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DOI: 10.1055/s-2004-833540
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Leitlinien für die Begutachtung von Schmerzen - Version 8.3 vom 9.7.2004
Publication History
Publication Date:
23 September 2004 (online)
- 1. Präambel
- 2. Allgemeine Leitlinien der Begutachtung
- 3. Besonderheiten der Begutachtung von Schmerzen
- 4. Einteilung von Schmerzen
- 5. Inhalt der Begutachtung
1. Präambel
Urheberschaft
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (DGPM) und das Deutsche Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM) sowie die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) haben die Erstellung dieser Leitlinien initiiert und geeignete Experten benannt. Es ist vorgesehen, dass weitere Fachgesellschaften der Urheberschaft hinzutreten.
Autoren
Für die DGN:
Prof. Dr. Dr. B. Widder,
Günzburg (federführend);
Erweiterter Autorenkreis:
Dr. C. Benz, Heidelberg;
Prof. Dr. M. Tegenthoff, Bochum
Für die DGPPN:
Prof. Dr. K. Foerster, Tübingen
Erweiterter Autorenkreis:
Prof. Dr. H. Kindt, Freiburg;
Dr. P. Vogel, München
Für die DGPM/DKPM:
Prof. Dr. U. T. Egle, Mainz
Erweiterter Autorenkreis:
Dr. C. Derra, Bad Mergentheim;
PD Dr. V. Köllner, Homburg/Saar
Für die DGOOC:
Prof. Dr. M. Schiltenwolf, Heidelberg
Erweiterter Autorenkreis:
Dr. F. Schröter, Kassel;
Prof. Dr. G. Rompe, Heidelberg
Ziel der Leitlinie
Diese Leitlinie soll die Begutachtung von Patienten, die als Leitsymptom Schmerzen beklagen, vereinheitlichen. Sie soll der Komplexität von Schmerz, Schmerzerleben und Schmerzbeeinträchtigung durch die Beschreibung interdisziplinären Zusammenwirkens gerecht werden. Durch die Beschreibung sowohl der fachgebundenen Kompetenz als auch der Zusammenarbeit zwischen Gutachtern verschiedener Fachdisziplinen sollen qualitätssichernde Maßnahmen für die Gutachtenerstellung und Grundlagen für einheitliche Einschätzungen schmerzkranker Probanden in den verschiedenen Rechtsbereichen ermöglicht werden. Damit soll auch die Verständigung zwischen Ärzten und Juristen verbessert werden.
Inhalt der Leitlinien
Grundlage der Leitlinie sind einerseits das Grundlagenwissen um Schmerzentstehung, Schmerzverarbeitung und Schmerzchronifizierung sowie die fachgebietsspezifischen Einschätzungen zu schmerzkranken Probanden. Andererseits werden Kenntnisse der Begutachtungsgrundlagen für verschiedene Rechtsformen zugrunde gelegt. Wesentlich war die Zusammenführung fachgebietsspezifischer Erkenntnisse zu einer interdisziplinären Leitlinie. Bestehende Leitlinien zum Thema wurden berücksichtigt.
Zielgruppe
Alle in der Begutachtung tätigen Ärztinnen und Ärzte.
Evidenzgrad
Leitlinien zur Begutachtung sind wegen der nationalen sozialen und juristischen Einbettung und wegen der hohen Bedeutung normativer Fragen expertenabhängig. Die Leitlinien wurden durch je einen Experten einzelner Fachgesellschaften formuliert. Ein erweiterter Autorenkreis hat den vorgelegten Text kritisch redigiert. Bei der Bewertung des Evidenzgrades sind sowohl medizinische als auch rechtliche Gesichtspunkte wesentlich.
Implementierung
Die Fachgesellschaften sind für die Implementierung der Leitlinie zuständig. Publikationen in den Organen der Gesellschaften sollen die Verbreitung und Umsetzung der Leitlinie sicherstellen.
