Die polyzystische Nierendegeneration ist eine der Hauptursachen für ein terminales
Nierenversagen, wobei eine kurative Behandlung derzeit nicht möglich ist. Man unterscheidet
mehrere Typen der Erkrankung. Die meisten sind erblicher Natur. In einem Übersichtsartikel
von Patricia D. Wilson, New York, wurden gegenwärtig bekannte Krankheitsformen, ihre
Entstehungsmechanismen, sowie potenzielle Therapiestrategien beschrieben (New Engl J Med 2004; 350: 151-164).
Die häufigste vererbbare Form einer Zystenniere ist mit etwa 1:800 Lebendgeburten
die autosomal dominante Zystennierenerkrankung (ADPKD). In den USA bzw. Europa sind
7-10% aller hämaodialysepflichtigen Personen ADPKD-Patienten. Die Erkrankung wird
durch veränderte Membranproteine verschuldet, die sich im Nephronepithel befinden.
Polycystin-1, das Genprodukt von PKD1, ist ein Membranrezeptorprotein, das mit zahlreichen
löslichen Proteinen, Kohlenhydraten und Lipiden interagiert und intrazelluläre Signaltransduktionsketten
über Phosphorylierungsreaktionen auslöst. Bei dem von PKD2 kodierten Polycystin-2
handelt es sich dagegen wahrscheinlich um ein Kalziumkanal-ähnliches Eiweiß. Zu 85-90%
(ADPKD Typ I) beruht die Erkrankung auf einer Mutation von PKD1, in selteneren Fällen
(ADPKD Typ II) auf einer Mutation im PKD2-Gen. Beide Typen zeigen ähnliche Krankheitsbilder,
wobei bei Typ II die Symptome später einsetzen und meist milder verlaufen.
Die autosomal rezessive Form der hereditäten Zystennierenerkrankung ARPKD ist mit
etwa 1:20.000 Neugeborenen sehr viel seltener als die ADPKD. Bei dieser auch als infantilem
Typ beschriebenen Erkrankung sind grundsätzlich beide Nieren betroffen. Meist tritt
der Tod bereits intrauterin oder binnen weniger Stunden postnatal ein. Als verantwortliche
genetische Veränderung wurden Mutationen im PKHD1-Gen identifiziert, dessen Genprodukt
Fibrocystin ein transmembranäres Protein darstellt, das extrazellulär Immunglobulin-ähnliche
Strukturen aufweist.
Unter den medullären Zystennierensyndromen, die im Gegensatz zu ADPKD und ARPKD bevorzugt
von distalen Nephronsegmenten ausgehen, ist die wichtigste Form die rezessive juvenile
Nephronophthise. Als Gendefekt wurde eine Mutation im NPH1-Gen identifiziert, was
einen funktionellen Verlust von Nephrocystin zur Folge hat. Bei diesem handelt es
sich um ein intrazelluläres Protein, das wahrscheinlich für die Integrität der zellulären
Matrix innerhalb renalen Tubuli bedeutsam ist.
Durch die wachsende Kenntnis über genetische und molekulare Zusammenhänge bei der
Pathogenese erblicher Zystennierenerkrankungen richtet sich das Augenmerk zunehmend
auf potenzielle molekulare bzw. gentherapeutische Therapien. Vielversprechend, so
Wilson, sind dabei vor allem Ansätze bei ADPKD-Erkrankungen, da sie durch ihre langsame
Progredienz ein vergleichsweise großes zeitliches Fenster für eine Intervention zeigen.
Beispiele seien etwa Therapien mit EGF-Rezeptoren oder Tyrosinkinase-Inhibitoren.
Bei rascher progredienten Formen sei die Herausforderung größer, zumal die Behandlung
während der Entwicklungsphase erfolgen müsse.
Erster Kommentar
Erster Kommentar
In einem sehr informativen Review-Artikel hat Patricia D. Wilson im Januar 2004 im
New England Journal of Medicine klinische, molekularbiologische und molekulargenetische
Aspekte zystischer Nierenerkrankungen zusammengefasst. Sie berichtet vor allem über
hereditäre Formen zystischer Nierenerkrankungen: über die autosomal dominante polyzystische
Nierenerkrankung (ADPKD) als häufigste Ursache einer vererbaren Niereninsuffizienz
bei Erwachsenen (Inzidenz: etwa 1:800 bis 1:1000), die autosomal rezessive polyzystische
Nierenerkrankung (ARPKD) (etwa 1:20.000 bis 1:40.000) und über die autosomal rezessiv
vererbte Nephronophthise, die im Kindesalter die häufigste angeborene Ursache einer
Niereninsuffizienz ist.
