Aktuelle Urol 2004; 35(6): 455-459
DOI: 10.1055/s-2004-835731
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zytennieren - Hereditäre Formen zunehmend besser charakterisiert

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Publication Date:
17 November 2004 (online)

 
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Die polyzystische Nierendegeneration ist eine der Hauptursachen für ein terminales Nierenversagen, wobei eine kurative Behandlung derzeit nicht möglich ist. Man unterscheidet mehrere Typen der Erkrankung. Die meisten sind erblicher Natur. In einem Übersichtsartikel von Patricia D. Wilson, New York, wurden gegenwärtig bekannte Krankheitsformen, ihre Entstehungsmechanismen, sowie potenzielle Therapiestrategien beschrieben (New Engl J Med 2004; 350: 151-164).

Die häufigste vererbbare Form einer Zystenniere ist mit etwa 1:800 Lebendgeburten die autosomal dominante Zystennierenerkrankung (ADPKD). In den USA bzw. Europa sind 7-10% aller hämaodialysepflichtigen Personen ADPKD-Patienten. Die Erkrankung wird durch veränderte Membranproteine verschuldet, die sich im Nephronepithel befinden. Polycystin-1, das Genprodukt von PKD1, ist ein Membranrezeptorprotein, das mit zahlreichen löslichen Proteinen, Kohlenhydraten und Lipiden interagiert und intrazelluläre Signaltransduktionsketten über Phosphorylierungsreaktionen auslöst. Bei dem von PKD2 kodierten Polycystin-2 handelt es sich dagegen wahrscheinlich um ein Kalziumkanal-ähnliches Eiweiß. Zu 85-90% (ADPKD Typ I) beruht die Erkrankung auf einer Mutation von PKD1, in selteneren Fällen (ADPKD Typ II) auf einer Mutation im PKD2-Gen. Beide Typen zeigen ähnliche Krankheitsbilder, wobei bei Typ II die Symptome später einsetzen und meist milder verlaufen.

Die autosomal rezessive Form der hereditäten Zystennierenerkrankung ARPKD ist mit etwa 1:20.000 Neugeborenen sehr viel seltener als die ADPKD. Bei dieser auch als infantilem Typ beschriebenen Erkrankung sind grundsätzlich beide Nieren betroffen. Meist tritt der Tod bereits intrauterin oder binnen weniger Stunden postnatal ein. Als verantwortliche genetische Veränderung wurden Mutationen im PKHD1-Gen identifiziert, dessen Genprodukt Fibrocystin ein transmembranäres Protein darstellt, das extrazellulär Immunglobulin-ähnliche Strukturen aufweist.

Unter den medullären Zystennierensyndromen, die im Gegensatz zu ADPKD und ARPKD bevorzugt von distalen Nephronsegmenten ausgehen, ist die wichtigste Form die rezessive juvenile Nephronophthise. Als Gendefekt wurde eine Mutation im NPH1-Gen identifiziert, was einen funktionellen Verlust von Nephrocystin zur Folge hat. Bei diesem handelt es sich um ein intrazelluläres Protein, das wahrscheinlich für die Integrität der zellulären Matrix innerhalb renalen Tubuli bedeutsam ist.

Durch die wachsende Kenntnis über genetische und molekulare Zusammenhänge bei der Pathogenese erblicher Zystennierenerkrankungen richtet sich das Augenmerk zunehmend auf potenzielle molekulare bzw. gentherapeutische Therapien. Vielversprechend, so Wilson, sind dabei vor allem Ansätze bei ADPKD-Erkrankungen, da sie durch ihre langsame Progredienz ein vergleichsweise großes zeitliches Fenster für eine Intervention zeigen. Beispiele seien etwa Therapien mit EGF-Rezeptoren oder Tyrosinkinase-Inhibitoren. Bei rascher progredienten Formen sei die Herausforderung größer, zumal die Behandlung während der Entwicklungsphase erfolgen müsse.

Dr. Katrin Appel, Essen

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Erster Kommentar

In einem sehr informativen Review-Artikel hat Patricia D. Wilson im Januar 2004 im New England Journal of Medicine klinische, molekularbiologische und molekulargenetische Aspekte zystischer Nierenerkrankungen zusammengefasst. Sie berichtet vor allem über hereditäre Formen zystischer Nierenerkrankungen: über die autosomal dominante polyzystische Nierenerkrankung (ADPKD) als häufigste Ursache einer vererbaren Niereninsuffizienz bei Erwachsenen (Inzidenz: etwa 1:800 bis 1:1000), die autosomal rezessive polyzystische Nierenerkrankung (ARPKD) (etwa 1:20.000 bis 1:40.000) und über die autosomal rezessiv vererbte Nephronophthise, die im Kindesalter die häufigste angeborene Ursache einer Niereninsuffizienz ist.

