In den letzten 40 Jahren (von 1960 bis 1999) wurden ungefähr 30 Millionen Zuzüge nach
Deutschland und über 21 Millionen Fortzüge aus Deutschland ins Ausland registriert.
Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung liegt seit 1995
gleichbleibend bei circa 9 %, d.h. circa 7,3 Millionen Menschen. Addiert man dazu
2,1 Millionen Aussiedler, die zwischen 1990 bis 2000 zugezogen sind, sowie rund eine
Million Ausländer, die in demselben Zeitraum deutsche Staatsbürger wurden, so resultiert
ein Anteil von knapp 13 %, den die Zuwanderung an der Gesamtbevölkerung hat [12].
Sowohl die Lebensgeschichten der Zuwanderer als auch ihre Integration sind in großen
Teilen Erfolgsgeschichten. Die Zuwanderer, die nach Deutschland als Arbeitskräfte
angeworben wurden, vor allem zwischen 1955 und 1973, waren in der Mehrzahl junge Menschen
mit einem relativ guten allgemeinen und beruflichen Bildungsniveau. Es sind nicht
die „Ärmsten der Armen”, die die Initiative aufbringen, ihr Heimatland zu verlassen
und sich aus eigener Kraft in einem fremden Land eine Existenzgrundlage zu schaffen.
Die Bildungsabschlüsse, die die Kinder und Enkel dieser Zuwanderergeneration in Deutschland
erreichen, haben sich zunehmend verbessert. Bei den ausländischen Studenten steigt
der Anteil der „Bildungsinländer”, das heißt derjenigen, die ihr Abitur in Deutschland
gemacht haben. Die Zahl der Betriebe und Geschäfte mit ausländischen Inhabern wächst
und wäre unter Berücksichtigung der Einbürgerungen noch höher.
Auch die Auswanderung, insbesondere die Rückwanderung in die Herkunftsländer der Arbeitsmigranten,
hat viele Merkmale einer Erfolgsgeschichte. Rück- und Auswanderer haben entgegen der
Annahme, dass vor allem Rentner in ihre Heimatländer zurückgehen, eine ähnliche Altersstruktur
wie die Zuwanderer. Die Mehrzahl ist im jüngeren Lebensalter. Sie nutzen ihre im Ausland
erworbene Ausbildung und Erfahrung, um Betriebe und Geschäfte zu gründen. Die Älteren
haben ihre Ersparnisse häufig in Wohnungen und Grundbesitz angelegt. Sie verwirklichen
ein Lebensmuster, das „transnationale Migration” genannt wird: Sie leben jeweils längere
Zeit in dem einen oder anderen Land und haben verwandtschaftliche und wirtschaftliche
Bindungen in beiden Ländern.
Migration als Stress auslösendes Lebensereignis
Migration als Stress auslösendes Lebensereignis
Aus der Perspektive der Gesundheitsversorgung steht die Erfolgsseite der Migration
nicht im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Bevölkerungsbezogene Gesundheitsdaten sind
noch immer sehr rar, so dass die wissenschaftliche Literatur sich im Wesentlichen
auf versorgungsepidemiologische Studien gründet. Auch diese Studien, die sich auf
Patienten, also eine im Vorhinein ausgewählte Gruppe beziehen, zeigen eine Angleichung,
soweit für einzelne Erkrankungen oder Ereignisse wie Schwangerschaft und Geburt Zahlen
vorliegen. Eine Ausnahme bilden die psychischen und psychosomatischen Erkrankungen.
Diese Beobachtung hat eine lange Tradition. Seit im 17. Jahrhundert die bisweilen
tödlich verlaufende melancholia nostalgia - die „Heimweh-Krankheit” - am Beispiel Schweizer Söldner, die in fremden Diensten
standen, beschrieben wurde, scheint der Zusammenhang zwischen Migration und psychischer
Erkrankung geradezu zwingend [9]. „Wir sind seelisch krank, automatisch - und körperlich auch”, wie ein türkischer
Interviewpartner es ausdrückte [2].