Vererbbare zystische Nierenerkrankungen sind primär charakterisiert durch eine gestörte
Entwicklung der tubulären Morphologie. Während bei der ADPKD Zysten in allen Teilen
des Nephrons (auch in den Sammelrohren) entstehen, zeigen sich bei der ARPKD Zysten
primär nur in den Sammelrohren und bei der Nephronophthise zystische Tubuluserweiterungen
an der Grenze zwischen Nierenrinde und Nierenmark. Zusätzlich entwickelt sich vor
allem bei der Nephronophthise frühzeitig eine tubulointersitielle Fibrose. Bei allen
hereditären Zystennieren-Erkrankungen finden sich extrarenale Veränderungen. Bei der
ADPKD werden Zysten auch in anderen Organen (Leber, Gehirn) nachgewiesen, außerdem
können zerebrale und aortale Aneurysmen auftreten. Etwa 50% der Neugeborenen mit ARPKD
sind nicht lebensfähig und sterben nach Geburt. Kinder mit einer milderen Ausprägung
der Erkrankung entwickeln frühzeitig eine zum Teil extreme arterielle Hypertonie und
im Verlauf der Kindheit eine zunehmende Leberfibrose, die bei allen Patienten mit
ARPKD nachweisbar ist, klinisch aber sehr unterschiedlich manifest werden kann. In
einzelnen Fällen ist eine kombinierte Leber- und Nierentransplantation (meist im 2.
Lebensjahrzehnt) erforderlich. Bei der Nephronophthise können extrarenal Veränderungen
am Auge, im ZNS, am Skelett und in der Leber auftreten.
Die Pathogenese der tubulären Zystenbildung ist sehr komplex und in ihren Einzelheiten
noch nicht genau geklärt. Gestörte Zilienfunktionen spielen sehr wahrscheinlich eine
bedeutsame Rolle.
Fehlbildungen der Niere: Zystennieren (Bild: Urologie, Thieme, 2002).
Alle tubulären Nierenepithelzellen tragen ein primäres, nicht bewegliches Zilium.
Diese Zilien spielen eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung zwischen Extra-
und Intrazellulärraum und reagieren vor allem auf mechanische, aber auch auf chemische
Reize. Die primären Zilien von tubulären Nierenepithelzellen sind offenbar besonders
wichtig in ihrer Funktion als Mechanosensoren für den Urinfluß. Zudem haben die
Zilien möglicherweise eine Kontrollfunktion für die Proliferation, Adhäsion und Migration
von tubulären Epithelzellen. Die Polyzystine bei der ADPKD, Fibrozystin bei der ARPKD
und Nephrozystin und Integrin bei der Nephronophthise sind Bestandteil komplexer Proteine
und lassen sich in Zilien oder in Verbindung mit Zilien nachweisen. Mutationen mit
Funktionsverlust dieser Proteine führen offenbar zu einer Dysfunktion von Zilien und
sind mitverantwortlich für die Entwicklung von Zysten. Die häufigste Form der ADPKD,
hervorgerufen durch ein nicht funktionsfähiges Polycystin-1-Protein, führt zu Veränderungen
von Zelladhäsionen, der Zellmatrix, Interaktionen an der Zelloberfläche und Störungen
von Signaltransduktionen. So ist bei der ADPKD nachgewiesen worden, dass die Entwicklung
von Zysten mit der Bildung von Divertikeln des Tubulus durch vermehrte Proliferation
von Epithelzellen beginnt, dann verliert das wachsende Divertikel den Kontakt zum
Tubulus und schließlich wächst die sich bildende Zyste und füllt sich mit Flüssigkeit.
Zudem wird diskutiert, dass bei der ADPKD eine Imbalanz zwischen Proliferation von
Tubulusepithelzellen und Apoptose dieser Zellen besteht. Folge ist eine pathologische
Proliferation von Epithelzellen in den sich entwickelnden Zysten. Epidermal growth
factor (EGF) spielt eine große Rolle bei der Proliferation von Epithelzellen. Eine
Überexpression von EGF-Rezeptoren bei Zystennieren wurde beschrieben. Inzwischen sind
spezifische Inhibitoren dieser EGF-Rezeptoren entwickelt worden und werden in Phase-1-
und Phase-2-Studien bei Erwachsenen mit ADPKD geprüft. Ziel ist eine Verlangsamung
des Wachstums der Zysten in der Hoffnung, dass dadurch die Progression der Niereninsuffizienz
aufgehalten werden kann.
Nierenanomalien: oben: Urogramm einer autosomal-dominanten polyzystischen Nephropathie
Unten: Zystenruptur, Oprationspräparat (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).
