Aktuelle Urol 2004; 35(3): 167-170
DOI: 10.1055/s-2004-829471
Referiert und kommentiert

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Partielle Nephrektomie nur unter strenger Indikationsstellung

Einseitiger Wilms-Tumor
Further Information

Publication History

Publication Date:
03 August 2004 (online)

 
Table of Contents

Eine partielle Nephrektomie ist bei Kindern mit einseitigem Wilms-Tumor nur unter bestimmten Voraussetzungen indiziert. Zu dieser Einschätzung gelangt die schweizerisch-deutsche Arbeitsgruppe um F.-M. Haecker nach retrospektiver Analyse der Daten von 807 Kindern des deutschsprachigen Arms der internationalen Nephroblastomstudie SIOP 93-01/GPOH.

In den vergangenen 10 bis 15 Jahren wurden signifikante Erfolge in der Therapie des kindlichen Nephroblastoms oder Wilms-Tumors erzielt. Die 3-Jahres- Überlebensrate liegt inzwischen über 90%. Im Fokus aktueller Behandlungsprotokolle steht die Reduzierung der therapieassoziierten Toxizität. Berichte über potenzielle Spätschäden nach totaler Nephrektomie (TN) - vor allem Niereninsuffizienz und metachrone Tumoren in der kontralateralen Niere - ließen die Frage aufkommen, ob die partielle Nephrektomie (PN) eine Therapieoption beim einseitigen Wilms-Tumor darstellen könnte (J Urol 2003; 170: 939-944).

Ausgewertet wurden die Daten von 37 partiell und 770 total nephrektomierten Kindern. Die Eingriffe erfolgten entweder als primäre Operation (n=15 bzw. n=139) oder nach vorausgegangener Chemotherapie (n=22 bzw. n=630). Die PN war nicht Teil des Studienprotokolls. Ihre Durchführung lag im Ermessen der involvierten Kliniken unter Zugrundelegung folgender Kriterien: Tumorstadium I, gut definierter Tumorrand, keine Invasion von Nierengefäßen oder Hohlsystem und Organerhalt von mindestens 50%. Staging und histologische Klassifikation (niedriges, intermediäres bzw. hohes Risiko) erfolgten postoperativ. Die Ergebnisse der PN- und TN-Gruppe wurden mit dem Gesamt- und dem rezidivfreien Überleben korreliert und verglichen. Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 4 Jahre.

Zoom Image

Wilms-Tumor. Sicht- und tastbare Resistenz im Abdomen (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).

Nach PN erlitten 4 der 37 Kinder ein Rezidiv, 2 (13,3%) in der primär operierten Gruppe (1 Lokal- und 1 kombiniertes Rezidiv) und 2 (9%) in der Gruppe mit Induktionschemotherapie (1 Lokalrezidiv, 1 Fernmetastasierung). In jeder Gruppe ereignete sich ein Todesfall. Betroffen war ein Kind mit Wilms-Tumor bei Hufeisenniere (6,7%) und ein weiteres mit Rhabdoidtumor (4,5%). Kinder der TN-Gruppe hatten Rezidivraten von 6,5% nach primärer Operation bzw. 11% nach vorausgegangener Chemotherapie. Die entsprechenden Sterbraten lagen bei 4,3 und 5,6%. Trotz eines höheren Anteils an Stadium-I-Tumoren in der PN-Gruppe (76 vs. 51%) zeigten sich keine Gruppenunterschiede im Gesamt- (93%) und rezidivfreiem Überleben (88%). Auch im Subgruppenvergleich von partiell und total neprektomierten Kindern ohne (86 vs. 92%) bzw. mit Induktionschemotherapie (90 vs. 87%) unterschieden sich die 5-Jahres-Überlebensraten nicht. Eins von 2 Kindern der PN-Gruppe mit ungünstiger Histologie erlitt ein Rezidiv gegenüber 3 von 35 mit geringem oder moderatem Risiko.

#

Fazit

Angesichts der guten Resultate nach TN sollte die PN nur dann eine Therapieoption beim unilateralen Wilms-Tumors darstellen, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: Tumorstadium I, gut definierte Tumorgrenzen, niedriges oder intermediäres Risiko in der Histologie, gutes Ansprechen auf die Induktionschemotherapie und intraoperative Histologie zur Bestätigung tumorfreier Absetzungsränder.