Zertifizierung auf S1- und S2-Niveau durch die Fachgesellschaften selbst; gemeinsame Weiterleitung an die AWMF zur fachgebietsübergreifenden Publikation.
Überprüfung der Anwendung
Die Arbeitskreise für Begutachtungsfragen der einzelnen Fachgesellschaften sollen die Anwendung sowie ggf. Anwendungsprobleme überprüfen.
Aktualisierung
Hängt vom Zeitpunkt der Verabschiedung ab.
#2. Allgemeine Leitlinien der Begutachtung
Kenntnis der Rechtsnormen
Der Gutachter muss die Grundzüge der unterschiedlichen Rechtsgebiete der sozialmedizinischen bzw. versicherungsmedizinischen Begutachtung kennen und deren spezifische Forderungen berücksichtigen. Soweit die Weiterbildungsordnung in dem Fachgebiet oder Schwerpunkt des Gutachters keine Kenntnisse der Begutachtung vorsieht, ist eine geeignete Zusatzfortbildung erforderlich.
Wahrung der Unparteilichkeit
Der Gutachter arbeitet neutral und nach bestem Wissen und Gewissen. Im Gegensatz zur üblichen ärztlichen Tätigkeit hat es der Gutachter strikt zu vermeiden, Partei für den zu Untersuchenden oder den Auftraggeber zu nehmen. Der behandelnde Arzt soll daher nicht gleichzeitig als Gutachter tätig werden.
Bezeichnung
Entsprechend der ärztlichen Weiterbildungsordnung soll das Gutachten nach dem Fachgebiet des erstellenden Arztes benannt werden. Es soll nicht von "psychotherapeutischen Gutachten" oder "schmerztherapeutischen Gutachten" gesprochen werden, da therapeutische Anliegen mit den gutachterlichen Aufgaben nicht in Einklang zu bringen sind.
Wahrung der Sorgfaltspflicht
Die Erstattung von Gutachten setzt eine eingehende Kenntnis der (zu Verfügung stehenden) Unterlagen wie Krankenblätter, Vorbefunde ggf. einschl. der Leistungsauszug der Krankenversicherung zu Vorerkrankungen sowie der Vorgutachten sowie eine angemessene Beschäftigung mit dem zu Begutachtenden im Rahmen der Anamneseerhebung und Untersuchung voraus.
Aufklärung und Schweigepflicht
Die ärztliche Schweigepflicht und die Verweigerungsrechte des Probanden sind vom Gutachter zu berücksichtigen. Hierzu gehört auch die Aufklärung und Information des Probanden über die Untersuchung, den Ablauf der Untersuchung sowie über die Funktion, die Stellung des Sachverständigen sowie die Zielsetzung der Begutachtung. Der Proband ist darüber aufzuklären, dass der Gutachter keine Schweigepflicht gegenüber dem Auftraggeber hat; davon unbenommen kann der Proband die Weitergabe von Selbstauskünften verweigern.
Beschränkung auf den Gutachtenauftrag
Der Sachverständige soll sich in seinem Gutachten auf die Beantwortung der im Gutachtenauftrag gestellten Fragen beschränken. Sofern die Fragen nicht sachdienlich erscheinen, hat er dies vor Abfassung des Gutachtens mit dem Auftraggeber abzuklären.
Umgang mit fremdsprachigen Probanden
Bei fremdsprachigen Probanden muss geklärt werden, ob zur Anamneseerhebung und Untersuchung ein Dolmetscher erforderlich ist. Sofern dies erforderlich erscheint, soll der Dolmetscher vom Auftraggeber benannt werden; Familienangehörige, Freunde oder Bekannte sind nicht heranzuziehen. Der Gutachter soll sich darüber im Klaren sein, dass Schmerzempfindung und -schilderung bei Probanden aus anderen Kulturräumen andersartig sein können und damit nur eingeschränkt in die deutsche Sprache übertragbar sind.