Vererbbare zystische Nierenerkrankungen sind primär charakterisiert durch eine gestörte Entwicklung der tubulären Morphologie. Während bei der ADPKD Zysten in allen Teilen des Nephrons (auch in den Sammelrohren) entstehen, zeigen sich bei der ARPKD Zysten primär nur in den Sammelrohren und bei der Nephronophthise zystische Tubuluserweiterungen an der Grenze zwischen Nierenrinde und Nierenmark. Zusätzlich entwickelt sich vor allem bei der Nephronophthise frühzeitig eine tubulointersitielle Fibrose. Bei allen hereditären Zystennieren-Erkrankungen finden sich extrarenale Veränderungen. Bei der ADPKD werden Zysten auch in anderen Organen (Leber, Gehirn) nachgewiesen, außerdem können zerebrale und aortale Aneurysmen auftreten. Etwa 50% der Neugeborenen mit ARPKD sind nicht lebensfähig und sterben nach Geburt. Kinder mit einer milderen Ausprägung der Erkrankung entwickeln frühzeitig eine zum Teil extreme arterielle Hypertonie und im Verlauf der Kindheit eine zunehmende Leberfibrose, die bei allen Patienten mit ARPKD nachweisbar ist, klinisch aber sehr unterschiedlich manifest werden kann. In einzelnen Fällen ist eine kombinierte Leber- und Nierentransplantation (meist im 2. Lebensjahrzehnt) erforderlich. Bei der Nephronophthise können extrarenal Veränderungen am Auge, im ZNS, am Skelett und in der Leber auftreten.

Die Pathogenese der tubulären Zystenbildung ist sehr komplex und in ihren Einzelheiten noch nicht genau geklärt. Gestörte Zilienfunktionen spielen sehr wahrscheinlich eine bedeutsame Rolle.

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Fehlbildungen der Niere: Zystennieren (Bild: Urologie, Thieme, 2002).

Alle tubulären Nierenepithelzellen tragen ein primäres, nicht bewegliches Zilium. Diese Zilien spielen eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung zwischen Extra- und Intrazellulärraum und reagieren vor allem auf mechanische, aber auch auf chemische Reize. Die primären Zilien von tubulären Nierenepithelzellen sind offenbar besonders wichtig in ihrer Funktion als Mechanosensoren für den Urinfluß. Zudem haben die Zilien möglicherweise eine Kontrollfunktion für die Proliferation, Adhäsion und Migration von tubulären Epithelzellen. Die Polyzystine bei der ADPKD, Fibrozystin bei der ARPKD und Nephrozystin und Integrin bei der Nephronophthise sind Bestandteil komplexer Proteine und lassen sich in Zilien oder in Verbindung mit Zilien nachweisen. Mutationen mit Funktionsverlust dieser Proteine führen offenbar zu einer Dysfunktion von Zilien und sind mitverantwortlich für die Entwicklung von Zysten. Die häufigste Form der ADPKD, hervorgerufen durch ein nicht funktionsfähiges Polycystin-1-Protein, führt zu Veränderungen von Zelladhäsionen, der Zellmatrix, Interaktionen an der Zelloberfläche und Störungen von Signaltransduktionen. So ist bei der ADPKD nachgewiesen worden, dass die Entwicklung von Zysten mit der Bildung von Divertikeln des Tubulus durch vermehrte Proliferation von Epithelzellen beginnt, dann verliert das wachsende Divertikel den Kontakt zum Tubulus und schließlich wächst die sich bildende Zyste und füllt sich mit Flüssigkeit.

Zudem wird diskutiert, dass bei der ADPKD eine Imbalanz zwischen Proliferation von Tubulusepithelzellen und Apoptose dieser Zellen besteht. Folge ist eine pathologische Proliferation von Epithelzellen in den sich entwickelnden Zysten. Epidermal growth factor (EGF) spielt eine große Rolle bei der Proliferation von Epithelzellen. Eine Überexpression von EGF-Rezeptoren bei Zystennieren wurde beschrieben. Inzwischen sind spezifische Inhibitoren dieser EGF-Rezeptoren entwickelt worden und werden in Phase-1- und Phase-2-Studien bei Erwachsenen mit ADPKD geprüft. Ziel ist eine Verlangsamung des Wachstums der Zysten in der Hoffnung, dass dadurch die Progression der Niereninsuffizienz aufgehalten werden kann.

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Nierenanomalien: oben: Urogramm einer autosomal-dominanten polyzystischen Nephropathie Unten: Zystenruptur, Oprationspräparat (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).