Renate Ronge, Münster

#

Erster Kommentar

Die großen Fortschritte in der Behandlung der Wilms-Tumoren haben unter dem Eindruck möglicher Spätfolgen auch kontralateraler Tumorerkrankung der verbliebenen Einzelniere schon vor Jahren zu Überlegungen geführt, auch die radikale Tumornephrektomie bisweilen zu hinterfragen, gestützt auf Erfahrungen mit nierenerhaltender Wilms-Tumor- Operation bei bilateraler Erkrankung.

Die partielle Nephrektomie bei unilateralen Wilms-Tumoren ist nicht Gegenstand eines Behandlungsprotokolls, sondern immer eine interdisziplinäre Entscheidung am jeweiligen Behandlungszentrum. In der Studie SIOP 93-01/GPOH kam die Situation in 4,6% der Fälle vor (37/ 806), bei 120 Wilms-Tumor-Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland sind das jährlich 6 Fälle in rd. 60 Zentren, die Wilms-Tumoren behandeln.

Die Autoren Haecker et al. stellen zu Recht fest, dass eine partielle Nephrektomie nur erwogen werden sollte, wenn die Kriterien Stadium I (komplette Resektion mit histologisch freien Resektionsrändern), niedriggradige oder intermeditäre Malignität in der Histologie, bei chemotherapeutischer Vorbehandlung gutes Ansprechen auf die präoperative Therapie erfüllt sind.

Es erscheint gerechtfertigt, die partielle Nephrektomie individuell zu erwägen.

Man sollte den Katalog der Vorbedingungen erweitern um: Erfahrung des Operateurs in der Wilms-Tumor-Behandlung. Zweifellos ist dies ein prognostisch relevanter Faktor. Sieht man die Literatur durch, so gibt es im deutschsprachigen Raum praktisch keine Publikation zur erfolgreichen Wilmstumor-Therapie vor 1960, während aus den USA schon 1938 Ladd Heilungen in nennenswerter Zahl und Gross und Neuhauser 1950 in 48% Langzeitheilungen berichteten, und das bevor eine Chemotherapie verfügbar war. Dies belegt die Bedeutung der Erfahrung des Operateurs und das dürfte bei partieller Nephrektomie unilateraler Wilms-Tumoren nicht anders sein.

Man sollte Kinder von der Indikation zur nierenerhaltenden Wilms-Tumor-Operation ausschließen, bei denen ein Risiko für multifokale Anlagen zum Wilms-Tumor vorhanden sein könnten, sei es durch Nachweis auffälliger Nierenveränderungen im MRT oder durch phänotypische, syndromhafte Auffälligkeiten, wie sie ja bisweilen bei Wilms-Tumor-Kindern vor- kommen.

Warum aber überlegt man überhaupt die Nierenerhaltung? Es ist der Anblick einer nahezu vollständig tumorfreien Niere, vielleicht ein überwiegend exophytisch gewachsener Tumor, vielleicht die Furcht vor einem kontralateralen Wilms-Tumor bei einem besonders jungen Kind, ein besonders kleiner Tumor (evtl. Zufallsbefund bei einem sonographischen Nieren- screening), aber auch die Ungewissheit, was nach Jahrzehnten aus der verbleibenden Einzelniere wird?

Unsere frühen Wilms-Tumor-Patienten sind inzwischen 40 oder mehr Jahre alt. Es gibt über sie keine systematischen Erhebungen, und doch wäre es wichtig, eine solche durchzuführen: Nierenfunktion bei Wilms-Tumoren 20 und mehr Jahre nach Erkrankung. Es dürfte mehr als 500 dieser Patienten bundesweit geben, deren Erkrankung vor 1984 war.

Weiterhin wäre anzustreben, ein Kollektiv von partiell nephrektomierten Wilms- Tumor-Patienten retrospektiv katamnestisch zu untersuchen, das ungleich größer ist als das Kollektiv von Haecker et al., nämlich die mehr als 100 Patienten mit bilateralen Wilms-Tumoren aus der Zeit seit 1980. Das Kinderkrebsregister hat seit 1980 ca. 2000 Wilms-Tumoren aus dem ganzen Lande gemeldet bekommen, von denen ca. 6% bilateral waren.