So faszinierend die Erkenntnisse und die Diskussion über die molekularen Mechanismen
zystischer Nierenerkrankungen auch sind: Neue Therapieansätze sind noch nicht erkennbar.
Die Suche nach neuen therapeutischen Möglichkeiten, die sich durch diese interessanten
Forschungsergebnisse ergeben könnten, soll in keiner Weise infrage gestellt werden.
Zum jetzigen Zeitpunkt bedeutsam ist jedoch die sorgfältige Betreuung von Patienten
und deren Familien, insbesondere bei den häufigen ADPKD- Patienten (1:800 - 1:1000).
Hierzu zählt vor allem die frühe und konsequente Erkennung einer arteriellen Hypertonie,
die - schlecht oder gar nicht behandelt - einen wesentlichen Progressionsfaktor für
den Nierenfunktionsverlust darstellt!
Eine sorgfältige genetische Beratung muss bei betroffenen Familien empfohlen werden:
In manchen Familien ist das Vererbungsrisiko nicht eindeutig bekannt. Die ADPKD kann
bereits im Kindesalter manifest werden, sie gilt aber (fälschlicherweise) als eine
Erkrankung des Erwachsenen. Kinder in betroffenen Familie können durch Ultraschalluntersuchung
als Anlageträger in vielen Fällen frühzeitig entdeckt werden. Alle diese Patienten
müssen in regelmäßigen Abständen umfassend untersucht werden, um renale, aber auch
extrarenale Komplikationen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.
Dr. Eberhard Kuwertz-Bröking, Münster
Zweiter Kommentar
Zweiter Kommentar
Mit der Lupe
Die Übersichtsarbeit von Patricia Wilson beschreibt ausführlich aktuelle Forschungsfortschritte,
die auf dem Gebiet der Genetik und Pathophysiologie hereditärer Zystennierenerkrankungen
in den letzten Jahren erzielt wurden. Dabei wird deutlich, welch großen Beitrag die
Identifizierung der zugrunde liegenden Gendefekte für derzeitige Erklärungskonzepte
zur Zystenentstehung geleistet hat. Die ursprünglich anhand ihrer Makroanatomie und
Klinik unterschiedenen Formen der Zystennieren lassen sich nun in weitere genetische
Untergruppen unterteilen. So unterscheiden wir heute die autosomal-dominante polyzystische
Nierenerkrankung (ADPKD), die durch Mutationen in PKD1 verursacht wird, von der ADPKD,
die auf Mutationen in PKD2 zurückzuführen ist. Dies ist nicht nur von wissenschaftlichem
Interesse, sondern hat eine unmittelbare Bedeutung für den Patienten. Vergleichende
Untersuchungen konnten zeigen, daß PKD1-Mutationsträger einen deutlich schwereren
Krankheitsverlauf aufweisen als PKD2- Patienten. Interessanterweise gibt es "digenisch"
betroffene Patienten mit Mutationen in beiden Genen und einem aggravierten Krankheitsbild.
Sowohl PKD1 als auch PKD2 kodieren für Proteine (Polycystin-1 und 2), deren Funktionen
zunächst unbekannt waren, und viel Forschungsarbeit wurde auf die Charakterisierung
ihrer Struktur und Funktion verwendet. Heute wissen wir, dass die Proteine Polycystin-1
und 2 zu ganz unterschiedlichen Proteinfamilien gehören: Polycystin-1 ist ein großes
Protein mit vielen Transmembrandomänen, einem kurzen intrazellulären Anteil, der für
die Aktivierung intrazellulärer Signalkaskaden verantwortlich gemacht wird, und einem
langen extrazellulären Anteil, der zahlreiche Domänen zeigt, die für Protein-Protein-Interaktionen
von Bedeutung sind. Polycystin-2 dagegen ähnelt einem Kationenkanal mit Calcium-leitendenden
Eigenschaften. Interessanterweise können Polycystin-1 und 2 miteinander interagieren
und sind so an der Formation von Multi-Proteinkomplexen an fokalen Adhäsionen und
Zell-Zell-Kontakten beteiligt. Dort spielen sie eine wesentliche Rolle für die Mechanosensation
an der Zellaußenseite und für die Weiterleitung dieser Signale an das Zellinnere.
Hierdurch werden wichtige Prozesse der Tubulusformation beeinflusst, wie Zellproliferation,
Adhäsion und Migration, und somit der Tubulusdurchmesser reguliert.
Und je weiter diese Forschungsbemühungen zielen, desto mehr und mehr bewegen wir uns
weg von dem makroskopischen Blick hin zu einer Detailaufnahme der zystenauskleidenden
epithelialen Zellen mit ihren Zell-Zell-Kontakten, Zell-Matrix-Interaktionen und den
Verbindungen von der Zellaußenseite zur intrazellulären Sig- nalkaskadenmaschinerie.
