Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2004-833541
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Leserbrief - Lehmanns Himbeersirup
Publication History
Publication Date:
23 September 2004 (online)
Leserbrief zum Beitrag "Von der ICIDH zur ICF oder: Wie kommt Herr Lehmann in die "Reha"?" Orthopädie aktuell, Z Orthop 2004; 142, 268-269
Der Dienstwagen von Herrn Lehmann von der Kasse fährt nicht mehr. Es ist schon ein älteres Modell und hat einiges hinter sich, Unfall hier und da, neues Getriebe. Na ja. Und nun steht das gute Stück. Was machen? Herr Lehmann schiebt es auf die Tankstelle und lässt es inspizieren. Er sagt dem Tankwart aber: Ich erwarte die notwendige, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung mit der gebotenen Leistung.
Der Tankwart holt sein neues Bezugssystem ICF aus der Tasche und läuft um die Karre rum. Ja, die Funktionen sind gestört, an typischen Aktivitäten kann das Auto auch nicht mehr teilnehmen, die Mobilität ist stark beeinträchtigt.
Und damit empfiehlt der Tankwart eine Rehamaßnahme.
Alles wird auf dem neuen Formular eingetragen und der Kasse vorgelegt.
Rehabedürftigkeit? Ja. Das Auto steht, also muss was getan werden.
Rehafähigkeit? Klar kann der Wagen eine Reparatur über sich ergehen lassen.
Rehaprognose? Wie immer: Alles wird gut werden.
Die Maßnahme wird bewilligt.
Und dann nimmt der Tankwart einen Kanister und füllt Himbeersirup in den leeren Tank.
Gerade hat Dr. Norbert Metke, Vorsitzender des Unterausschusses Heilmittel des Gemeinsamen Bundesausschusses im Deutschen Ärzteblatt in Bezug auf den Anstieg der Heilmittelverordnung von einer "Wellnessierung der Massen" gesprochen. Und bei fehlender Evidenz für die Wirksamkeit vieler "Anwendungen" die Politik als Ursache der Verschwendung von Versichertengeldern benannt. Im Bereich der Reha (vulgo: Kur) ist dieses Phänomen staatsbad-alt und noch wesentlich ausgeprägter. Zur stationären(!) Maßnahme reisen mindestens 50% der Kurlauber im eigenen Pkw an. In den Häusern werden sie dann in heißen Matsch aus verwesten Pflanzen getaucht, sie werden mit warmem und kaltem Wasser begossen, lassen sich massieren; sie machen Yoga oder Makramée oder dösen in Gesundheitsvorträgen: Jede Menge Himbeersirup!
Mit der neuen Richtlinie soll alles besser werden. Nach Abs. 3 §1 dürfen die Leistungserbringer Leistungen, die nicht notwendig oder wirtschaftlich sind, nicht bewirken, und die Kassen dürfen sie nicht bewilligen. Positiv kann die Rehaprognose im Gutachten des MDK nur noch dann ausfallen, wenn die Erreichbarkeit eines festgelegten Zieles durch eine geeignete Leistung hinreichend sicher ist. Nähme man diese Richtlinien auch nur einigermaßen ernst, ginge angesichts des Standes der Rehaforschung morgen in 80% der Rehaeinrichtungen das Licht aus: Damit wären die neuen Richtlinien ein echter Prüfstein für die Seriosität von Leistungsträgern und deren Gutachterdiensten.
Nun läuft aber z. B. in der GKV der MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) bekanntermaßen bis zur Auswahl genehmer Gutachter für bestimmte Aufgaben am Gängelband - und ist von den Kassen auch nur vorgesehen zur Sichtung der Antragsteller nach Bedürftigkeit (= kennt ICF). Mehr nicht.
Schon die Bestimmung der Rehafähigkeit hat ja nur noch marginal mit dem Patienten zu tun, sondern hängt an der vorhandenen Hardware: Werden die Türen in der Klinik breiter, sind plötzlich auch Rollstuhlfahrer rehafähig. Die Breite der Türen wie auch alle anderen Konditionen der Reha werden aber festgelegt von der Kasse im Verbund mit allen am Erhalt und Funktionieren des Systems interessierten Sozialpartnern (teils gleichzeitig Leistungsanbietern!) in der 1969 gegründeten BAR, der Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation. Diese BAR und damit mittelbar die Kasse selbst legt auch die Inhalte des Rehaprogrammes fest.
Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Der Leistungsträger kreiert das Rehakonzept, wacht aber entgegen der Richtlinie bei offensichtlicher Befangenheit und im Interessenkonflikt nicht über dessen Sinnhaftigkeit und verbittet sich gleichzeitig jegliche Einmischung. Und sei es auch nur vom eigenen MDK. Eine externe Qualitätskontrolle, eine Überprüfung der Eignung dieser Programme, festgesetzte oder vorausgesetzte Erfordernisse zu erreichen, erfolgt nicht.
Erst wenn die Leistungsträger sich von der absurden Idee verabschieden, gleichzeitig Anbieter und Kontrolleur von Konzepten zu sein, erst wenn auf dem freien Markt Rehakonzepte um den Grad der Zielerreichung konkurrieren, erst wenn die BAR aufgelöst wurde und die Richtlinie sich von einem Feigenblatt zu einer von allen Vertragspartnern ernstgenommenen Handlungsgrundlage wandelt, dann darf man darauf hoffen, aus der Raffinerie auch wieder Benzin zu bekommen. Statt Himbeersirup.
Dr. J. Lucka