Aktuelle Urol 2004; 35(5): 350-354
DOI: 10.1055/s-2004-834354
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anomalien des Urogenitaltrakts und therapeutische Konsequenzen - Kinder mit Einzelniere auf VUR und Harnleiterstenose screenen

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22 September 2004 (online)

 
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Das Vorkommen einer Einzelniere ist eine relativ häufige angeborene Anomalie des Urogenitrakts bei Kindern. Sie wird entweder anatomisch durch eine Nierenagenesie verursacht oder resultiert aus einer nicht funktionierenden kontralateralen Niere wegen einer nonzystischen (NCDK) oder multizystischen dysplastischen Nierenerkrankung (MCDK). Wie hoch der Anteil an weiteren urologischen Auffälligkeiten an der Einzelniere und welches die Konsequenz ist, untersuchten Dr. Kazuhiro Kaneyama et al., Juntendo University School of Medicine, Tokyo/Japan (J Pediatr Surg 2004; 39: 85-87).

Die Studie umfasste 57 Kinder mit der Diagnose einer Einzelniere, die zuvor mit Ultraschall, CT, Ausscheidungsurogramm oder Szintigraphie untersucht worden waren. Bei über der Hälfte der Kinder war die Einzelniere als Zufallsbefund bei einer bildgebenden Diagnostik aus anderen Gründen aufgefallen. Bei anderen Kindern wurde ein Ausscheidungsurogramm oder nuklearmedizinische Untersuchung wegen rezidivierender Harnwegsinfekte einer im Ultraschall festgestellten Hydronephrose durchgeführt. Bei über der Hälfte der Kinder wurde eine MCDK einer Niere diagnostiziert, bei 17 lag eine anatomisch bedingte Einzelniere und bei zehn eine NCDK der Zweitniere vor. Zystennieren (MCDK) waren allerdings zu einem hohen Prozentsatz bereits pränatal im Ultraschall erkannt worden, während eine Nierenagenesie und eine NCDK im Kleinkindalter zwischen zwei und vier Jahren erstmals diagnostiziert wurde.

Weitere urologische Auffälligkeiten fanden sich insgesamt bei 40% der Solitärnieren bzw. der funktionierenden der beiden Nieren. Die linke Seite war dreimal so häufig betroffen. Die Inzidenz dieser Auffälligkeiten war bei Kindern mit Nierenagenesie und NCDK mit 65 bzw. 70% signifikant höher als bei MCDK mit 17%. Am häufigsten lag ein vesikouretraler Reflux (VUR) vor, wiederum häufiger bei Patienten mit Nierenagnesie und NCDK (40 bzw. 41%) als bei Kindern mit multizystischer Niere (17%) war. Als nächsthäufige Anomalie folgten Ureterabgangsstenosen und Uretermündungsstenosen in 5-20% bei Kindern mit Einzelniere und NCDK, wogegen diese pathologischen Befunde bei Patienten mit MCDK gar nicht vorkamen. Diese Auffälligkeiten wie VUR oder Abgangsstenose hatten sich nur bei zwei Dritteln der Kindern durch Harnwegsinfektionen oder im Ultraschallbild bemerkbar gemacht. Serumkreatinin und Serumharnstoff befanden sich bei allen Kindern im Normbereich. Trotzdem zeigte sich bei 8 Kindern mit VUR im Szintigramm bereits eine minimale bis leichte Funktionseinschränkung der gesunden Niere.

Eine chirurgische Korrektur wurde bei 87% der Kinder durchgeführt, zumeist wegen hochgradigem VUR oder schwerer, im Szintigramm nachgewiesener Obstruktion der ableitenden Harnwege. Die Kinder waren im Durchschnitt 5 Jahre alt. Intra- oder postoperative Komplikationen traten nicht auf und bei keinem Kind entwickelte sich in der mehrjährigen Nachbeobachtungszeit eine gestörte Nierenfunktion oder arterieller Hypertonie.

Die Autoren empfehlen bei jedem Kind mit einer Einzelniere ein Screening mittels Miktionszystourethrogramm auf weitere urologische Auffälligkeiten. Sie sind der Meinung, eine frühzeitige operative Korrektur mit regelmäßigen Nachuntersuchungen die Nierenfunktion langfristig zu erhalten hilft.

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Nierenagenesie bei 3-jährigem Mädchen; die Nierenanlage links fehlt (Bild: Kinderurologie in Klinik und Praxis, Thieme, 2000).

