Z Sex Forsch 2005; 18(1): 49-50
DOI: 10.1055/s-2005-836420
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eros - verschüttet

F. Fichtel
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Natürlich reicht die Arithmetik des Kalenders nicht aus, um die Aktualität eines Textes 100 Jahre nach dessen Erscheinen unter Beweis zu stellen. Zwar wird beim Wiederlesen der „Drei Abhandlungen” schnell klar, welch prominente Stellung dieser Text nicht nur im Werk Freuds hat, und auch, welche Bedeutung er für die Konzeptualisierung der Bewusstseinsarchitektur der Subjekte des 20. Jahrhunderts besitzt, und dennoch bleibt mir das Gefühl, dass er mir für meine therapeutische Arbeit nicht das gibt, was ich mir als Reflexionsgrundlage für meine aktuellen Probleme wünschen würde.

Das Unbehagen gilt dabei weniger Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung, die, erweiterungs- und revisionsbedürftig, immer noch eine praktikable Arbeitsgrundlage darstellt, sondern eher der Einführung einer Terminologie zur Beschreibung der Psyche, die dem Diskurs der sprachlichen Mitteilung psychischer Phänomene prägende Gestalt gegeben hat. Als zunehmend unglücklich erlebe ich dabei den Begriff des „Triebes”, der mir im Hinblick auf seine biologistische und damit scheinbar unhinterfragbare Begründung beim Lesen der ersten Abhandlung immer den Eindruck von etwas „Niedrigem”, Tierhaftem vermittelt. Freuds Triebbegriff erscheint mir jedoch weniger animalisch-ekstatisch im Sinne einer vom Eros durchdrungenen Begeisterung, sondern eher darwinistisch die Bewegungen der Lust ins Tierreich zurückbindend, was dem Ganzen einen klinischen, wissenschaftlichen, aber auch distanzierten, fast etwas pejorativen Beigeschmack gibt. Freuds Distanzierung vom Eros wird in den Abhandlungen an verschiedenen Stellen deutlich. Am auffälligsten ist das gleich am Anfang der ersten Abhandlung, als Freud die Rede des Aristophanes aus Platons Symposion anklingen lässt, in dessen berühmtem Gleichnis vom Kugelmenschen eben nicht nur das gegengeschlechtliche, sondern auch das gleichgeschlechtliche Begehren elegant erklärt und dem gegengeschlechtlichen gleichgestellt wird. Dieser zweite Teil der Preisrede auf den Eros - und als Preisreden verstehen sich ja die einzelnen Dialoge in Platons Schrift - wird von Freud allerdings genichtet, da in ihm das gleichgeschlechtliche Begehren sich der biologischen Determination des „gegengeschlechtlichen Triebes” widersetzt und der gleichgeschlechtliche Eros nicht als „Abweichung in Bezug auf das Sexualobjekt” verstanden wird.

Hier zeigt sich ein Autor, der um die Gunst des wissenschaftlichen Publikums seiner Zeit bemüht ist und eine Auseinandersetzung mit den Disziplinen seiner Zeit - gerade auch der Sexualwissenschaft - sucht. Dabei hat sich der Paradigmenwechsel im Werk von Freud schon lange vorher vollzogen, nämlich in den noch von der französischen Schule beeinflussten Studien über die Hysterie und durch das Aufgeben der Verführungstheorie. Danach hat das Individuum seine Lebensprobleme primär als intrapsychische Konflikte zu begreifen und weniger als Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft. Eine Verschiebung der Perspektive, die für den beklagenswerten gegenwärtigen Zustand der Psychoanalyse im Besonderen und generell der Psychotherapie als Erfüllungsgehilfin eines global entfesselten Kapitalismus mitverantwortlich ist. Hier wünschte ich mir zweierlei: einmal eine radikale Politisierung der therapeutischen Arbeit, die nicht mehr nur Arbeit am Triebschicksal des Einzelnen ist und auf eine Anpassung an Verhältnisse hinarbeitet, die eigentlich unerträglich sind, sondern die sich zum Anwalt des Individuums macht und an der Eröffnung von freiheitlichen Räumen interessiert ist, und dazu eine Sexualwissenschaft, die sich im Diskurs nach der „neosexuellen Revolution” kritisch positioniert und wieder Interesse an einer Theorie des Eros entwickelt, einer „Begehrenskunde” für die Individuen, die sich zunehmend einer Kolonialisierung global-ökonomischer Interessen ausgeliefert sehen.

Im Hinblick auf die „Drei Abhandlungen”, die Freud als einen konservativen Avantgardisten hervortreten lassen, überlegt sich die Psychoanalyse, inwieweit sie eine Triebtheorie braucht, während die von Wirtschaftsinteressen dominierte Welt sich nicht sicher ist, ob sie noch eine Psychoanalyse braucht.