Strukturierung des Gutachtens
Eine klare Strukturierung des schriftlichen Gutachtens ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Es empfiehlt sich folgende Gliederung: Darstellung des Sachverhalts und der Fragestellung, Angaben des Probanden, erhobene Befunde, Diagnose, Diskussion der Aktenlage, zusammenfassende Beurteilung sowie Beantwortung der Beweisfragen.
Verpflichtung zur termingerechten Gutachtenerstellung
Gemäß § 25 der Berufsordnung für deutsche Ärzte sind Gutachten innerhalb einer angemessenen Frist abzugeben. Längere Intervalle zwischen Untersuchung und Erstellung des Gutachtens mindern den Informationsgehalt und werden ggf. nicht als Erfüllung des Gutachtenauftrages akzeptiert.
Diagnosen
An erster Stelle sollen im Allgemeinen die Funktionsbeeinträchtigungen genannt werden, erst an zweiter Stelle die Diagnosen. Die Beschreibung und Verschlüsselung der Diagnosen erfolgt nach ICD-10. Die konkreten qualitativen und quantitativen Einschränkungen sind aus den Funktionsbeeinträchtigungen und nicht aus den Diagnosen abzuleiten.
#3. Besonderheiten der Begutachtung von Schmerzen
Über die üblichen Vorgaben an den Sachverständigen hinaus sind bei der Begutachtung von Schmerzen nachfolgende Besonderheiten zu berücksichtigen:
Schmerzgutachten
Der Begriff des "Schmerzgutachtens" ist unglücklich und soll vermieden werden. Soweit nicht die Fachgebietsbezeichnung des Sachverständigen für die Klassifizierung des Gutachtens ausreichend erscheint, soll daher von der "Begutachtung von Schmerzen" gesprochen werden.
Ärztliche Aufgabe
Die Begutachtung von Schmerzen ist eine ärztliche Aufgabe. Psychologen und psychologische Psychotherapeuten können ggf. im Rahmen der psychiatrischen oder psychosomatischen Begutachtung nach Klärung der Kostenübernahme aufgrund ihrer speziellen Kompetenz mit der Erstellung eines Zusatzgutachtens beauftragt werden.
Kenntnis der Krankheitsbilder
Der Gutachter muss über den aktuellen evidenzbasierten Wissensstand der Krankheitsbilder mit Leitsymptom "chronischer Schmerz" verfügen. Hierzu sei auf die entsprechenden Leitlinienseiten der AWMF verwiesen.
Interdisziplinärer Charakter
Die Begutachtung chronischer Schmerzen ist eine interdisziplinäre Aufgabe und erfordert Kompetenz sowohl zur Beurteilung körperlicher als auch psychischer Störungen. An erster Stelle soll durch geeignete Gutachter der Anteil durch Gewebeschäden erklärbarer Schmerzen beurteilt werden. Diese Gutachter sollen über Grundkenntnisse psychisch verursachter Schmerzen im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung verfügen.
Sind die Schmerzen und das Ausmaß der Beeinträchtigungen gar nicht oder nicht ausreichend durch Gewebeschäden erklärbar, soll die Begutachtung interdisziplinär erfolgen. Ein Zweitgutachten ist dann auf dem psychosomatischen bzw. psychiatrischen Fachgebiet zu erstellen. Diese Gutachter sollen über eingehende Kenntnisse chronischer Schmerzen verfügen.
Problem der Quantifizierung von Schmerzen
Das Ausmaß der Schmerzen ist bislang weder durch bildgebende noch durch neurophysiologische Methoden quantifizierbar, wenngleich diese Verfahren für den Nachweis von Gewebeschädigungen unverzichtbar sind. Dem Nachweis körperlicher und/oder psychischer Beeinträchtigungen im Alltags- und beruflichen Leben kommt daher bei der Begutachtung von Schmerzen überragende Bedeutung zu. Apparativ gewonnene Zufallsbefunde ohne Relevanz für die beklagten Schmerzen sollen als nicht Schmerz erklärend benannt werden.