Dr. Inge Kelm-Kahl, Wiesbaden

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Kommentar zur Studie

Die Autoren dieses Artikel kommen zu 3 wesentlichen Schlussfolgerungen ihrer Datenerhebung:

1. Die Rate ipsilateraler assoziierter Harntraktanomalien bei Einzelnieren ist sehr hoch (40%).

2. Bei jedem Kind mit Einzelniere sollte ein Miktionszystourethrogramm zum Ausschluss eines vesikorenalen Refluxes erfolgen.

3. Operative Korrekturen sollten möglichst frühzeitig durchgeführt werden, um eine Nierenschädigung zu verhindern.

Diese sehr verallgemeinernden Feststellungen bedürfen einer Reihe von Einschränkungen:

1. Die Rate ipsilateraler Harntraktanomalien bei Einzelnieren wird von den Autoren überschätzt. Die Art der Datensammlung lässt eine erhebliche Selektion des Patientenkollektivs vermuten. Es wurden retrospektiv die Krankenakten aus 20 Jahren aufgearbeitet. Unter den Patienten finden sich viele Kinder, die wegen klinischer Symptome in die Klinik gebracht worden waren. Allein 15 (65%) der 23 Kinder mit assoziierten Harntraktanomalien fielen durch Harnwegsinfektionen oder andere klinische Symptome auf. Man darf daher annehmen, dass der Anteil der Kinder mit Harntraktanomalien in diesem Kollektiv überrepräsentiert war.

Dies wird auch dadurch deutlich, dass nur 17% der Kinder mit multizystischer Niere Harntraktanomalien der kontralateralen, funktionellen Einzelniere aufwiesen. Diese Kinder waren zu 97% im pränatalen Screening oder bei sonographischen Zufallsbefunden aufgefallen. Dysplastische Nieren oder Nierenagenesie werden im pränatalen Screening weniger gut erfasst, weil sie sonographisch nicht so leicht zu erkennen sind wie multizystische Nieren. Die Tatsache, dass sich in diesen Kollektiven weit mehr Harntraktanomalien fanden (65% bei kontralateraler Nierenagenesie und 70% bei kontralateraler Nierendysplasie), könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie wesentlich häufiger durch klinische Symptome wie Harnwegsinfektionen auffielen, deren Ursache die assoziierte Harnwegsanomalie war.

Die Selektion des Patientenkollektivs wird auch durch die hohe Zahl von komplexen Fehlbildungen deutlich, bei deren Abklärung Nierenanomalien entdeckt wurden. Allein 14 Kinder wiesen Analatresien, VACTER-Assoziation oder kloakale Fehlbindungen auf. Bei all diesen komplexen Fehlbildungen kann ein breites Spektrum von Nieren- und Harnwegsfehlbildungen auftreten. Die bei diesen Kindern gefundenen Harnwegsfehlbildungen der (funktionellen) Einzelniere sind anders zu werten als bei sonst gesunden Kindern, denn sie sind möglicherweise Teil der komplexen Fehlbildung.

Durch die Einbeziehung von "echten Einzelnieren" mit kontralateralen Nierenagenesie, von rein dysplastischen Nieren (zu denen offensichtlich auch Nieren mit Refluxnephropathie gezählt wurden), von multizystischen Nieren und von Nieren-/Harnwegsfehlbildungen im Rahmen komplexer Fehlbildungen entsteht ein Sammelsurium von Entwicklungsstörungen, deren einziges gemeinsames Merkmal die (funktionelle) Einzelniere ist. Sie alle in einen Topf zu werfen und ein arithmetisches Mittel zu bilden, das dann als Inzidenz von assoziierten Harnwegsfehlbildungen bei Einzelniere bezeichnet wird, ist nicht unproblematisch.

Die Selektion des Patientenkollektivs und der damit verbundene Bias ist möglicherweise der Grund für ähnliche Inzidenzangaben in den von den Autoren zitierten Arbeiten aus der Literatur. Eine prospektive Datenerhebung im Rahmen eines sonographischen Neugeborenen-Screenings könnte hier realistischere Zahlen liefern.

2. Ein radiologisches Miktionszystourethrogramm ist nicht prinzipiell bei jedem Kind mit (funktioneller) Einzelniere notwendig. Auch bei Einzelnieren sollte das Prinzip der risikoorientierten Diagnostik gelten. Zur weiterführenden Abklärung des Einzelnierenbefundes wurde ein erheblicher diagnostischer Aufwand betrieben: Bei allen retrospektiv beschriebenen Patienten wurde die Diagnose durch Ultraschall oder CT gestellt und durch ein i.v.Urogramm oder eine Szintigraphie (DMSA oder DTPA-Szintigraphie) bestätigt; alle Kinder erhielten ein MCU. Nur bei 16 Kindern wurde die Indikation zum MCU wegen einer Harnwegsinfektion gestellt, bei 10 wegen einer Harnwegsdilatation. Bei den 31 restlichen Kindern wurde das MCU als Screeningmethode zum Ausschluss eines VUR eingesetzt.