So faszinierend die Erkenntnisse und die Diskussion über die molekularen Mechanismen zystischer Nierenerkrankungen auch sind: Neue Therapieansätze sind noch nicht erkennbar.

Die Suche nach neuen therapeutischen Möglichkeiten, die sich durch diese interessanten Forschungsergebnisse ergeben könnten, soll in keiner Weise infrage gestellt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt bedeutsam ist jedoch die sorgfältige Betreuung von Patienten und deren Familien, insbesondere bei den häufigen ADPKD- Patienten (1:800 - 1:1000). Hierzu zählt vor allem die frühe und konsequente Erkennung einer arteriellen Hypertonie, die - schlecht oder gar nicht behandelt - einen wesentlichen Progressionsfaktor für den Nierenfunktionsverlust darstellt!

Eine sorgfältige genetische Beratung muss bei betroffenen Familien empfohlen werden: In manchen Familien ist das Vererbungsrisiko nicht eindeutig bekannt. Die ADPKD kann bereits im Kindesalter manifest werden, sie gilt aber (fälschlicherweise) als eine Erkrankung des Erwachsenen. Kinder in betroffenen Familie können durch Ultraschalluntersuchung als Anlageträger in vielen Fällen frühzeitig entdeckt werden. Alle diese Patienten müssen in regelmäßigen Abständen umfassend untersucht werden, um renale, aber auch extrarenale Komplikationen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

Dr. Eberhard Kuwertz-Bröking, Münster

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Zweiter Kommentar

Mit der Lupe

Die Übersichtsarbeit von Patricia Wilson beschreibt ausführlich aktuelle Forschungsfortschritte, die auf dem Gebiet der Genetik und Pathophysiologie hereditärer Zystennierenerkrankungen in den letzten Jahren erzielt wurden. Dabei wird deutlich, welch großen Beitrag die Identifizierung der zugrunde liegenden Gendefekte für derzeitige Erklärungskonzepte zur Zystenentstehung geleistet hat. Die ursprünglich anhand ihrer Makroanatomie und Klinik unterschiedenen Formen der Zystennieren lassen sich nun in weitere genetische Untergruppen unterteilen. So unterscheiden wir heute die autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung (ADPKD), die durch Mutationen in PKD1 verursacht wird, von der ADPKD, die auf Mutationen in PKD2 zurückzuführen ist. Dies ist nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern hat eine unmittelbare Bedeutung für den Patienten. Vergleichende Untersuchungen konnten zeigen, daß PKD1-Mutationsträger einen deutlich schwereren Krankheitsverlauf aufweisen als PKD2- Patienten. Interessanterweise gibt es "digenisch" betroffene Patienten mit Mutationen in beiden Genen und einem aggravierten Krankheitsbild. Sowohl PKD1 als auch PKD2 kodieren für Proteine (Polycystin-1 und 2), deren Funktionen zunächst unbekannt waren, und viel Forschungsarbeit wurde auf die Charakterisierung ihrer Struktur und Funktion verwendet. Heute wissen wir, dass die Proteine Polycystin-1 und 2 zu ganz unterschiedlichen Proteinfamilien gehören: Polycystin-1 ist ein großes Protein mit vielen Transmembrandomänen, einem kurzen intrazellulären Anteil, der für die Aktivierung intrazellulärer Signalkaskaden verantwortlich gemacht wird, und einem langen extrazellulären Anteil, der zahlreiche Domänen zeigt, die für Protein-Protein-Interaktionen von Bedeutung sind. Polycystin-2 dagegen ähnelt einem Kationenkanal mit Calcium-leitendenden Eigenschaften. Interessanterweise können Polycystin-1 und 2 miteinander interagieren und sind so an der Formation von Multi-Proteinkomplexen an fokalen Adhäsionen und Zell-Zell-Kontakten beteiligt. Dort spielen sie eine wesentliche Rolle für die Mechanosensation an der Zellaußenseite und für die Weiterleitung dieser Signale an das Zellinnere. Hierdurch werden wichtige Prozesse der Tubulusformation beeinflusst, wie Zellproliferation, Adhäsion und Migration, und somit der Tubulusdurchmesser reguliert.

Und je weiter diese Forschungsbemühungen zielen, desto mehr und mehr bewegen wir uns weg von dem makroskopischen Blick hin zu einer Detailaufnahme der zystenauskleidenden epithelialen Zellen mit ihren Zell-Zell-Kontakten, Zell-Matrix-Interaktionen und den Verbindungen von der Zellaußenseite zur intrazellulären Sig- nalkaskadenmaschinerie. Der Betrachter entwickelt einen Lupenblick, immer weiter hinein ins Zysten- und Zellinnere.

