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DOI: 10.1055/s-2004-834728
Quo vadis? Gesundheitspolitische Entscheidungen und deren Konsequenzen für die Psychiatrie
Quo Vadis? Health Policy Decisions and their Consequences for Mental Health Care
Dr. med. Christiane RoickMPH
Universität Leipzig · Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
Johannisallee 20
04317 Leipzig
Email: roich@medizin.uni-leipzig.de
Publication History
Publication Date:
07 April 2005 (online)
Im deutschen Gesundheitswesen vollziehen sich gegenwärtig - in einigen Bereichen heftig diskutiert, in anderen Bereichen nahezu unbemerkt - gravierende Veränderungen.
Seit dem Jahr 2004 sind alle somatischen Krankenhäuser verpflichtet, ihre Leistungen über aufwands- und kostenhomogene Fallgruppen (DRGs) abzurechnen. In einer mehrjährigen Anpassungsphase soll eine bundesweit einheitliche Vergütung stationärer Versorgungsleistungen erreicht werden. Ab 2007 wird das neue Finanzierungssystem in den Routinelauf gehen. Für die Zeit danach sind DRGs im Gespräch, die über den stationären Versorgungsbereich hinausgehen und ambulante Leistungen einbeziehen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg wird die Einführung des EBM2000plus sein, die für das Jahr 2005 vorgesehen ist. Dieser neue Abrechnungsmaßstab garantiert auch im ambulanten Bereich bundesweit einheitliche Honorare für vereinbarte Leistungsmengen.
Ganz nebenbei bewirken die neuen gesetzlichen Regelungen eine schrittweise Entmachtung der Kassenärztlichen Vereinigungen und eine Stärkung der Verhandlungsmacht der Krankenkassen. So können angestellte Ärzte in medizinischen Versorgungszentren ambulante Leistungen erbringen (§ 95 SGB V) oder niedergelassene Ärzte in der integrierten Versorgung unter Umgehung der Kassenärztlichen Vereinigungen als Vertragspartner einbezogen werden (§ 140 a - d SGB V). Parallel dazu erhalten Krankenhäuser unabhängig von ihrem Zulassungs- oder Ermächtigungsstatus die Möglichkeit, ambulante Leistungen zu erbringen, sofern ein entsprechendes integriertes Versorgungsprojekt von den Krankenkassen gefördert wird. Damit wird es künftig weit einfacher als bislang sein, Behandlungsangebote settingübergreifend vorzuhalten und zu finanzieren. Dies schafft die Voraussetzungen dafür, dass kostenintensive stationäre Leistungen soweit als möglich durch teilstationäre oder ambulante Angebote ersetzt werden können.
Wenngleich sich integrierte Versorgungsprojekte gegenwärtig auf settingübergreifende Leistungskomplexe für ausgewählte Diagnosegruppen konzentrieren, erscheint längerfristig auch eine integrierte Vollversorgung möglich.
Wohin diese Entwicklung führen soll, zeigt ein Blick in die USA, wo seit vielen Jahren Managed-Care-Angebote die Gesundheitsversorgung dominieren [1]. Alle Veränderungen, die in Deutschland in den letzten Jahren eingeleitet wurden, sprechen dafür, dass auch im deutschen Gesundheitswesen Managed-Care-Systeme implementiert und mittelfristig zu einem Schwerpunkt der allgegenwärtigen Kostendämpfungsbemühungen gemacht werden sollen. Ein Blick auf die wesentlichen Merkmale von Managed Care zeigt, wieweit dieser Prozess schon fortgeschritten ist.
Finanzielle Anreizstrukturen, wie Kopfpauschalen, motivieren in Managed-Care-Systemen zum Verzicht auf unnötige Behandlungsangebote und verlagern einen Teil des Versicherungsrisikos auf die Leistungsanbieter [2]. Durch eine vertikale, settingübergreifende Integration soll die richtige Behandlung auf der richtigen Versorgungsstufe gewährleistet werden. In engem Zusammenhang damit steht das selektive Kontrahieren, das es Versicherern erlaubt, geeignete Leistungsanbieter für Verträge auszuwählen und andere auszuschließen - ähnliche Möglichkeiten eröffnen sich in Deutschland durch die integrierte Versorgung.
