Mit einer Inzidenz von 1-2% ist die Schulterluxation eine häufige Verletzung und aufgrund
der entstehenden strukturellen Schäden für die Begutachtung von Relevanz. Im Allgemeinen
werden unter dem Begriff der Schulterinstabilität verschiedene Schweregrade von einer
schmerzhaften Hyperlaxität über die Subluxation bis hin zur Luxation zusammengefasst.
Klassifikationen der Schulterinstabilität
Klassifikationen der Schulterinstabilität
Dr. med. Dirk Böhm
Bislang gibt es keine allgemein akzeptierte Klassifikation der Schulterinstabilität,
da sich die oftmals vorliegenden Mischformen der Schulterinstabilität nicht in einer
Klassifikation vollständig abbilden lassen. Folgende Parameter sollten zur Beschreibung
herangezogen werden: Richtung, Dauer, Ausmaß, Ätiologie und Steuerung. Matsen et al.
(1990) unterscheiden ursächlich zwischen atraumatischer und traumatischer Schulterinstabilität,
sie haben die Akronyme AMBRI: (Atraumatisch Multidirektional Bilateral Rehabilitation
Inferiorer Kapselshift) und TUBS (Traumatisch Unidirektional Bankart-Läsion Surgery)
geprägt. Mischformen können mit dieser Klassifikation jedoch nicht erfasst werden.
Bayley (2002) sieht neben der Unterscheidung in eine traumatische und atraumatische
Genese der Instabilität, die muskuläre Dysbalance als dritten ätiopathologischen Faktor,
der für die Einteilung der Schulterinstabilität unbedingt berücksichtigt werden sollte.
Unter der muskulären Dysbalance versteht er eine gestörte Innervation der Schulter-
und Schultergürtelmuskulatur, die zu einer Positionsinstabilität führt. Pathologische
veränderte Kontraktionsabläufe und Kontraktionsstärken (EMG-Muster verändert) verhindern
eine koordinierte muskuläre Führung des Kopfes in der Pfanne. Dabei kann sowohl die
Positionierung der Skapula (M.-serratus-Fehlinneravation) als auch des Oberarms (M.-deltoideus-,
M.-pectoralis-, M.-latissimus-dorsi-Fehlinnervation) fehlgesteuert sein.
Abb. 1: Großer Hill-Sachs-Defekt (schwarzer Pfeil) mit Beteiligung des subchondralen Knochens
(Calandra III) im Arthro-MRT (transversaler Schnitt).
Bayley (2002) unterstreicht, dass seine Klassifikation nicht als starres System verstanden
werden soll, sondern dass Mischformen existieren. Es bestehen fließende Übergänge
zwischen den Formen traumatisch strukturell, atraumatisch strukturell und habituell
nichtstrukturell. In der Begutachtung entspricht die traumatisch strukturelle Form
nach Bayley ganz klar der posttraumatischen Instabilität und die habituell nichtstrukturelle
Form der anlagebedingten, atraumatischen Instabilität. Bei der atraumatisch strukturellen
Form ist sind traumatische und anlagebedingte Ursachen vorhanden, die konkurrierend
gewichtet werden müssen.
Begriffsdefinitonen
Begriffsdefinitonen
Schulterinstabilität: Unfähigkeit, den Humeruskopf zentriert in der Fossa glenoidalis
zu halten.
Laxität: Die normale, physiologische Gelenktranslation, die benötigt wird, um die
physiologischen Bewegungsumfänge ausführen zu können.
Hyperlaxität: Die über das physiologische Maß hinausgehende, gesteigerte Translation
eines Gelenks, welche klinische Symptome hervorrufen kann.
Subluxation: Die vermehrte, pathologische Translation unter Belastung ohne kompletten
Kontaktverlust zwischen Humeruskopf und Glenoid, die sich spontan bei Nachlassen der
die Subluxation auslösenden Belastung reponiert.
Schulterluxation: Kompletter und permanenter Kontaktverlust zwischen Humeruskopf und
Glenoid.
Chronisch rezidivierende Schulterluxation: Entwickelt sich in einigen Fällen aus der
ersten traumatischen Schulterluxation.
Habituelle Schulterluxation: Der Begriff habituell kann sowohl "rezidivierend" als
auch "willkürlich" bedeuten und sollte daher nicht verwendet werden.
Willkürliche Schulterluxation: Die Patienten können in bestimmten Positionen ihre
Schulter luxieren und auch selbst wieder reponieren.
