Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(24): 1396
DOI: 10.1055/s-2004-826880
Fragen aus der Praxis

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Welche Ursachen kann ein paradoxes Gewichtsverhalten haben?

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Publication Date:
21 July 2004 (online)

Frage: 31-jährige Frau, Nullipara, beobachtet seit Jahren ein paradoxes Gewichtsverhalten. Bei 175 cm im Sommer - trotz reichlich Sport - 70,0 kg, im Winter 60,0 kg. Deshalb Garderobe doppelt - Winter-Größe 36-38, Sommer 42. Dabei körperlicher Untersuchungsbefund und Routinelabor (TSH 1,9 U/ml, [0,23-4,0] im Normbereich. Keine wechselnden psychosozialen Stressfaktoren bekannt. Gibt es eine Erklärung?

Antwort: Aus den Angaben ist zu entnehmen, dass die 31-Jährige im Sommer aktiv Sport treibt und dennoch seit Jahren regelmäßig ca. 10 kg mehr wiegt als im Winter. Leider ist nicht eindeutig festgestellt, wie viele Jahre das „paradoxe Gewichtsverhalten“ zu beoachten war. Für eine organische Erkrankung als Ursache finden sich keine Anhaltspunkte. Ich gehe davon aus, dass nach jahreszeitlich unterschiedlichem Essverhalten im Sinne spezieller Gewohnheiten gefragt wurde. Interessant wäre zu wissen, wie die Betroffene den Wechsel ihrer „Sommer“- und „Winterfigur“ erlebt und welche Einstellung sie dazu hat, ob sich beispielsweise Anhaltspunkte für ein phasisch auftretendes bewusst restriktives Essverhalten finden. Starke Gewichtsschwankungen finden sich des öfteren bei bulimischen Erkrankungen, die häufig von den Betroffenen verheimlicht werden. Zyklusstörungen, Zahnschäden und Elektrolytveränderungen können hier diagnostische Anhaltspunkte geben.

Wichtig dürfte sein, ob sich mit dem Wechsel des Gewichts begleitend Stimmungsschwankungen finden. Möglich wäre eine Erkrankung aus dem Bereich der affektiven Störungen, die häufig zu Gewichts- und Appetitveränderungen führen [4]. Dabei können sowohl depressive als auch manische Schwankungen zu einer Gewichtsabnahme führen. Krankheitsphasen treten jahreszeitlich gehäuft auf, z. B. im Frühjahr und Herbst. Die durchschnittliche Phasendauer beträgt bei der rezidivierenden depressiven Störung in der Regel mehrere Monate (Ibidem). Auch bei wenig ausgeprägten psychischen Beschwerden wäre sorgfältig nach vegetativen und körperlichen Beschwerden und sozialen Änderungen zu fragen, auch nach einer tageszeitlichen Akzentuierung, um eine leichte oder larvierte Form einer affektiven Störung auszuschließen. Diese depressiven Erkrankungen werden in der Praxis oft übersehen [5].

Gedacht werden muss auch an eine in den Wintermonaten verstärkte [1] Variante einer leichteren depressiven Störung im Sinne einer Dysthymie [1]. Auch hier wäre sorgfältig nach anderen Depressionssymptomen und körperlichen Beschwerden zu fragen.

Handelte es sich um eine Sonder- oder atypische Form der Depression, z. B. im Sinne der saisonalen Depression, wäre im Gegensatz zum geschilderten Fall eher eine regelmäßige Gewichtszunahme in den Wintermonaten zu erwarten [3].

Differezialdiagnostisch ist auch ein Beschwerdebild in Gestalt einer so genannten somatoformen Störung mit Jahreszeitlich akzentuierter Inappetenz zu erwägen. Hier wären sorgfältig Begleitbeschwerden körperlicher und seelischer Art zu erfragen, insbesondere auch ein Bezug zum Wechsel psychosozialer Konflikt- und Belastungsmomente herzustellen [2].

Grundsätzlich erscheinen mir weitere diagnostische Maßnahmen nur sinnvoll, wenn die Betroffene einen entsprechenden Leidensdruck hat. Nicht ausgeschlossen ist, dass es sich beim „paradoxen Gewichtsverhalten“ um ein Präsentiersymptom auf dem Hintergrund von Belastungen und Konflikten handelt, deren Bestehen auch durch einfache Maßnahmen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung eruierbar ist.

Literatur

  • 1 Bronisch T. Dysthyme Störungen.  Nervenarzt. 1990;  61 133-139
  • 2 Kapfhammer H P. Somatoforme Störungen. Springer, Berlin, Heidelberg, New York In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP. Psychiatrie und Psychotherapie 2003: 1372-1455
  • 3 Kasper S. Diagnostik, Epidemiologie und Therapie der saisonal abhängigen Dpression (SAD).  Nervenarzt. 1994;  65 69-72
  • 4 Laux G. Depressive Episode und rezidivierende depressive Störung. Springer, Berlin, Heidelberg, New York In: Möller HJ, Laux G, Hapfhammer HP. Psychiatrie und Psychotherapie 2003: 1159-1210
  • 5 Lopez-Ibor J. The masking and anmasking of depression. Wiley, Chichsler In: feighner JP, Boyer WF eds. Diagnosis of depression 1991: 99-118

Dr. med. E. Gaus

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Städt. Kliniken Esslingen

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