Bedeutung psychometrischer Untersuchungen
Testpsychologische Verfahren und die Verwendung von Selbstbeurteilungsbögen können die Eigenschilderung der Beschwerden ergänzen und dienen der Standardisierung von Befunden. Wegen der Wiedergabe subjektiver Einschätzungen kommt ihnen jedoch in der gutachterlichen Situation keine Bedeutung als objektives Kriterium zu. Eine unkritische Übernahme der darin geltend gemachten Beeinträchtigungen soll daher unterbleiben. Für die Beurteilung der tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigungen sind der erhobene Befund während der Exploration und Untersuchung sowie die Verhaltensbeobachtung wesentlich.
Diagnose und Funktionsminderung
Die Schwere der Krankheit des Probanden ergibt sich aus den Diagnosen und den belegten Funktionsminderungen. Diagnosen allein erklären nicht den Schweregrad einer Schmerzsymptomatik.
Behandelbarkeit und Funktionsminderung
Patienten mit psychisch (mit-)verursachten bzw. unterhaltenen Schmerzen sind häufig einer Behandlung nur schwer zugänglich. Dies kann auch Folge fehlgeleiteter Vorbehandlungen sein (iatrogene Fixierung und Schädigung).
Geringer oder ausbleibender Behandlungserfolg begründet nicht zwangsläufig auch hohen Leidensdruck mit schweren Funktionsbeeinträchtigungen. Hoher Leidensdruck ist dann anzunehmen, wenn sich Beeinträchtigungen im privaten und/oder beruflichen Alltagsleben und in der sozialen Partizipation nachweisen lassen.
Verdeutlichung
Verdeutlichungstendenzen sind der Begutachtungssituation durchaus angemessen und sollen nicht mit Aggravation oder Simulation gleichgesetzt werden. Es handelt sich hierbei um den mehr oder weniger bewussten Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der Schmerzen zu überzeugen. Zunehmende Verdeutlichung kann auch mit einem desinteressierten, oberflächlichen Untersucher zusammenhängen.
Aggravation
Aggravation ist die bewusste verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken. Sie ist in der Begutachtungssituation relativ häufig zu beobachten.
Simulation
Simulation ist das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken. Simulation gilt als selten. Simulation und auch Aggravation sollten in Gutachten klar beschrieben werden.
Untersucherreaktion und Gegenübertragungsverhalten
Soweit richtungweisende körperliche Befunde fehlen, gilt in besonderem Maße zu beachten, dass beim Gutachter eigene Wertvorstellungen und Körpererfahrungen, das Erleben des Probanden (z.B. Abwehr bei klagsamen Probanden) und auch die eigene Tagesform die Interaktion mit dem Probanden beeinflussen können.
Ablauf der Begutachtung von Schmerzen
a) Diagnostische Zuordnung
Sämtliche Diagnosen orientieren sich an den Vorgaben des ICD-10 und sind entsprechend zu kodieren. Bei Diagnosen aus dem Kapitel V (F: psychische und Verhaltensstörungen) sollte im Sinne der Qualitätssicherung neben der klinischen Untersuchung zusätzlich eine strukturierte Diagnoseprozedur (z.B. SKID, CIDI, Mini-DIPS, IDCL) verwendet werden.
b) Erfassung schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen
Angesichts des Fehlens geeigneter technischer Messmethoden zur Quantifizierung von Schmerzen ist es Aufgabe des Gutachters, Beeinträchtigungen im täglichen Leben und in der sozialen Partizipation detailliert zu hinterfragen. Hinweise hierzu können auf den Seiten der WHO (http://www. dimdi.de/de/klassi/ICF/) gewonnen werden.
c) Nachweis schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen
Im nächsten Schritt hat der Gutachter Stellung dazu zu nehmen, ob die anamnestisch erfassten Funktionsbeeinträchtigungen in dem beschriebenen Umfang zur subjektiven Gewissheit des Gutachters (sog. "Vollbeweis") bestehen. Nachfolgende Kriterien können Zweifel am Ausmaß der geklagten Beschwerden aufkommen lassen:
-
Diskrepanz zwischen subjektiver Beschwerdeschilderung (einschließlich Selbsteinschätzung in Fragebogen) und körperlicher und/oder psychischer Beeinträchtigung in der Untersuchungssituation.
