Scholten B, (Hrsg.) Gentherapie statt Psychotherapie? - Kein Abschied vom Sozialen!
dgvt Verlag, Tübingen 2004 , 144 Seiten, € 14.80, ISBN 3-87159-046-0
Unter gleichem Motto wie der Buchtitel veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für
Verhaltenstherapie (dgvt) im Februar 2002 einen überaus interessanten Kongress in
Berlin. Es ist das Verdienst des Herausgebers, aus der großen und heterogenen Anzahl
der Kongressbeiträge eine Auswahl getroffen zu haben, die das komplexe und schwierige
Thema angemessen und in seinen wichtigsten Aspekten dem Leser des hier zu besprechenden
Buches nahe bringt.
Dabei erweist sich Scholtens inhaltlich profunde Einführung ebenso hilfreich wie die
ihr folgende Ergebnisdarstellung humangenetischer Forschung, die er als eine Herausforderung
an die Klinische Psychologie wertet. Darüber hinaus erleichtert er auch dem wenig
vorgebildeten Leser den orientierenden Einstieg durch eine von ihm kommentierte Literaturliste
zum Thema, womit er gleichzeitig den Service grundlegender und weiterführender Literaturempfehlungen
bietet.
Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert: Grundlagen der Genforschung, Sozialwissenschaftliche
und psychologische Wortmeldungen zu den Ergebnissen der Genforschung und empirisch
psychologische Untersuchungen zu Folgen der Humangenetik.
Deutlich wird in allen Beiträgen, dass, nicht zuletzt durch die öffentliche Debatte
der letzten Jahre und die durch sie transportierten Heilserwartungen bezügl. gentechnischer
Diagnostik und Therapie, Nüchternheit und bescheidenere und damit realistischere Dimensionen
dem tatsächlichen Forschungsstand entsprechen. Scholten weist diesbezüglich Parallelen
in den Verhaltenswissenschaften und Psychotechniken nach, die in der Vergangenheit
ähnliche Machbarkeitsmythen erzeugt hätten.
Zurück zu den Fakten: Das Genom ist komplex, die Determination ein Sonderfall, die
Nichtderminiertheit die Regel (Kennerknecht, 29 f.). Genetische Beteiligung an Erkrankung
ist immer im Sinne einer möglichen Disposition hin zu einer erhöhten Vulnerabilität
zu verstehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Und selbst somatische Prozesse
und Merkmale sind nur mit einer 10-80% genetischen Weitergabewahrscheinlichkeit gestreut.
Und diese erheblich Streuungsbreite trifft erst recht für alle seelischen Prozesse
und eben da auch für ihre pathologischen Varianten zu. (Illes u.a., 119 ff.).
Bei all dem bleibt festzuhalten, dass die Ursachen und Formen von Variabilität und
Plastizität noch längst nicht hinreichend geklärt sind.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wir uns nach wie vor in Diagnostik und Therapie
seelischer Störungen in hochkomplexen bio-psycho-sozialen Theorie- und Handlungskonzepten
zurecht finden müssen, und mit ihnen zu arbeiten haben. Klare, schnelle und eindeutige
"Königswege" wird es hochwahrscheinlich auch in Zukunft nicht geben,was potentiellen
"Anwendern" in Pharma-und Apparateindustrie, aber auch Teilen der Ärzteschaft missfällt.
Ungeduldig und mit z.T. zweifelhaften Methoden versuchen sie, Betreiber genetischer
Grundlagenforschung zunehmend unter den Verwertungsdruck von Kapital- und Marktinteressen
zu zwingen (Kennerknecht im Symposium). Denn der Markt für phantastische Heilbarkeitsversprechungen,
der Herstellbarkeit zeit- und grenzenloser Gesundheit, Schönheit und vielleicht sogar
eines Tages der Unsterblichkeit (anti aging), scheint unbegrenzt und damit ebenso
unbegrenzt profitabel.
Doch wir bleiben letztlich immer im Bereich relativer Unschärfe, bei allem was wir
tun. Das ist die wichtigste Botschaft des Kongresses wie dieses sehr gut gemachten
Buches. Mag sie uns - die Botschaft - gefallen oder nicht!
Dr. Martin Wollschläger, Gütersloh