Wichtige anamnestische Gesichtspunkte
Wichtige anamnestische Gesichtspunkte
Besonders wichtig ist es die Art (direkt oder indirekt) und die Intensität des Traumas
(vor allem bei der Erstluxation) zu erfragen. Die Informationen, welche Position der
Arm während Luxationszeit innehatte, sowie Art der Reposition (spontan, durch Fremdhilfe,
unter Narkose) können ebenfalls wertvolle Hinweise geben. Ein auf einem Röntgenbild
dokumentierte Luxation gibt klare Informationen über die Luxationsrichtung. Besonders
wichtig ist auch ein zeitnah dokumentierter ärztlicher Befundbericht. Hilfreich ist
auch eine kurz nach der Luxation durchgeführte MRT-Untersuchung, welche oft durch
die intraartikuläre Blutansammlung eine Aussagekraft wie eine Arthro-MRT-Untersuchung
hat. Gleichzeitig kann auch das reaktive Knochenmarksödem (bone-bruise) im Humeruskopf
dargestellt werden. Für die Begutachtung sind natürlich auch die Anamnese für den
Zeitraum vor der Erstluxation, sowie der weitere Verlauf nach der ersten Luxation
(erneute Luxationen und deren Auslösemechanismen, Subluxationsphänomene) wichtig.
Hat eine operative Versorgung stattgefunden, ist der Operationsbericht von entscheidender
Bedeutung, in ihm sollten die Befunde der Narkoseuntersuchung beider Seiten sowie
die intraoperativ gefundenen Gelenkschäden klar festgehalten sein. Der Verlauf nach
der operativen Versorgung muss ebenfalls genau erfragt werden, ist es erneut zu Luxationen
oder zu einer Bewegungseinschränkung gekommen.
Abb. 2: Frische Bankart-Läsion (weißer Pfeil) und Knochenmarksödem (schwarzer Pfeil) des
dorsalen Humeruskopfes im transversalen MRT-Schnitt (2 Tage nach Erstluxation, der
Hämarthros wirkt als intraartikuläres Kontrastmittel).
Abb. 3: Knöcherne Bankart-Läsion (schwarzer Pfeil) im a.-p. Röntgenbild.
Verlauf nach der ersten Luxation
Wichtig ist es festzustellen, ob es sich zum Zeitpunkt der Begutachtung um einen Zustand
nach einmaliger Luxation, um rezidivierende Luxationen, um einen stabilen Zustand
nach operativer Stabilisierung oder um eine rezidivierende Instabilität nach operativer
Stabilisierung handelt.
Abb. 4: Luxationsfraktur mit knöchernem Ausriss der Rotatorenmanschette (weißer Pfeil) im
a-p. Röntgenbild.
Wichtige klinische Tests im Rahmen der Begutachtung
Wichtige klinische Tests im Rahmen der Begutachtung
Im Folgenden werden einige der im Rahmen der Begutachtung klinisch wichtigen Untersuchungen
aufgeführt.
Untersuchung des Gelenkspiels und der allgemeinen Bandlaxität:
-
Sulcuszeichen
-
Vordere (Leffert) und hintere (Fukuda) Translation
-
Generelle Laxität mit Überstreckbarkeit in anderen Gelenken (z.B. Ellbogen, Daumen,
Finger)
-
Neurologische Untersuchung (N. axillaris, N. musculocutaneus)
-
Untersuchung der Instabilitätszeichen
-
Vorderer und hinterer Apprehensiontest in unterschiedlichen Abduktionsstellungen zur
differenzierten Beurteilung der einzelnen Kapsel-Band-Strukturen (Cofield 1987).
-
Hyperabduktionstest nach Gagey (2001) zur Beurteilung des inferioren glenohumeralen
Bandes.
-
Fulcrum- oder Jerk-Test
-
Relocation Test nach Jobe (1989)
-
Load and Shift Test nach Hawkins (1990), der jedoch häufig bei wachen Patienten niedrigere
Werte zeigt als beim in Narkose liegenden Patienten.
Bei einer posttraumatischen Schulterinstabilität zeigt sich in der Regel ein positives
Apprehension-Zeichen, ein positiver Relocation-Test oder ein positiv Fulcrum-Test.
Bei vorliegender Hyperlaxität findet sich bei der klinischen Untersuchung beidseits
häufig ein positives Sulkuszeichen, eine vermehrte a.-p. Translation, oder ein pathologischer
Gagey-Test. Alle klinischen Tests sind natürlich im Zusammenhang mit den Veränderungen
in der Bildgebung zu bewerten.
Verletzungen, die im Zusammenhang mit Schulterinstabilitäten entstehen können:
Hill-Sachs-Läsion
Eine traumatische Luxation führt zu einer posterosuperioren Impressionsfraktur des
Humeruskopfes durch den vorderen unteren Glenoidrand, dem Hill-Sachs-Defekt. Dieser
Hill-Sachs-Defekt ist immer mit einer strukturellen Läsion des vorderen unteren Pfannenrandes
vergesellschaftet.
