psychoneuro 2004; 30(12): 680-681
DOI: 10.1055/s-2004-862344
Brennpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Finanzierung klinischer Prüfungen - BSG-Urteil vom 22.07.2004

Jürgen Fritze1 , 2 , Josef Aldenhoff2 , Wolfgang Maier1
  • 1Gemeinsame Stellungnahme der Vorstände der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
  • 2Gemeinsame Stellungnahme der Vorstände der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP)
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Gesundheitspolitischer Sprecher

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie & Nervenheilkunde (DGPPN)

Asternweg 65

50259 Pulheim

Publication History

Publication Date:
13 January 2005 (online)

Table of Contents

Mit seinem Urteil (B 3 KR 21/03 R) vom 22.07.2004 hat das Bundessozialgericht (BSG) für Recht erkannt, dass gesetzliche Krankenkassen die Kosten stationärer Behandlungen, bei denen klinische Prüfungen nicht zugelassener Arzneimittel durchgeführt werden, nicht übernehmen dürfen, auch nicht anteilig. Hintergrund waren 12 Behandlungsfälle, bei denen durch die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz in den Jahren 1994-1995 das duale Antidepressivum Duloxetin bzw. der Dopaminagonist Pramipexol in der Indikation Depression Plazebo-kontrolliert geprüft worden waren. Pramipexol ist seit 1997 zugelassen zur symptomatischen Behandlung des idiopathischen Morbus Parkinson (aber nicht der Depression), Duloxetin wurde jüngst in den USA als Antidepressivum (und in Deutschland zur Behandlung der Dranginkontinenz) zugelassen.

Dieser Entscheidung liegt eine Auslegung von § 8 Abs. 1 Satz 2 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) zugrunde, bei der Zweifel berechtigt sind, ob sie dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Dieser Satz 2 lautet: „Bei Patienten, die im Rahmen einer klinischen Studie behandelt werden, sind die Entgelte für allgemeine Krankenhausleistungen nach § 7 zu berechnen.” Gemäß amtlicher Begründung „stellt Satz 2 klar, dass bei Patienten, die im Rahmen einer klinischen Studie behandelt werden, der Versorgungsanteil mit den normalen Entgelten für die allgemeinen Krankenhausleistungen vergütet wird. Mehrkosten der Behandlung in Folge der Studien sind über Finanzmittel für Forschung und Lehre oder Drittmittel zu finanzieren.” Das BSG legt diese Regelung sinngemäß dahingehend aus, eine klinische Arzneimittelprüfung sei keine klinische Studie. Die klinische Prüfung eines nicht zugelassenen Arzneimittels diene mit dem Ziel der Arzneimittelzulassung dem Nutzen des pharmazeutischen Unternehmers, der die gesamten Kosten zu übernehmen habe. Bei Studien aber, in denen andere, neue, medizinische Untersuchungs- und/oder Behandlungsmethoden geprüft werden, habe die Krankenkasse sehr wohl die (anteiligen) Kosten zu tragen. Implizit geht das BSG davon aus, ein neues Arzneimittel sei keine neue Behandlungsmethode.

Das BSG erkennt immerhin an, dass „der Gesetzgeber an verschiedenen Stellen die Beteiligung der GKV an der Forschung und damit auch an deren Finanzierung vorgesehen hat. In § 137c ... ist ausdrücklich festgelegt, dass die Durchführung klinischer Studien von den gemäß § 137c Abs. 1 Satz 1 SGB V vorgesehenen Verfahren zur Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der GKV im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden oder angewandt werden sollen, unberührt bleibt. Damit ist auch für die Vergangenheit eine Klarstellung erfolgt, obwohl § 137c SGB V erst mit Wirkung zum 1. Januar 2000 in Kraft getreten ist (GKVRefG 2000) und von daher zur Zeit der in den Jahren 1994 und 1995 durchgeführten Arzneimittelstudien noch nicht galt. So heißt es in der Gesetzesbegründung: „Insbesondere bei Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die im Rahmen klinischer Studien oder multizentrischer Studien unter Verantwortung von Hochschulkliniken angewandt werden, bleibt es dabei, dass die Krankenkassen die notwendige stationäre Versorgung der in die Studien einbezogenen Patienten mit den Krankenhausentgelten vergüten. ... Das Votum des Ausschusses Krankenhaus entfaltet keine Sperrwirkung, die eine kontrollierte Weiterentwicklung der Medizin behindert.” In der Literatur wird diese Sichtweise zwar als „nicht nachvollziehbar”, zumindest aber als „überraschend” bezeichnet.”