Im Begriff „Heimweh” ebenso wie in dem Zusatz „automatisch” ist die Annahme enthalten,
dass Migration ein Verlusterlebnis ist und Trauerreaktionen auslöst. Je stärker die
Migration erzwungen und je weniger alltägliche Integration in die neue Umwelt möglich
ist, umso wahrscheinlicher wird es, dass die Trauer nicht nachlässt, sondern in eine
anhaltende Depression übergeht. Dies ist aus der Depressionsforschung bekannt. Aber
es scheint, dass das deutsche Gesundheitswesen ein ebenfalls anhaltendes Problem hat,
mit Trauer und auch mit Traumatisierungen infolge von Heimatverlust, Flucht und Enttäuschungen
über die Aufnahme in Deutschland umzugehen. Diese These soll im Folgenden genauer
belegt werden.
Spezifische Risiken psychischer Erkrankung
Spezifische Risiken psychischer Erkrankung
Epidemiologisch gut belegt sind drei besonders sensible Phasen für psychische Krisen:
-
Die Migration im Alter der Pubertät, die bei einem Teil der Jugendlichen die in der
Pubertät sowieso geforderte Neuorientierung der sozialen Beziehungen und die Entwicklung
einer eigenen Identität überfordern kann: Ein für die Jugendphase typisches Problem
ist der Umgang mit Sucht erzeugenden Substanzen. Repräsentative Befragungen zeigen,
dass junge Migranten mit allen Substanzen (Alkohol, Nikotin, illegale Drogen, Medikamente)
weniger Erfahrungen haben und aktuell weniger konsumieren als deutsche Jugendliche.
Zugleich kristallisieren sich zwei zahlenmäßig sehr kleine, aber besonders gefährdete
Gruppen heraus: Junge Frauen aus dem islamischen Kulturkreis, die durch verstärkten
Substanzengebrauch, darunter auch Alkoholkonsum, gegen die traditionelle Frauenrolle
ihrer Herkunftsländer rebellieren [6]. Junge Männer, und zwar sowohl Jugendliche, die im Rahmen des Familiennachzugs aus
den Herkunftsländern der ehemaligen Arbeitsmigranten einreisen, als auch jugendliche
Spätaussiedler, zeigen zusammen mit einem höheren Drogenkonsum eine höhere Gewaltbereitschaft.
Es scheint auch, dass die Migration in dieser Lebensphase eine auslösende Bedeutung
für eine schizophrene Erkrankung haben kann [10]. Andere Befunde weisen darauf hin, dass junge Türkinnen ein überdurchschnittliches
Suizidrisiko haben - ebenfalls ein Indikator für ein hohes Maß von Identitätsverunsicherung
beim Übergang in das Erwachsenenalter [13].
-
Die Ankunftsphase im Gastland, die besonders für Flüchtlinge, tendenziell aber auch
für andere Migranten, mit einer hohen existentiellen Verunsicherung verbunden sein
kann: Ein erhöhtes Risiko für depressive Symptome kurz nach der Einreise wurde in
verschiedenen Studien berichtet; auch wurde eine Symptomverschiebung nach einem ein-
bis zweijährigen Aufenthalt in Richtung psychosomatischer Symptome, insbesondere Magenbeschwerden
sowie Kopf- und Rückenschmerzen festgestellt [18]. Ein solcher Symptomwechsel ist im Modell der Stressbewältigung als misslungene
Verarbeitung der akuten Trauer und Übergang in eine chronische Depression mit vorwiegend
körperlicher Ausdrucksform zu verstehen. Vorbehaltlich der diagnostischen Unschärfen
kann man davon ausgehen, dass zwischen fünf und 30 % der Asylsuchenden an behandlungsbedürftigen
posttraumatischen Störungen leiden. Erschwerend und die Symptomatik verschlimmernd
wirken die Trennung von Familienangehörigen, die Unsicherheit über deren Schicksal
sowie Isolation, Zukunftsunsicherheit in Bezug auf das Bleiberecht, fehlender Zugang
zu Arbeit und Bildung, Leben in Gemeinschaftsunterkünften und die Erfahrung von Diskriminierung
und Fremdenfeindlichkeit im Asylland [5].