Die Größe des Defektes hängt auch von der vorliegenden Laxität ab, so zeigen Patienten
mit einer generalisierten Hyperlaxität bei der Erstluxation keinen oder nur einen
kleinen Hill-Sachs-Defekt. Dies ist speziell in der Begutachtung von Interesse. Die
Größe des Defektes wird nach Calandra (1989) in 3 Schweregrade eingeteilt:
Grad I:
Defekt der Gelenkfläche ohne Beteiligung des subchondralen Knochens
Grad II:
Gelenkflächendefekt mit Beteiligung des subchondralen Knochens
Grad III:
großer Defekt des subchondralen Knochens (Abb. [1]).
Analog entsteht bei einer hinteren Schulterluxation eine anterosuperiore Impressionsfraktur
des Humeruskopfes, die sog. reversed Hill-Sachs-Läsion . Diese geht korrespondierend
mit einer strukturellen Läsion des hinteren unteren Pfannenrandes einher.
Läsionen des unteren Glenoidrandes und des Kapsel-Labrum-Komplexes
Die klassische Bankart-Läsion (Bankart 1923) (Abb. [2]) bezeichnet eine Kontinuitätsunterbrechung zwischen Knorpel und Labrum. Es gibt
jedoch einige unterschiedliche Verletzungsformen die Kapsel und/oder Labrum in unterschiedlicher
Ausprägung betreffen (Habermeyer 2004). Bei einer knöchernen Bankart-Läsion (Abb.
[3]) ist der Kapsel-Labrum-Komplex zusammen mit einem knöchernen Anteil des Glenoids
abgerissen. In einzelnen Fällen kann es auch zu einer HAGL-Läsion (Humeral Avulsion
of Glenohumeral Ligaments) kommen.
Abb. 5 : Verbreiterter glenohumeraler Gelenkspalt im a.-p. Röntgenbild (schwarze Pfeile)
bei Interposition von Rotatorenmanschettenanteilen ins Glenohumeralgelenk nach traumatischer
Schultererstluxation.
Häufige zusätzlich vorkommende Verletzungen:
Rotatorenmanschettenrupturen
Etwa ab dem 40. Lebensjahr kommt es bei der traumatischen Schulterluxation zu einer
erhöhten Inzidenz von Rotatorenmanschettenrupturen. Bei 40-jährigen Patienten liegt
die Häufigkeit von begleitenden Rotatorenmanschettenrupturen bereits bei 30%, bei
Patienten über 60 Jahren steigt die Häufigkeit auf 70% an (Loew 2001).
Eine begleitende Ruptur der Subskapularissehne sollte aufgrund ihrer zentralen Bedeutung
für die dynamische Stabilität und ihrer schnell eintretenden Retraktion frühzeitig
rekonstruiert werden (Gohlke 2002).
Knöcherne Ausrisse der Rotatorenmanschette (Abb. [4]) sind beweisend für ein traumatisches Geschehen.
SLAP-Läsionen (Snyder 1990)
Bei zusätzlicher Ausdehnung der anteroinferioren Labrumablösung bis in den Bizepsanker
hinein kann es zusätzlich zu einer Instabilität des superioren Labrums (SLAP 3) oder
der langen Bizepssehne (SLAP 4) kommen. Maffet (1995) beschrieb 3 weitere Typen die
nicht in der Klassifikation von Snyder (1990) erfasst wurden.
Die für die SLAP-Läsion beschriebenen klinischen Untersuchungstests wie z.B. OŽBrien,
Speed, Yergason, Mimory oder Kim beschreiben, sind leider nicht wirklich spezifisch,
können aber manchmal einen wichtigen diagnostischen Hinweis liefern.
Glenoidfrakturen
Bei einer sehr großen Gewalteinwirkung kann es im Rahmen einer Schulterluxation auch
zu Glenoidfrakturen kommen, die bei einer Gelenkstufe von 2 mm operativ stabilisiert
werden sollten. Eine ganz eindeutige Abgrenzung von knöchernen Bankart-Läsionen und
Glenoidfrakturen ist in der Literatur bisher nicht getroffen worden. Bigliani (1998)
hat Glenoid-Rand-Läsionen in die Typen I, II, III A und B eingeteilt, wobei Typ III
B mit einem Glenoiddefekt von >25% einhergeht und einer zusätzlichen knöchernen Stabilisierung
bedarf (Gohlke 2002). Ideberg (1994) hat in seiner Klassifikation von Gle-noidfrakturen
einen Typ I A mit ventralem und einen Typ I B mit dorsalem Glenoidkantenbruch unterschieden.
Der Typ III nach Bigliani entspricht in etwas dem Typ I nach Ideberg.