-
Wechselhafte und unpräzis-ausweichende Schilderung der Beschwerden und des Krankheitsverlaufes.
-
Diskrepanzen zwischen eigenen Angaben und fremdanamnestischen Informationen (einschließlich Aktenlage).
-
Fehlende Modulierbarkeit der beklagten Schmerzen.
-
Diskrepanz zwischen geschilderten Funktionsbeeinträchtigungen und zu eruierenden Aktivitäten des täglichen Lebens.
-
Fehlen angemessener Therapiemaßnahmen und/oder Eigenaktivitäten zur Schmerzlinderung trotz ausgeprägt beschriebener Beschwerden.
-
Fehlende sachliche Diskussion möglicher Verweistätigkeiten bei Begutachtungen zur beruflichen Leistungsfähigkeit.
Soweit aufgrund derartiger Beobachtungen eine Klärung des tatsächlichen Ausmaßes der Beschwerden nicht möglich ist, soll sich der Gutachter nicht scheuen, dies in seinem Gutachten klar auszudrücken. Die Unmöglichkeit einer sachgerechten Beurteilung führt im Rechtsstreit im Allgemeinen zur Ablehnung des Renten- oder Entschädigungsantrags, da die Beweislast beim Antragsteller liegt.
d) Beurteilung der willentlichen Steuerbarkeit
In einem weiteren Schritt ist der Frage nachzugehen, inwieweit bei der Schmerzsymptomatik eine unbewusste "neurotische" Verschiebung seelischer Konflikte in die Körperebene im Vordergrund steht ("primärer Krankheitsgewinn"), oder inwieweit die Beschwerden dazu benutzt werden, bewusst oder zumindest bewusstseinsnah eigene Wünsche, z.B. nach Versorgung, Zuwendung oder Entlastung von unangenehmen Pflichten gegenüber Dritten durchzusetzen ("sekundärer Krankheitsgewinn"). Während im ersten Fall üblicherweise davon auszugehen ist, dass der Situation Krankheitswert zukommt, ist dies im zweiten Fall - auch bei ansonsten plausibel vorhandenen Funktionsbeeinträchtigungen - schwieriger zu beurteilen. Hier hat der Gutachter zu klären, ob eine selbstbestimmte Steuerbarkeit des Beschwerdebildes vorliegt, oder ob die Symptomatik der bewussten Einflussnahme durch den zu Begutachtenden entzogen ist und damit ebenfalls Krankheitswert besitzt. Nicht selten kommt es im Rahmen einer Chronifizierung dazu, dass eine primär bewusst eingesetzte Schmerzsymptomatik sich zunehmend verselbständigt und schließlich nicht mehr willentlich zu beeinflussen ist. Allein die Tatsache lange dauernder Beschwerden schließt eine bewusstseinsnahe Steuerbarkeit jedoch nicht aus. Hinweise auf eine bestehende Steuerbarkeit der Beschwerden geben insbesondere nachfolgende - möglichst durch Fremdanamnese bestätigte - Befunde:
-
Rückzug von unangenehmen Tätigkeiten (z.B. Beruf, Haushalt), jedoch nicht von den angenehmen Dingen des Lebens (z.B. Hobbys, Vereine, Haustiere, Urlaubsreisen),
-
Trotz Rückzug von aktiven Tätigkeiten Beibehalten von Führungs- und Kontrollfunktionen (z.B. Überwachung der Haushaltsarbeit von Angehörigen, Steuerung des Einkaufsverhaltens der Angehörigen).