-
Die „Bilanzierungskrise” im mittleren Lebensalter, wenn sich herausstellt, dass die
mit der Migration verbundenen Hoffnungen und Wünsche nicht realisiert werden konnten:
Die Folgen der überhöhten Aktivität in der Phase des intensiven Arbeitens und Sparens
sowie der Familiengründung unter restriktiven äußeren Bedingungen zeigen sich im mittleren
Lebensalter. Diejenigen, die das in Deutschland erforderliche Rentenalter wegen Krankheit
und Arbeitslosigkeit nicht erreichen, deren Ersparnisse für ein gesichertes Leben
im Herkunftsland nicht ausreichen und deren Kinder in Konflikt mit den Lebenszielen
und Ansprüchen der Eltern geraten, haben ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen.
45- bis 54-jährige Frauen stellen fast die Hälfte der ausländischen Patientinnen der
stationären psychotherapeutischen Rehabilitation für Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung.
Bei Männern ist dieses Hoch nicht so ausgeprägt, aber im Alter von 50 bis 54 Jahren
ebenfalls vorhanden. Hinsichtlich der Diagnosen stehen bei den Frauen dieser Altersgruppe
Depressionen (ICD 10: F32-33) und somatoforme Störungen (ICD 10: F45) an der Spitze.
Auch bei Männern ist der Anteil der depressiven und der somatoformen Störungen in
der Altersgruppe der 45- bis 59-Jährigen erhöht [17].
Diagnostische und therapeutische Probleme
Diagnostische und therapeutische Probleme
Mit Ausnahme der Ankunftsphase im Gastland sind die beschriebenen kritischen Phasen
nicht migrationsspezifisch. Sprachprobleme haben einen Einfluss auf die psychiatrische
Diagnostik, der jedoch in der fachwissenschaftlichen Diskussion überbewertet wird.
Mangelndes Wissen über den Umgang mit psychischen Störungen und dadurch bedingte Zugangsbarrieren
zu psychiatrischen Versorgungseinrichtungen sind ein Problem, das Migranten mit einheimischen
Unterschichtangehörigen teilen [10]. Auf der Suche nach den Ursachen für die besonders auffallenden diagnostischen und
therapeutischen Probleme im Zusammenhang mit psychischen und psychosomatischen Symptomen
stößt man zusätzlich zu den genannten auf eine spezifische Fehldiagnostik in der ambulanten
allgemeinmedizinischen Versorgung, die allerdings ebenfalls nicht nur Migranten betrifft,
sondern generell Menschen, die sich in moralischen Krisen, in Phasen der Suche nach
Sinn an Ärzte wenden und in erster Linie ihre körperliche Beschwerden beschreiben.
In dieser Ausgangssituation kommt es zu einer spezifischen Interaktion zwischen den
versorgenden Ärzten und den Zuwanderern, die ihre Beschwerden zunächst nicht in der
für das westliche medizinische Denken typischen Leib-Seele-Dichotomie erleben. Vielmehr
beschreiben und erleben sie alle Beschwerden und Krankheitsbilder mit einer deutlich
höheren Schmerzbetonung. Diese Schmerzbetonung wurde bereits 1981/82 in der „Erhebung
über die ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärzte” (EVaS) [16] als besonders auffallend für ausländische Patienten festgestellt. Schon hier zeigte
sich, dass sich die therapeutische Strategie in der Regel auf eine Behandlung mit
Schmerzmedikamenten beschränkte.
Eine aktuelle Untersuchung bestätigt, dass insbesondere türkische Patienten in der
allgemeinmedizinischen Versorgung oft sehr lange im Einverständnis zwischen Arzt und
Patient symptombezogen mit Medikamenten behandelt werden [8].