Der Hausarzt fungiert im Managed-Care-System als Gatekeeper, der den Zugang zu anderen Leistungserbringern regelt. Auch die deutschen Krankenkassen sind mittlerweile verpflichtet, hausarztzentrierte Versorgungsformen anzubieten.
Das Disease Management soll unter Managed Care eine effiziente Versorgung diagnostisch homogener Patientengruppen garantieren. In Deutschland werden analog dazu seit einigen Jahren Disease-Management-Programme eingeführt.
Patienten, die besonders hohe Versorgungskosten verursachen, so genannte heavy user, werden in Managed-Care-Organisationen gezielt identifiziert und betreut [2]. In Deutschland wurde vom BMBF und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen ein Versorgungsforschungprogramm aufgelegt, das sich den Merkmalen der heavy user widmete [3]. Auch die elektronische Gesundheitskarte, die ab 2006 die alte Krankenversicherungskarte ersetzen wird, könnte die Identifikation von heavy usern erleichtern.
Medizinische Leitlinien sollen Diagnostik- und Therapieverfahren in Managed-Care-Systemen standardisieren und den Behandlungsverlauf transparenter machen [2]. In Deutschland hat das neu geschaffene Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen die Aufgabe, Behandlungsleitlinien herauszugeben und die Wirtschaftlichkeit von GKV-Leistungen zu bewerten.
Durch die kontinuierliche Erfassung von Behandlungsergebnissen soll die Versorgungsqualität in Managed-Care-Systemen gesichert werden [4]. Ein Schritt in diese Richtung ist die im Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz festgeschriebene Fortbildungs- und Qualitätsmanagementverpflichtung für Vertragsärzte.
Viele Managed-Care-Organisationen investieren zudem in Prävention und Gesundheitsförderung, weil sie mit gesunden Versicherten langfristig profitabler arbeiten können [1]. Auch das Bundesgesundheitsministerium hat unlängst eine Stiftung für Prävention gegründet, die wesentlich über die Krankenkassen finanziert wird. Während der Entwurf für ein Präventionsgesetz noch diskutiert wird, haben die Kassen schon jetzt die Möglichkeit, die individuelle Prävention ihrer Versicherten mit einem Vorsorgebonus zu fördern.
Managed-Care-Organisationen setzen die genannten Strategien ein, um sich eine gute Position im Wettbewerb zu sichern. Der Wettbewerb unter den Organisationen ist also die treibende Kraft hinter Managed Care. Auch in Deutschland ist der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen einerseits und den Leitungserbringern andererseits das erklärte Ziel der Gesundheitspolitik.
Die psychiatrische Behandlung hat in Managed-Care-Systemen oft eine Sonderstellung, da sie meist speziellen Organisationen, so genannten Managed Behavioral Health Carve Outs (MBHCO), übertragen wird. Dabei wird die psychiatrische Versorgung vollständig von der primärärztlichen und somatischen Behandlung getrennt. In den USA fallen mittlerweile über 50 % aller Versicherten unter die Zuständigkeit von MBHCOs [5]. Auch in Deutschland könnte die Psychiatrie eine Sonderstellung bekommen, wie die Ausklammerung bei der Einführung der DRGs zeigt.
Da die Bausteine für Managed Care in Deutschland offensichtlich bereits zusammengetragen sind, ist es höchste Zeit für eine öffentliche Diskussion darüber, ob wir tatsächlich ein nach amerikanischem Vorbild arbeitendes Gesundheitssystem haben wollen. Allerdings reden bislang nur wenige Krankenkassenvertreter offen von Plänen zur Einführung von Managed Care [2]. Auch das Bundesgesundheitsministerium vermeidet den Begriff und Karl Lauterbach, der Chefberater des Ministeriums in ökonomischen Fragen, hält Managed Care gar für einen abgenutzten Modebegriff, der in Zukunft wahrscheinlich einer anderen Bezeichnung weichen wird [6].