4. Einteilung von Schmerzen
In der gutachterlichen Situation sind drei Kategorien von Schmerzen zu unterscheiden:
a) Schmerz als Begleitsymptom einer körperlichen Störung
Hierbei sind in der Terminologie der Gutachtenliteratur zwei Untergruppen definiert:
-
"Übliche Schmerzen" als Begleitsymptom einer körperlich fassbaren Erkrankung bzw. einer Nervenschädigung. Sie stellen bei der Begutachtung im Allgemeinen kein Problem dar und sind in den gutachterlichen Bewertungstabellen bereits berücksichtigt.
-
"Außergewöhnliche Schmerzen" z.B. nach Schädigung bestimmter Hirnstrukturen ("Thalamusschmerz"), nach Amputationen ("Stumpf-" und "Phantomschmerz") sowie im Rahmen eines "komplexen regionalen Schmerzsyndroms" (CRPS). Hier bestehen regelmäßig besondere Anforderungen an die Qualität der diagnostischen Abklärung. Ist die Diagnose hinreichend gesichert und sind ggf. Kausalitätsfragen ausreichend geklärt, ergeben sich im Allgemeinen keine wesentlichen gutachterlichen Einschätzungsprobleme.
b) Schmerz bei Gewebeschädigung und psychischer Komorbidität
Die Auswirkungen von Gewebeschädigungen können durch psychische Komorbidität (z.B. Angststörung, depressive Störung, Suchterkrankungen) verschlimmert werden.
c) Schmerz als Leitsymptom einer psychischen Erkrankung
Hierzu zählen Schmerzen als Symptom einer primär psychischen Erkrankung wie etwa depressive Störungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen, im Einzelfall auch psychotische Störungen.
#5. Inhalt der Begutachtung
Die Begutachtung von Schmerzen erfordert neben der körperlichen Untersuchung eine detaillierte und umfassende Exploration des Probanden, weswegen hierfür regelmäßig ein deutlich erhöhter Zeitbedarf einzurechnen ist. Im Einzelnen sollen Gutachten folgende Punkte enthalten:
Anamnese
-
Arbeits- und Sozialanamnese (Berufsausbildung mit/ohne Abschluss, Arbeitsbiografie, besondere psychische und physische Belastungen am Arbeitsplatz, Dauer und Begründung für Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit, Entwicklung der familiären Situation und deren Belastungen)
-
Allgemeine Anamnese der körperlichen und psychischen Erkrankungen (aktuell und unter Einbeziehung früherer Lebensabschnitte einschließlich familiärer Belastungen)
-
bei "kausalen" Fragestellungen außerdem Angaben zu Unfallereignissen und anderen ursächlichen Einwirkungen und zum Verlauf danach.
-
Spezielle Schmerzanamnese (Lokalisation, Häufigkeit und Charakter der Schmerzen; Abhängigkeit von verschiedenen Körperhaltungen, Tätigkeiten und Tageszeiten, Verlauf mit/ohne Remissionen)
-
Dauer, Intensität und Ergebnis bisheriger Behandlungsmaßnahmen (Häufigkeit und Regelmäßigkeit von Arztbesuchen, Häufigkeit und Dauer der Einnahme von Medikamenten und deren Nebenwirkungen, Intensität physiotherapeutischer Behandlungen, Einbringen eigener Bewältigungsstrategien); symptomverstärkende und -unterhaltende ärztliche Maßnahmen
-
Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens (Schlaf, Tagesablauf, Mobilität, Selbstversorgung, Haushaltsaktivitäten wie Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln, Einkaufen, Gartenarbeit, erforderliche Ruhepausen, Fähigkeit zum Auto- und Radfahren)
-
Einschränkungen der Partizipation in verschiedenen Lebensbereichen (Familienleben einschließlich Sexualität und schmerzbedingter Partnerprobleme; soziale Kontakte einschließlich Freundschaften und Besuche; Freizeitbereich wie Sport, Hobbys, Vereinsleben, Halten von Haustieren, Urlaubsreisen)
-
Eigene Einschätzung des positiven und negativen Leistungsbildes (z.B. anhand der Diskussion von geläufigen Verweistätigkeiten mit geringer körperlicher Beanspruchung)
-
Biografische Schmerzerfahrungen: körperliche Misshandlung, emotionale Vernachlässigung, chronische familiäre Disharmonie, Parentifizierung, mehrfache postoperative Schmerzsituationen, Schmerzmodell bei wichtigen Bezugspersonen
-
Soziale Unterstützung und Qualität der Partnerbeziehung
-
Fremdanamnese immer mit Einverständnis des Probanden. Es bestehen bei den Autoren kontroverse Ansichten, inwieweit die Fremdanamnese in Anwesenheit des Probanden erhoben werden sollte.
