuschlag auf die Ordinationsgebühr - das werden im Einzelfall
ca. 40 000 Euro sein (gerechnet bei einem Kontaktvolumen von 1,5 Kontakten pro Quartal)
- viele Kolleginnen und Kollegen in einer Einzelpraxis profitieren wollen.
Starke, regionale Gemeinschaften erwünscht
Starke, regionale Gemeinschaften erwünscht
Die KBV macht diesen Veränderungsschritt nicht leichten Herzens. Sie weiß, dass die
volle Verhandlungsmacht für die Morbidität spätestens 2007 bei den Krankenkassen liegt.
Treffen nun die Krankenkassen auf vereinzelte, niedergelassene Ärzte, haben die Einzelpraxen
keine Verhandlungsposition bei Versorgungsvertragsverhandlungen. Nehmen aber die bisherigen
Einzelpraxen die ökonomischen Anreize auf und vereinen sich in den nächsten Jahren
unter dem Dach großer, regionaler Gemeinschaftspraxis- und medizinischer Versorgungsmodelle,
entstehen in jeder Region extrem ernst zu nehmende Verhandlungspartner der Krankenkassen.
Je mehr Praxen zusammen wirken, desto besser die Verhandlungsposition
Je mehr Praxen zusammen wirken, desto besser die Verhandlungsposition
Der entscheidende Machtfaktor wird nicht die Beratungsgesellschaft der KV (KV-Consult)
sein, sondern die am Service orientierte, extrem spezialisierte und kompetente Kassen-
und Privat-Versorgungsstruktur einer kooperativen Ärztegemeinschaft in einer Region.
Der Zuschlag von 30 % führt dazu, dass durch ein stufenweises Zusammengehen Kosten
gespart werden und sich gleichzeitig fachgleiche, operative und konservative Kollegen
zusammenschließen und sich interdisziplinär ergänzen.
Damit entstehen in den Landkreisen und in den Ballungsgebieten innerhalb der nächsten
3 Jahre extrem starke fachgleiche oder auch interdisziplinär fachärztlich-hausärztliche
Zentren an Krankenhäusern oder in der Fläche. Alle Experten sind sich einig darüber,
dass in der Sekunde, in der die deutsche Ärzteschaft diesen Kooperationsweg geht,
die Macht des Handelns wieder an die Ärzteschaft übergeht und nicht mehr bei den Krankenkassen
liegt. Die jetzige Verhandlungsmacht der Krankenkassen ist ausschließlich durch das
historische Leitbild der vereinzelten deutschen Praxis bedingt.
Beispiel USA: Mehr innerärztliche Kooperationen und bessere Honorare
Beispiel USA: Mehr innerärztliche Kooperationen und bessere Honorare
Die Kollegen in den Vereinigten Staaten wurden schon vor 20 Jahren mit der geballten
Nachfragemacht der in USA privatrechtlich organisierten Krankenkassen konfrontiert.
In einer beispiellosen und sehr geschickten Konzentrationswelle fassten sich immer
mehr Ärzte zusammen. Das Ergebnis sind inzwischen Vergütungen, die wesentlich höher
zu Gunsten der Ärzte ausfallen als in der Zeit der Einzelleistungsvergütung. Allerdings
übernehmen diese Praxen - inklusive angestellter Ärzte - viele Servicestrukturen von
Notdiensten und ambulanten Krankenhaus-Stationen. Der Preis für mehr Einnahmen liegt
in Verbesserungen der Infrastruktur und höherer Spezialisierung.
Ab dem 1.5.2004 steht die Niederlassungsmöglichkeit oder die Tätigkeit als Angestellter
im niedergelassenen Sektor jedem Arzt aus Osteuropa (EU-Gebiet) offen. Damit lösen
sich auf einen Schlag alle Probleme zur Entlastung - auch für Zeiten von Not-, Nacht-
und Wochenenddienst. Es entsteht - wie am Krankenhaus - ein gegliedertes System von
Ärzten mit unterschiedlichen Kompetenzen, Aufgabenfeldern und Einnahmestrukturen.
Sinnvoll: Zwei Standorte pro Praxis
Sinnvoll: Zwei Standorte pro Praxis
Der Sozialgesetzgeber hat die Landesärztekammern unter Druck gesetzt, das Berufsrecht
zu ändern und ggf. auch angestellte Ärzte und Praxisstrukturen mit zwei Standorten
zuzulassen. Er hat das Recht, aus eigener Rechtsmacht für das Vertragsarztwesen Sonderstrukturen
- abweichend vom Berufsrecht - anzuordnen. Folgen die Landesärztekammern nicht, kann
nun der Staat medizinische Versorgungszentren, Krankenhäuser und Apotheker auffordern,
mit angestellten Ärzten aus Osteuropa Teile der ambulanten Versorgung zu übernehmen.
Erkennen aber die Vertreterversammlungen der Landesärztekammern die Chance, die darin
liegt, zweite Praxisstandorte für jede Praxis zu akzeptieren, ergibt sich folgendes,
sehr sinnvolles Modell. Niedergelassene Praxen schließen sich zu regionalen Dachgesellschaften
zusammen, die die im EBM vorgesehenen 30 % Ordinationszuschlag in Anspruch nehmen.
Gleichzeitig betreuen sie weiter in ausgelagerten Praxisräumen oder aber mit dem zweiten,
genehmigten Praxissitz die Patienten standortnah.
Auf diese Weise können betriebswirtschaftlich die noch existierenden Mietverpflichtungen
bezahlt und Einzelpraxen in Ruhe weitergeführt werden. Im Ergebnis könnte man an diesen
Standorten präventive Aktivitäten kollegial zusammenfassen und privatmedizinische
Leistungen in Ruhe in entsprechendem Ambiente erbringen. Andere Standorte könnten
im Bereich der medizinischen Wellness, Ästhetik oder mit Gesundheitsshops genutzt
werden.
Auf diese Weise wäre ohne eine unmittelbare, ökonomische Beeinträchtigung der Einzelpraxis
ein stufenweises, kollegiales Miteinander für eine gesicherte Zukunft möglich.
H. J. Schade, Broglie Schade & Partner GBR, Wiesbaden/München