Einige bildgebende Kriterien, die eindeutig für eine traumatische Ursache sprechen:
-
Knöcherne Bankart-Läsion oder Glenoidfraktur (Abb. [3])
-
Verhakte vordere oder hintere Luxation
-
Knöcherner Ausriss von Anteilen der Rotatorenmanschette (Abb. [4])
-
Interposition von abgerissenen Rotatorenmanschettenanteilen ins Glenohumeralgelenk
(Abb. [5])
-
Große Hill-Sachs-Läsion (Calandra Typ III) (Abb. [1])
Einige bildgebende Kriterien, die in der Regel für eine traumatische Ursache sprechen:
Abb. 6 : Fortgeschrittene Omarthrose 12 Jahre nach Weber-Drehosteotomie (a.-p. Röntgenbild).
-
Labrumabriss im Arthro-MRT (Abb. [2]), oder Arthro-CT (in Standard- MRT- oder CT-Untersuchung ist die Labrumpathologie
nicht immer wirklich exakt darstellbar)
-
Begleitende Rotatorenintervalläsion oder Rotatorenmanschettenruptur
-
Dislozierte SLAP-Läsion im Arthro-MRT
-
Mittlere Hill-Sachs-Läsion mit Beteiligung des subchondralen Knochens (Calandra Typ
II)
Einige intraoperative Kriterien, die für eine traumatische Ursache sprechen:
-
Keine Instabilität der Gegenseite bei der Narkoseuntersuchung
-
Abgerissener Kapsel-Labrum-Komplex
-
Ausdehnung des Risses vom anteroinferioren Kapsel-Labrum-Komplex bis in den Bizepsanker
mit Instabilität des superioren Labrums (SLAP 3) oder der langen Bizepssehne (SLAP
4).
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Große Hill-Sachs-Läsion
-
HAGL-Läsion
Notwendige bildgebende Diagnostik im Rahmen der Begutachtung
Es sollten Röntgenaufnahmen der Schulter in 3 Ebenen erfolgen: a.-p., axial (oder
Bernageau), Y-Aufnahme. Eine sonographische Untersuchung der Rotatorenmanschette sowie
des Humeruskopfes (Hill-Sachs-Delle) komplettiert die Standardbildgebung. MRT- oder
CT-Aufnahmen sind nur in Sonderfällen notwendig, sollten dann aber mit intraartikulärer
Kontrastmittelgabel erfolgen (Arthro-MRT oder -CT).
Anforderungen an eine standardisierte Begutachtung
Anforderungen an eine standardisierte Begutachtung
Insbesondere ist es von Bedeutung, den Unfallmechanismus exakt zu klären sowie konkurrierende
Faktoren zu hinterfragen und zu berücksichtigen. Es sollten die Berichte der erstbehandelnden
Ärzte sowie möglichst alle bildgebenden Untersuchungen im Original vorliegen. Die
klinischen Tests sowohl für eine traumatische als auch eine atraumatische Instabilität
sollten beidseits untersucht werden. Die Bewegungsumfänge sowie die Umfangsmaße der
oberen Extremität müssen erfasst werden. Durch aktuelle Röntgenbilder der Schulter
in 3 Ebenen sowie eine sonographische Untersuchung der Rotatorenmanschette und des
Humeruskopfes soll der aktuelle Befund komplettiert werden.
Gutachterliche Einstufung der MdE und der Gliedertaxe
Nach Klärung der traumatischen und/oder atraumatischen Genese anhand der erhobenen
Anamnese und der aktuellen Befunde muss der prozentuale Anteil unfallabhängiger und
unfallunabhängiger Schäden festgelegt werden. Es muss festgestellt werden, ob und
in welchem Ausmaß noch eine Instabilität vorliegt oder ob es zu einer Bewegungseinschränkung
gekommen ist. Bei noch vorliegender Instabilität kann abhängig von dem Ausmaß und
der Häufigkeit der Luxationen eine MdE von 10-40% gegeben werden. Liegt zusätzlich
eine, durch die Luxation hervorgerufene, bleibende Nervenläsion vor, so ist diese
anteilig zu berücksichtigen und kann die MdE entsprechend erhöhen.
Eine stabile Schulter ohne Bewegungseinschränkungen und Schmerzen hat keine MdE zur
Folge.
Liegen postoperative Bewegungseinschränkungen vor, so richtet sich die MdE nach deren
Ausmaß, und liegt zwischen 10 und 30%. Bei Ausbildung einer Instabilitätsarthrose
oder einer Arthrose nach operativer Stabilisierung (Abb. [6]), ist abhängig von deren Aus-maß, eine MdE von 10-40% möglich.
Die Einstufung nach der Gliedertaxe folgen in etwa den gleichen Kriterien und können
zwischen 1/20 und 1/2 des Armwertes liegen.
Dr. med. Dirk Böhm
Orthopädische Universitätsklinik Würzburg
König-Ludwig-Haus