Inwiefern ein MCU bei Einzelniere obligatorisch durchgeführt werden sollte, ist nach wie vor umstritten. Dies gilt insbesondere für Kinder mit multizystischer Niere (MCKD). Bezeichnenderweise fanden die Autoren lediglich bei 17% der Kinder mit MCKD einen VUR. Kuwertz-Bröking et al. berichteten kürzlich mit der Münsteraner Gruppe über 97 Patienten mit MCKD, die zum großen Teil bereits intrauterin aufgefallen waren. 19 (20%) der Kinder zeigten eine Nieren- oder Harnwegsanomalie der funktionellen Einzelniere; lediglich bei ca. 5% fand sich ein VUR. Wegen der niedrigen Refluxrate halten Kuwertz-Bröking et al. ein "Routine-MCU" für unnötig. Ein MCU wird in Münster jedoch bei folgenden sonographischen oder klinischen Befunden durchgeführt:

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Spektrum der Nierenveränderungen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Störung im Rahmen der Nierenentwicklung (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).

  • Nierenbecken- und/oder Ureterdilatation

  • Nierenparenchymveränderungen (z.B. Hyperechogenität, kortikale Zysten)

  • Symptomatische Harnwegsinfektion

Auch eine fehlende kompensatorische Hypertrophie der funktionellen Einzelniere kann Hinweis für einen vesikorenalen Reflux sein, sodass auch in einem solchen Fall ein MCU durchgeführt werden sollte. Ein obligatorisches radiologisches Reflux-Screening führt bei asymptomatischen Kindern mit völlig unauffälligem sonographischen Befund der Einzelniere bei MCKD so selten zur Diagnose eines korrekturbedürftigen VUR, dass es unterlassen werden kann.

3. Muss die Operationsindikation bei Einzelnieren besonders großzügig gestellt werden? Bei 20 (87%!) aller 23 Kinder mit Harntraktanomalien der Einzelniere wurde eine operative Korrektur durchgeführt. Dies betraf immerhin 13 (81%) aller 16 Kinder mit vesikorenalem Reflux sowie sämtliche Kinder mit ureteropelviner Stenose und sämtliche (4) Kinder mit Megaureter. Die konkreten szintigraphischen Befunde der Harnabflussstörungen und die Refluxgrade werden von den Autoren leider nicht angegeben, sodass die Operations-Entscheidung im Einzelfall nicht nachvollziehbar ist. Offenbar wurde jedoch die operative Korrektur großenteils aus prophylaktischer Indikation durchgeführt, um einen möglichen Parenchymschaden von der Einzelniere abzuwenden. Angesichts der hohen Maturationsquote bei primärem VUR und einer hohen Rate an Rückbildungen der Harnabflussstörung bei ureteropelviner Stenose und Megaureter ist eine rein prophylaktische Operationsindikation in den letzten Jahren zunehmend infrage gestellt worden. Ob für die Einzelniere die Operationsindikation wesentlich großzügiger gestellt werden sollte als bei bilateral normalen Nierenanlagen, ist eine bislang nicht beantwortete Frage.

Zweifellos ist der Befund einer konnatalen Einzelniere ein ernstzunehmender und abklärungswürdiger Befund - insbesondere dann, wenn sie mit komplexen Harnwegsfehlbildungen verbunden ist. Der Einsatz strahlenbelastender, invasiver oder unangenehmer diagnostischer Maßnahmen bei Kindern mit konnataler Einzelniere muss jedoch rechtfertigbar sein - insbesondere durch begründete therapeutische Konsequenzen.

In jedem Falle ist den Autoren uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie für diese Risikogruppe regelmäßige, langfristige Verlaufskontrollen fordern. Sie sollten die sonographische Kontrolle des Nierenwachstums durch Volumenmessungen, die Beurteilung der Harnabflussverhältnisse, die Bestimmung der Nierenfunktionsparameter und der Eiweißausscheidung im Urin sowie Blutdruckmessungen umfassen.

PD Rolf Beetz, Mainz

Literatur beim Autor

 
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Nierenagenesie bei 3-jährigem Mädchen; die Nierenanlage links fehlt (Bild: Kinderurologie in Klinik und Praxis, Thieme, 2000).

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Spektrum der Nierenveränderungen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Störung im Rahmen der Nierenentwicklung (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).