Krankenkassenvertretern, Politikern und Gesundheitsökonomen scheint also sehr wohl bewusst zu sein, dass der Begriff Managed Care keinen guten Ruf hat und dass allgemein bekannt ist, dass die Kostendämpfungen unter Managed Care nur mit einer Reihe erheblicher Versorgungsnachteile erkauft werden konnten.
Angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Managed-Care-Programme in den USA ist eine pauschale Beurteilung ihrer Auswirkungen kaum möglich. In der Psychiatrie haben verschiedene Untersuchungen gezeigt, dass Managed-Care-Formen besonders für schwer psychisch Kranke ungeeignet sind, da sie deren Versorgungsbedarf schlecht abbilden [7] [8]. Schizophrene Patienten, die über Managed-Care-Organisationen betreut wurden, wiesen nach einigen Jahren eine geringere Verbesserung ihres psychischen Gesundheitszustands auf, als nach dem Fee-for-Service-Prinzip behandelte Kranke [9]. Die Behandlungskontinuität war unter Managed Care geringer [7] [10] und das Risiko für einen Therapieabbruch höher [8]. Häufig wurden Patienten zu früh aus dem Krankenhaus entlassen, was die Wiederaufnahmeraten erhöhte und die Versorgungsqualität beeinträchtigte [11]. Die Wahrscheinlichkeit, dass schwer psychisch Kranke dauernd oder zeitweise keine Psychopharmaka mehr einnahmen [10] oder mit suboptimalen Neuroleptikadosen behandelt wurden [8], stieg unter Managed Care an. Gleichzeitig erhielten schwer Kranke seltener psychosoziale Behandlungsangebote [8] [12]. Versicherte mit besonders großem Unterstützungsbedarf hatten zudem ein höheres Risiko aus den sie versorgenden Managed-Care-Organisationen ausgeschlossen zu werden [13] [14]. Im Falle einer gesonderten Organisation der psychiatrischen Versorgung über MBHCOs kann sich überdies die Erkennung psychischer Erkrankungen verzögern, da Primärärzten, die die Patienten am häufigsten sehen und daher psychische Störungen frühzeitig erkennen können, der Aufwand für eine entsprechende Diagnostik und Therapie nicht mehr erstattet wird [15]. Die Autonomie der ärztlichen Entscheidung wird für alle Leistungsanbieter unter Managed Care stark beschnitten und die Zusammenarbeit mit den Managed-Care-Organisationen ist oft bürokratisch und zeitaufwändig [16].
Diesen negativen Erfahrungen stehen zahlreiche Untersuchungen gegenüber, die zeigen, dass Managed Care die Qualität der psychiatrischen Behandlung nicht beeinträchtigt, sondern im Gegenteil den Zugang zu den Versorgungsangeboten verbessert und dazu beiträgt, schwer psychisch Kranke erfolgreich in der Gemeinde zu halten [17] [18] [19] [20] [21].
Ohne Zweifel gibt es tatsächlich eine Reihe von Managed-Care-Elementen, mit denen die psychiatrische Versorgung, einschließlich der Behandlung schwer kranker Patienten, verbessert werden könnte. So werden die ansonsten fragmentierten finanziellen Ressourcen der Gesundheitsversorgung unter Managed Care in einem einzigen Budget zusammengefasst, sodass theoretisch die Möglichkeit besteht, ohne administrative Barrieren die optimale Versorgung für einen Patienten auszuwählen.
Auch medizinische Leitlinien können zu einer hohen Versorgungsqualität beitragen, solange sie nicht, wie häufig unter Managed Care, rigide zum Ausschluss kostenintensiver Behandlungsoptionen genutzt werden [22].