Klinische Befunde
-
Beobachtung während der Begutachtung (Gangbild vor/während/ nach der Begutachtung, Spontanmotorik, Fähigkeit zum Stillsitzen, erforderliche Entlastungsbewegungen, Bewegungsmuster beim An- und Auskleiden)
-
Allgemeine Befunde (Körperpflege und äußeres Erscheinungsbild, Hand- und Fußbeschwielung, Muskulatur, Körperbräune)
-
Körperlicher Befund
-
Psychopathologischer Befund (bei psychosomatischen und psychiatrischen Gutachten sollte dieser möglichst systematisch in Form einer standardisierten Diagnoseprozedur wie z.B. SKID, CIDI oder Mini-DIPS erhoben werden)
-
Apparative Zusatzbefunde (soweit in Abhängigkeit von der Fragestellung/Erkrankung erforderlich)
-
Auswertung von Selbsteinschätzungsskalen
Diagnosen
Die Diagnosen sollen sich an ICD-10- Kriterien orientieren, wobei für gutachterliche Belange die Funktionsstörungen an entscheidender Stelle genannt werden sollen.
Zusammenfassung und Beurteilung
Die abschließende gutachterliche Beurteilung von Schmerzen unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der gutachterlichen Bewertung anderer Gesundheitsstörungen. Im Allgemeinen sind 4 Fragen zu beantworten:
1. Welche Gesundheitsstörungen lassen sich "ohne vernünftigen Zweifel" nachweisen?
2. Bei kausalen Fragestellungen: Auf welche Ursache(n) sind diese Gesundheitsstörungen "mit Wahrscheinlichkeit" zurückzuführen? Je nach Rechtsgebiet (z.B. Sozial- oder Zivilrecht) gelten dabei unterschiedliche Kriterien der Kausalitätsbewertung.
3. Welche quantitativen und qualitativen Auswirkungen haben diese Gesundheitsstörungen? Je nach Rechtsgebiet (z.B. gesetzliche oder private Unfallversicherung, gesetzliche Rentenversicherung, Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung, Schwerbehindertenrecht) kann die Bemessung der Funktionsstörungen unterschiedlich sein.
4. Welche Prognose haben die nachweisbaren Gesundheitsstörungen?
Aufgrund des Fehlens geeigneter technischer Messmethoden zur Quantifizierung von Schmerzen stehen beim Nachweis und der Beurteilung der Auswirkungen schmerzbedingter Funktionsstörungen 2 Fragen im Vordergrund:
1. Inwieweit ist der Gutachter anhand der Zusammenschau von Exploration, Untersuchung und Verhaltensbeobachtung bei kritischer Würdigung der Befunde davon überzeugt, dass entsprechende Funktionsbeeinträchtigungen bestehen?
2. Inwieweit besteht ein möglicher "sekundärer Krankheitsgewinn"? Hierbei gilt insbesondere zu klären, ob und inwieweit die geklagten Beschwerden bewusst bzw. bewusstseinsnah zur Durchsetzung eigener Wünsche eingesetzt werden, oder ob die "Schmerzkrankheit" den Lebensablauf und die Lebensplanung übernommen hat. Bei kausalen Fragestellungen kann der "sekundäre Krankheitsgewinn" gleichzeitig einen Teilaspekt der Frage nach schädigungsunabhängigen Faktoren darstellen.
Literatur:
Prof. Dr. M. Schiltenwolf, Heidelberg