Wir bekommen den Eindruck, dass die Forschungsgemeinschaft am Anfang steht, neue Erklärungskonzepte zur Zystenentstehung zu entwickeln.

Weitere Proteine wurden identifiziert, die in Patienten mit zystischen Nierenerkrankungen verändert sind. Nephrocystin ist ein intrazelluläres Protein, das in Patienten mit juveniler Nephronophthise (einer medullär-zystischen Erkrankung des Kindes- und Jugendalters) verändert bzw. verlorenen ist. Es bindet an fokale Adhäsionsproteine, ist Teil des Polycystin-Multi-Proteinkomplexes an der Zellmembran, aktiviert intrazelluläre Signalkaskaden und ist letztendlich an der Ausbildung der Tubulusgeometrie beteiligt. Fibronectin, mutiert in Patienten mit autosomalrezessiver Zystennierenerkrankung (ARPKD), ist ein riesiges membranäres Molekül von mehr als 400 kD Größe. Strukturvergleiche deuten auf Ähnlichkeiten mit Membranrezeptoren hin. Der lange Extrazelluläranteil zeigt viele Protein-Protein-Bindungsmotive, der intrazellulär gelegene Proteinanteil dagegen die für die Aktivierung von Signalkaskaden wichtige Phosphorylierungsstellen. Interessanterweise finden sich Fibronectin, Nephrocystin, und auch Polycystin-1 und 2 in gemeinsamer Lokalisierung mit den Basalkörpern der Primärzilien, die auf zystenauskleidenden Epithelzellen identifiziert wurden. Zilien sind ins Zentrum der Zystenforscher gerückt. Bereits vor vielen Dekaden entdeckt, verblieb die Funktion dieser Zellorganelle auf nichtmotilen Tubuluszellen weitgehend im Verborgenen. Nun mehren sich die Hinweise, dass Zilien für die Tubuluzelle von entscheidender Bedeutung sind, eine überraschende Erkenntnis für die Zystenforscher. Eine Rolle in der Sensation von Flüssigkeitsströmen wird diskutiert. Darüber hinaus scheint die Ausbildung von zystischen Strukturen in der Niere eng mit einer Ziliendysfunktion verknüpft. Bestimmte Mäusestämme, die klinisch das Krankheitssbild der ARPKD zeigen, demonstrieren anormale tubuläre Zilienstrukturen mit deutlichem Funktionsverlust. In diesen Mäusen sind die Proteine Cystin und Polaris genetisch verändert und beide Proteine koloklisieren mit Fibronectin und Polycystin-1 und 2 an den Basalkörpern der tubulären Zilien. Mutationen in Inversin wurden in Patienten mit infantiler Nephronophthise identifiziert. Auch Inversin kolokalisiert mit den Basalkörpern der Primärzilien auf renalen Tubuluszellen und es interagiert mit Nephrocystin. Einige der betroffenen Patienten zeigen neben der Zystennierenerkrankung eine Störung der Links- Rechts-Determinierung mit Ausbildung eines Situs inversus. Gleiches beobachtet man in Mäusen und Zebrafischen mit Inversin-knock out. Auch PKD2 scheint eine wesentliche Rolle für die Links- Rechts-Determinierung zu spielen. In Mäusen mt PKD2-knock out findet sich ebenfalls ein Situs inversus in einem nicht unerheblichen Prozentsatz der Tiere. Diese Beobachtung stützen in ihrer Summe die Annahme, dass eine enge funktionelle Verbindung besteht zwischen der Zilienfunktion, der Zystenentstehung und der Links-Rechts-Determinierung. Das Phänomen der Mechanosensation scheint hier im Zentrum der Pathophysiologie zu stehen. Auch andere Organsysteme können von zystischer Umwandlung bei Dysfunktion ziliärer Proteine betroffen sein.

Wir bekommen den Eindruck, dass die Forschungsgemeinschaft am Anfang steht, neue Erklärungskonzepte zur Zystenentstehung zu entwickeln. Und je mehr wir mit der Lupe uns dem Zellinneren nähern, desto komplexer erscheint uns die Zelle in ihrer Funktion. Es werden viele Fragen beantwortet und immer wieder neue Fragen aufgeworfen.

Dr. Stefanie Weber, Heidelberg

Literatur bei der Autorin

 
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Fehlbildungen der Niere: Zystennieren (Bild: Urologie, Thieme, 2002).

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Nierenanomalien: oben: Urogramm einer autosomal-dominanten polyzystischen Nephropathie Unten: Zystenruptur, Oprationspräparat (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).