Die Qualitätssicherung unter Managed Care hat ebenfalls einen positiven Aspekt, wenn sie auf Outcomekriterien, wie die Fähigkeit der Patienten zu einem selbstständigen und erfüllten Leben in der Gemeinde, zielt. Es ist jedoch schwer festzulegen, welches Outcome bei welchen Patienten erwartet werden kann. Deshalb beschränken sich Managed-Care-Organisationen bislang eher auf Effektivitätsparameter, die vor allem für sie selbst interessant sind, beispielsweise die Verkürzung stationärer Behandlungsdauern [22].
Die gezielte Betreuung von heavy usern, die von der Standardversorgung nicht ausreichend profitieren können, ist theoretisch ebenfalls ein Vorteil von Managed Care. Allerdings ist auch hier entscheidend, ob mit einer solchen Intervention primär eine Kostendämpfung oder eine Versorgungsoptimierung angestrebt wird.
Auch die unter Managed Care getätigten Investitionen für Prävention und Gesundheitsförderung sind ohne Zweifel positive und aus der Perspektive der Patienten wünschenswerte Ansätze.
Managed Care basiert somit auf Ideen, die durchaus geeignete Alternativen oder wichtige Ergänzungen zu bisherigen Versorgungsformen sind. Ob diese konstruktiven Ansätze auch adäquat umgesetzt werden, hängt allerdings von der Strategie der jeweiligen Managed-Care-Organisationen ab. Die Erfahrungen, die diesbezüglich in den USA mit einigen gewinnorientierten Versorgungsanbietern gemacht wurden, sind jedoch nicht immer positiv [1] [23].
Abgesehen von der Frage der Versorgungsqualität scheint Managed Care aber auch kein Allheilmittel für die im Gesundheitswesen erwarteten Kostensteigerungen zu sein. So sehen sich viele Managed-Care-Organisationen in jüngster Zeit gezwungen, ihre rigiden Kostendämpfungsstrategien wieder aufzugeben, weil die Patienten sich zunehmend wehren und weniger Restriktionen beim Versorgungszugang fordern [24]. Dies hat zur Folge, dass dem amerikanischen Gesundheitswesen nach Jahren mit nur minimalen Kostensteigerungen nun wieder große Ausgabenerhöhungen vorausgesagt werden [1]. Auch in der Schweiz, die seit 1996 mit Health-Maintenance-Organization-Zentren und Hausarztmodellen Managed-Care-Elemente erprobt, sind die erhofften Kostensenkungen nicht oder nur vorübergehend eingetreten [25].
Umso wichtiger erscheint es jetzt für Deutschland, die offensichtlich schon lange geplante Einführung von Managed Care zu diskutieren und aus den Fehlern anderer Systeme zu lernen. Dies ist nicht möglich, solange Politiker und Krankenkassen neue Namen für alte Ideen erfinden und Leistungsanbietern wie Patienten häppchenweise Neuerungen in der Versorgungslandschaft vorsetzen, sie aber letztlich über das eigentliche Ziel der Veränderungen im Unklaren lassen. Es ist an der Zeit für eine konstruktive, aber auch kritische Diskussion, die über das Für und Wider von Disease-Management-Programmen, integrierter Versorgung und Hausarztmodellen hinausgeht und die künftige Struktur unseres Gesundheitsversorgungssystems thematisiert.
Gesundheitsökonomische Analysen sind hilfreich, um eine solche Diskussion mit objektiven Daten zu untermauern. Deshalb hat die Psychiatrische Praxis schon im letzten Jahr ein Themenheft herausgebracht, das gesundheitsökonomischen Fragestellungen gewidmet war [26] [27] [28] [29] [30]. Mit dem vorliegenden Themenheft soll das Engagement in diesem Bereich fortgesetzt und eine weitere Auseinandersetzung mit den ökonomischen Aspekten psychiatrischer Versorgung angeregt werden.
#Literatur
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Dr. med. Christiane RoickMPH
Universität Leipzig · Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
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