Weiter führt das BSG-Urteil aus: „Das beschränkt sich aber auf die Anwendung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und gilt nicht auch für klinische Studien mit noch nicht zugelassenen Arzneimitteln. Als Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sind zwar alle professionellen heilkundlichen - medizinischen - Verrichtungen anzusehen, die zur Erreichung der Behandlungsziele nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V vorgenommen werden. Trotz dieser weiten Formulierung ist die klinische Prüfung von noch nicht zugelassenen Arzneimitteln - Doppelblindstudien ebenso wie Dosisfindungsstudien - aber davon auszunehmen.” Und zwar im wesentlichen weil „nach § 63 Abs. 4 Satz 2 SGB V weder Fragen der biomedizinischen Forschung noch Forschungen zur Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln Gegenstand von Modellvorhaben sein können.”

Daraus schließt das BSG: „Dieser Ausschluss macht deutlich, dass der Gesetzgeber jedenfalls dann keine Durchbrechung des Grundsatzes des Verbots der Forschungsfinanzierung durch die GKV zulassen will, wenn die Forschungsergebnisse für Pharma- und Medizinproduktehersteller von Nutzen sein können. Wenn aber eine Arzneimittelstudie nicht Gegenstand eines Modellvorhabens sein kann, dann ist sie in der Regel auch nicht als klinische Studie von der GKV zu finanzieren.”

Die Gesetzeslage kann aber auch anders interpretiert werden. Entscheidend ist § 8 Abs. 1 Satz 2 KHEntgG, wonach eben gerade „bei Patienten, die im Rahmen einer klinischen Studie behandelt werden, die Entgelte für allgemeine Krankenhausleistungen nach § 7 zu berechnen sind.” Demgegenüber ist § 63 SGB V eine Lex specialis, die sich ausdrücklich und ausschließlich auf Modellvorhaben der Krankenkassen bezieht. Das ist dem BSG bewusst, denn das BSG beruft sich im Kern nicht auf § 63(4), sondern zieht § 63(4) als eine von mehreren Argumentationshilfen bei. Tatsächlich sagt § 63(4) aber nur, dass Krankenkassen keine Modellvorhaben durchführen dürfen, die der Arzneimittelprüfung dienen. Gemäß § 63(1) haben Modellvorhaben der „Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Versorgung” und der „Weiterentwicklung der Verfahrens-, Organisations-, Finanzierungs- und Vergütungsformen der Leistungserbringung” zu dienen. Im Rahmen dieser in § 63(1) vorgegebenen Zielsetzung ist plausibel, dass Arzneimittelprüfungen nicht dazu gehören können. Insofern stellt § 63 Absatz 4 nur eine Konkretisierung zu § 63 Absatz 1 dar. Arzneimittelprüfungen sind aber keine Modellvorhaben. Folglich kann § 63(4) nicht die allgemeine Regelung in § 8(1) KHEntgG aushebeln.

Würde man dem BSG folgen, dann wären Arzneimittel keine Behandlungsmethode. Das wäre mit allgemein gängigen Vorstellungen unvereinbar. Jedenfalls sieht das BSG in Arzneimittelprüfungen keine klinischen Studien. Diese begriffliche Trennung steht in Widerspruch auch zum Sprachgebrauch in der internationalen wissenschaftlichen Literatur, die durchgängig bei Arzneimittelprüfungen von klinischen Studien (z.B. randomized clinical trial (RCT)) spricht und diese nicht von anderen klinischen Studien differenziert.

Diese Auslegung des BSG ignoriert beispielsweise, dass in der psychopharmakologischen Forschung der Einsatz von Plazebo im Rahmen Plazebo-kontrollierter Studien keineswegs mit Nicht-Behandlung gleichzusetzen ist, sondern im Gegenteil einem wissenschaftlich sehr anspruchsvollen und für die Betroffenen besonders hilfreichen Vorgehen entspricht [1] [2]. Auch kann ja nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass Patienten, die bei stationärer Behandlung an einer Arzneimittelprüfung mitwirken, dennoch zumindest teilweise in den Genuss wirksamer Behandlung kommen. Entsprechend wären die Kosten von der GKV auch anteilig zu übernehmen, wie ausdrücklich in der amtlichen Begründung zu § 8 KHEntgG formuliert. Nur so kann dem dringenden Forschungsbedarf - hier bei schweren, stationär behandlungsbedürftigen Depressionen - entsprochen werden.