Dieser diagnostisch-therapeutische Prozess ist jedoch als „Einverständnis im Missverständnis”
zu bezeichnen [3]. Ein Einverständnis besteht darüber, dass Arzt und Patient sich beide bemühen, die
Schmerzen zu beseitigen. Sie befinden sich jedoch in einem gegenseitigen Missverständnis
hinsichtlich der Behandlungserwartungen beziehungsweise der Therapieoptionen. Beide
Beteiligten sind überzeugt, dass der andere nur die Reduktion der Schmerzsymptome
wünscht beziehungsweise leisten kann, aber nicht das Gespräch über die psychosozialen
Hintergründe führen will [Abb. 1].
Rückblickend auf die Behandlungsgeschichten ihrer Patienten in der stationären Rehabilitation
stellen Branik & Mulhaxha fest: „Die Hilflosigkeit unseres medizinischen Systems gegenüber
„somatisierenden” ausländischen Patienten dokumentiert sich u.a. in der manchmal abenteuerlichen
Vormedikation mit einem Cocktail aus Psychopharmaka (ggf. nebst hochdosierter Schmerzmittel),
der kaum ein psychiatrisches Zielsyndrom auslässt und jeden seriösen Psychiater schaudern
lässt.” [1] In dem fortgeschrittenen Stadium der Chronifizierung, in dem die Patienten die stationäre
Psychotherapie erreichen, ist eine aufwändige psychosomatische Behandlung erforderlich,
während zu Beginn vermutlich verständnisvolle und klärende Gespräche gereicht hätten.
Quasi im Zeitraffer und mit einer durch die Problemschwere noch verstärkten Dynamik
lassen sich vergleichbare Behandlungsverläufe für Asylsuchende beobachten. Relativ
unabhängig von der Ausgangssituation verschärft untätiges Abwarten psychische Probleme
und setzt Krankheitsverläufe mit wiederholten Krankenhauseinweisungen wegen unterschiedlicher
Symptome in Gang, die chronifizieren und nur noch schwer zu beeinflussen sind [4].
Schlussfolgerungen
Schlussfolgerungen
Noch fehlen differenzierte Studien über allgemeine gesundheitliche Folgen des Schmerzmittelabusus
von Patienten ausländischer Herkunft, der durch lange symptombezogene Behandlungen
gefördert wird. Zu erwarten sind chronifizierte Kopfschmerzen, aber auch Störungen
der Verdauung und der Nierenfunktion. Der Neurologie und Psychiatrie wächst damit
auch die Aufgabe zu, die Aufklärung und Fortbildung der Ärzte in den anderen medizinischen
Fachrichtungen zu verstärken. Die primär tätigen Ärzte können ihren Beitrag zu solchen
Krankheitsgeschichten auch deswegen schwer erkennen, weil sie sich um die Patienten
bemühen und diese ihnen dankbar sind. Für die Beteiligten erscheint es kaum möglich,
ein historisch und gesellschaftlich verankertes Muster der Medikalisierung von Problemen,
über die man nicht spricht, zu überwinden.
Das Sprechen über Sinnkrisen, über existentielle Fragen ist möglich und wird von den
Betroffenen im Grunde gewünscht. Bei einem entsprechenden psychosozialen Beratungs-
und Therapieangebot sind sowohl die Behandlungserwartungen der Patienten als auch
die Behandlungsoptionen der primär zuständigen Ärzte leicht zu modifizieren [11]
[14]. Dies gilt auch für Asylsuchende. Neben einem frühzeitigen und adäquaten psychotherapeutischen
Behandlungsangebot sind Familienzusammenführung sowie Möglichkeiten zur eigenen Existenzsicherung,
also vor allem eine schnelle Klärung des Aufenthaltsstatus und Arbeit die wichtigsten
Hilfen [7].
Abb. 1