Zwar beschränkt sich die STOP 93-01/GPOH-Studie auf die Stadien I-III, wichtige Informationen zur Frage der partiellen Nephrektomie wären aus dem Kollektiv der bilateralen Wilms-Tumoren (Stadium V) und deren Therapie aber zu erhalten, auch was die partielle Nephrektomie bei unilateraler Erkrankung angeht.

Zoom Image

Wilms-Tumor bei einem Jungen, 2 Jahre, 9 Monate. Nach Kontrastmittelgabe lassen sich vergrößerte Lymphknoten im Oberbauch zusätzlich zum bilateralen Wilms-Tumor abgrenzen (Bild: Kinderurologie in Klinik und Praxis, Thieme, 2000).

2 Studien seien somit angeregt, und deren Ergebnisse könnten allen helfen, die Entscheidung für oder gegen eine nierenerhaltende Operation bei Wilms-Tumor mit größerer Sicherheit zu treffen. Denn diese Entscheidung bedeutet gegenwärtig eine Entscheidung ohne bewiesenen Nutzen, aber mit einem gewissen, möglicherweise erhöhten Risiko für die Heilungswahrscheinlichkeit der Wilms-Tumoren.

Die Prognose nach partieller Nephrektomie (37 Patienten, 2 Todesfälle) ist gegenüber dem Gesamtkollektiv in der Arbeit von Haecker et al. nicht signifikant verschieden, jedoch lassen sich die beiden Kollektive nicht ohne Weiteres miteinander vergleichen (Selektion u.a. durch Stadium). Es erscheint jedenfalls gerechtfertigt, die partielle Nephrektomie individuell zu erwägen. Sorgfältige Aufklärung über die Therapieoptionen bzw. ausführliche Gespräche mit den Sorgeberechtigten sind Bedingung.

Prof. Peter Gutjahr, Mainz

#

Zweiter Kommentar

Die Studie zu operativen Techniken bei der Behandlung von Wilms-Tumoren im Kindesalter prüft retrospektiv die organerhaltende Tumorresektion im Vergleich zur standardisierten radikalen Tumornephrektomie auf der Basis des abgeschlossenen SIOP-Protokolls von 1993 bis 2001. Die Schwerpunkte liegen auf dem Vergleich des Operationszeitpunktes, dem postoperativen Verlauf, den histologischen Untersuchungsbefunden und der Rezidivrate.

Altersabhängig wird die primäre Operation (< 6 LM) beziehungsweise die induktive Chemotherapie (< 6 LM) angestrebt. Das postoperative Therapiekonzept hängt von der histologischen Einschätzung und dem sonstigen Verteilungsmuster der Tumormanifestationen ab. Der Standard der Therapie ist die radikale Tumornephrektomie mit Lymphadenektomie ohne Adrenalektomie. Seit mehreren Jahren wird analog zu dem Vorgehen beim Nierenzellkarzinom im Erwachsenenalter über die Möglichkeit des Organerhalts im Sinne einer organerhaltenden Tumorresektion diskutiert. Hierzu besteht eine gewissermaßen imperative Indikation bei Wilms-Tumor-Manifestationen in beiden Nieren.

Die vorliegende Studie betrachtet retrospektiv die Indikation zur organerhaltenden Operation durch den Vergleich der Standardgruppe (Gruppe I, radikale Tumornephrektomie) mit den Kindern (Gruppe II), die sich einer organerhaltenden Tumorresektion unterzogen haben. Im Rahmen der SIOP-Studie wurden zwischen 1993 und 2001 807 Kinder behandelt. Bei 770 Patienten wurde eine radikale Tumornephrektomie (Gruppe I) und bei 37 Kindern eine organerhaltende Tumorresektion (Gruppe II) durchgeführt. Die Kriterien für die organerhaltende Operation waren Tumorstadium I, gut definierter Tumorrand, keine Invasion der Nierengefäße oder Hohlsystems und die Möglichkeit des Organerhaltes von mindestens 50% des originären Nierenparenchyms. Die überwiegende Zahl der Patienten (630 Gruppe I - 82%, 22 Gruppe II - 60%) unterzogen sich vor der Operation einer induktiven Chemotherapie. Die Überlebenszeit betrug stadienübergreifend 93%. Das rezidivfreie Überleben betrug 88% und war in beiden operativen Gruppen gleich.