Der Betrachter entwickelt einen Lupenblick, immer weiter hinein ins Zysten- und Zellinnere.
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Wir bekommen den Eindruck, dass die Forschungsgemeinschaft am Anfang steht, neue Erklärungskonzepte
zur Zystenentstehung zu entwickeln.
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Weitere Proteine wurden identifiziert, die in Patienten mit zystischen Nierenerkrankungen
verändert sind. Nephrocystin ist ein intrazelluläres Protein, das in Patienten mit
juveniler Nephronophthise (einer medullär-zystischen Erkrankung des Kindes- und Jugendalters)
verändert bzw. verlorenen ist. Es bindet an fokale Adhäsionsproteine, ist Teil des
Polycystin-Multi-Proteinkomplexes an der Zellmembran, aktiviert intrazelluläre Signalkaskaden
und ist letztendlich an der Ausbildung der Tubulusgeometrie beteiligt. Fibronectin,
mutiert in Patienten mit autosomalrezessiver Zystennierenerkrankung (ARPKD), ist ein
riesiges membranäres Molekül von mehr als 400 kD Größe. Strukturvergleiche deuten
auf Ähnlichkeiten mit Membranrezeptoren hin. Der lange Extrazelluläranteil zeigt viele
Protein-Protein-Bindungsmotive, der intrazellulär gelegene Proteinanteil dagegen die
für die Aktivierung von Signalkaskaden wichtige Phosphorylierungsstellen. Interessanterweise
finden sich Fibronectin, Nephrocystin, und auch Polycystin-1 und 2 in gemeinsamer
Lokalisierung mit den Basalkörpern der Primärzilien, die auf zystenauskleidenden Epithelzellen
identifiziert wurden. Zilien sind ins Zentrum der Zystenforscher gerückt. Bereits
vor vielen Dekaden entdeckt, verblieb die Funktion dieser Zellorganelle auf nichtmotilen
Tubuluszellen weitgehend im Verborgenen. Nun mehren sich die Hinweise, dass Zilien
für die Tubuluzelle von entscheidender Bedeutung sind, eine überraschende Erkenntnis
für die Zystenforscher. Eine Rolle in der Sensation von Flüssigkeitsströmen wird diskutiert.
Darüber hinaus scheint die Ausbildung von zystischen Strukturen in der Niere eng mit
einer Ziliendysfunktion verknüpft. Bestimmte Mäusestämme, die klinisch das Krankheitssbild
der ARPKD zeigen, demonstrieren anormale tubuläre Zilienstrukturen mit deutlichem
Funktionsverlust. In diesen Mäusen sind die Proteine Cystin und Polaris genetisch
verändert und beide Proteine koloklisieren mit Fibronectin und Polycystin-1 und 2
an den Basalkörpern der tubulären Zilien. Mutationen in Inversin wurden in Patienten
mit infantiler Nephronophthise identifiziert. Auch Inversin kolokalisiert mit den
Basalkörpern der Primärzilien auf renalen Tubuluszellen und es interagiert mit Nephrocystin.
Einige der betroffenen Patienten zeigen neben der Zystennierenerkrankung eine Störung
der Links- Rechts-Determinierung mit Ausbildung eines Situs inversus. Gleiches beobachtet
man in Mäusen und Zebrafischen mit Inversin-knock out. Auch PKD2 scheint eine wesentliche
Rolle für die Links- Rechts-Determinierung zu spielen. In Mäusen mt PKD2-knock out
findet sich ebenfalls ein Situs inversus in einem nicht unerheblichen Prozentsatz
der Tiere. Diese Beobachtung stützen in ihrer Summe die Annahme, dass eine enge funktionelle
Verbindung besteht zwischen der Zilienfunktion, der Zystenentstehung und der Links-Rechts-Determinierung.
Das Phänomen der Mechanosensation scheint hier im Zentrum der Pathophysiologie zu
stehen. Auch andere Organsysteme können von zystischer Umwandlung bei Dysfunktion
ziliärer Proteine betroffen sein.
Wir bekommen den Eindruck, dass die Forschungsgemeinschaft am Anfang steht, neue Erklärungskonzepte
zur Zystenentstehung zu entwickeln. Und je mehr wir mit der Lupe uns dem Zellinneren
nähern, desto komplexer erscheint uns die Zelle in ihrer Funktion. Es werden viele
Fragen beantwortet und immer wieder neue Fragen aufgeworfen.
Dr. Stefanie Weber, Heidelberg
Literatur bei der Autorin