Bleibt es beim geltenden Recht und der Rechtsauslegung durch das BSG, dann werden künftig bei hospitalisierten, also einer vollstationären Behandlung bedürftigen Kranken keine Arzneimittelprüfungen mehr durchgeführt. Es liegt auf der Hand, dass damit die Entwicklung und Evaluation moderner Behandlungskonzepte insbesondere für Schwerkranke gebremst wird. Das Urteil kann über den vollstationären Bereich hinaus Kreise ziehen. In logischer Übertragung könnte es analog auch auf die ambulante Versorgung angewendet werden. Das Urteil tangiert nicht nur Industrie-initiierte Arzneimittelprüfungen, sondern auch Industrie-unabhängige, von klinischen Forschern initiierte Studien. Forschungsgelder, mit denen die gesamten Behandlungskosten - wie vom BSG gefordert - finanziert werden müssten, sind zweifellos nicht verfügbar. Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass das BSG-Urteil die Kostenträger zu Rückforderungen erheblichen Ausmaßes gegenüber Krankenhäusern veranlassen wird. Diese Rückforderungen werden forschungsaktive Krankenhäuser, insbesondere also Universitätskliniken, überfordern.

Das Urteil des BSG steht in Widerspruch zum Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10.07.1996 (Az.: IV ZR 133/95). Der BGH sieht sehr weitreichende - zum Teil möglicherweise zu weitreichende - Ansprüche Versicherter vor, „jedenfalls bei schweren, lebensbedrohenden oder lebenszerstörenden Erkrankungen” sei „nicht zu fordern, dass der Behandlungserfolg näher liegt als sein Ausbleiben ...”. Hier reiche aus, dass die „gewählte Behandlungsmethode auf einem nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruht, der die prognostizierte Wirkweise der Behandlung auf das angestrebte Behandlungsziel zu erklären vermag, diese Wirkweise sonach zumindest wahrscheinlich macht”. Wenn eine Arzneimittelprüfung nicht auf einem „nachvollziehbaren Ansatz” beruhen würde, wäre sie u.a. ethisch nicht vertretbar und dürfte nicht durchgeführt werden. Zahlreiche zivilgerichtliche Urteile sind inzwischen dem BGH-Urteil auch bei Erkrankungen gefolgt, die keinen „lebensbedrohenden oder lebenszerstörenden” Charakter haben, oder haben diese Begriffe sehr weit ausgelegt. Zivilrechtlich haben Versicherte also andere Ansprüche als sozialrechtlich. Das ist schwer nachvollziehbar. Das BSG-Urteil ignoriert, dass Versicherte bei manchen Krankheiten (z.B. Malignomen) erst durch die Teilnahme an einer Arzneimittelprüfung eine Chance auf Besserung oder gar Heilung haben. Jedenfalls steht zu befürchten, dass diesen Kranken im Gefolge des BSG-Urteils diese Chance kaum noch zugänglich sein wird.

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Fazit

Das BSG-Urteil birgt also einigen gesundheitspolitischen Sprengstoff. Von dem Urteil ist die gesamte klinische Arzneimittelforschung betroffen. Mittelbar stellt das Urteil die Finanzierung weiter Bereiche der klinischen Forschung in Frage, insbesondere was innovative Ansätze angeht.

Es darf bezweifelt werden, dass die Auslegung des geltenden Rechts durch das BSG dem Willen des deutschen Gesetzgebers entspricht. Das höchstrichterliche Urteil des BSG ist aber unanfechtbar. Folglich ist der Gesetzgeber aufgefordert, seinen Willen eindeutiger zu formulieren, als im geltenden § 8 KHEntgG und ggf. § 137 SGB V geschehen. Es ist Sache aller medizinischen Fachgesellschaften, den Gesetzgeber dabei zu unterstützen.

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Literatur

  • 1 Baldwin D, Broich K, Fritze J, Kasper S, Westenberg H, Möller HJ. Placebo-controlled studies in depression: necessary, ethical and feasible.  Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2003;  253 22-28
  • 2 Fritze J, Möller HJ. Design of clinical trials of antidepressants: should a placebo arm be included?.  CNS Drugs. 2001;  15 755-764
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Gesundheitspolitischer Sprecher

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie & Nervenheilkunde (DGPPN)

Asternweg 65

50259 Pulheim

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Literatur

  • 1 Baldwin D, Broich K, Fritze J, Kasper S, Westenberg H, Möller HJ. Placebo-controlled studies in depression: necessary, ethical and feasible.  Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2003;  253 22-28
  • 2 Fritze J, Möller HJ. Design of clinical trials of antidepressants: should a placebo arm be included?.  CNS Drugs. 2001;  15 755-764
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Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

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