Die Patienten, die einer organerhaltenden Tumorresektion (Gruppe II) zugeführt wurden, befanden sich zu 76% im Tumorstadium I. In der Gruppe I (radikale Tumornephrektomie) zählten nur 51% zum Tumorstadium T1, während sich 32% im Tumorstadium T2 und 14% im Tumorstdium T3 befanden. Bei den von den Autoren gezogenen Vergleichen zwischen den operativen Gruppen wurde nicht bezüglich der Tumorstadien unterschieden. Aufgrund der unterschiedlichen Tumorstadien sind die Gesamtgruppen nicht vergleichbar. Der Einfluss der Operationstechnik auf den weiteren Verlauf ist eigentlich nur unter Berücksichtigung des Tumorstadiums durch eine Untergruppenanalyse zu prüfen.

Die von den Autoren errechneten Rezidivraten nach organerhaltender Tumorresektion (3 von 28-10%) bei T1-Tumoren muss angesichts des günstigen Tumorstadiums als vermeidbare operative Folge gewertet werden.

Bei bilateralen Wilms-Tumoren besteht eine imperative Indikation zur organerhaltenden Operation, um eine terminale Niereninsuffizienz mit Dialysepflicht zu vermeiden. Eine protokollgerechte postoperative Chemotherapie bei bilateralen Tumoren ist nur nach organerhaltender Therapie möglich. In der vorliegenden Studie wurde keine separate Auswertung bezüglich Kindern mit bilateralen Tumoren und somit imperativer Indikation zu Kindern mit elektiver Indikation getroffen. Bei bilateralen Tumoren ist zugunsten des Organerhalts und zur Verbindung einer Dialysepfliht die imperative Indikation zur organerhaltenden Tumorresektion gegeben, die ein gering erhöhtes Lokalrezidivrisiko akzeptabel erscheinen lässt.

Ebenso wurde nicht auf Kinder mit Syndromerkrankungen wie z.B. dem Dennis-Drash-Syndrom eingegangen. Eine organerhaltende Tumorresektion bei Kindern, die später zwingend in eine terminale Niereninsuffizienz einmünden, muss kritisch gewertet werden. Bei diesen Patienten muss der Tumorfreiheit höchstes Gewicht zukommen.

Falls eine organerhaltende Tumorresektion erwogen wird, sollten die Indikationskriterien der Studie streng berücksichtigt werden. Von praktischer Bedeutung ist insbesondere der Hinweis der Autoren, dass ein T1-Stadium vorliegen sollte und die genannte induktive Chemotherapie zur Tumormassenreduktion präoperativ sinnvoll ist. Wird eine organerhaltende Tumorresektion durchgeführt, ist die intraoperative Schnellschnittuntersuchung zur histologischen Einschätzung der Prognose (Tumorfreiheit der Absetzungsränder, histologische Zuordnung) zwingend notwendig, damit intraoperativ bei prognostisch ungünstiger Histologie eine radikale Tumornephrektomie erfolgen kann.

Insofern ist die organerhaltende Tumorextirpation/Resektion von Nephroblastomen unter strenger Indikationsstellung bei einem selektionierten Patientenkollektiv eine Alternative zur radikalen Tumornephrektomie. Sie ist auch im Tumorstadium I mit einer ca.10%igen Lokalrezidivrate assoziiert.

Dr. Olaf. A. Brinkmann, Dr. Saskia Balster, Münster

 
Zoom Image

Wilms-Tumor. Sicht- und tastbare Resistenz im Abdomen (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).

Zoom Image

Wilms-Tumor bei einem Jungen, 2 Jahre, 9 Monate. Nach Kontrastmittelgabe lassen sich vergrößerte Lymphknoten im Oberbauch zusätzlich zum bilateralen Wilms-Tumor abgrenzen (Bild: Kinderurologie in Klinik und Praxis, Thieme, 2000).