Zentralbl Gynakol 2005; 127(3): 107-113
DOI: 10.1055/s-2005-836440
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Ökonomisierung der Forschung - oder: Was kostet die Unwahrheit?

Economisation of Research - or: What Price Deception?K. Fischer1
  • 1Universität Trier · Fachbereich 1 · Pädagogik, Philosophie, Psychologie
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Publication Date:
25 May 2005 (online)

Zusammenfassung

Nach dem gegenwärtigen Glaubensbekenntnis der deutschen Wissenschaftspolitik müssen Forschung und Wissenschaft stärker als bisher an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausgerichtet werden. Nur so könne es gelingen, der deutschen Volkswirtschaft zu den Produkten zu verhelfen, die sie benötigt, um auf dem globalen Markt zu bestehen und das erreichte relative Wohlstandsniveau zu bewahren. Der Artikel will zeigen, dass mit einer zweckgebundenen Finanzierung der Forschung durch die Wirtschaft der Code der Wissenschaft partiell suspendiert und durch den Code der Ökonomie ersetzt wird, in dem nicht lege artis geprüfte Information („Wahrheiten”), sondern die Chance auf eine optimale Rendite als oberste Maxime gilt. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Informationen, die die Verkaufschancen bestimmter Produkte beeinträchtigen, nicht mehr erhoben werden oder von den Unternehmen zurückgehalten werden. Vieles, was wissenswert, für die Selbstdeutung einer Kultur wichtig oder als grundlagentheoretische Basis zukünftiger Technologien wesentlich ist, wird nicht mehr erforscht, wenn das primäre Kriterium der Forschungsfinanzierung in ihrem unmittelbaren ökonomischen Nutzen gesehen wird. Diese negativen Konsequenzen der Ökonomisierung der Forschung bezeichnen wir als die Kosten der Unwahrheit.

Abstract

According to the accepted credo of German science policy the organization of research has to be reshaped to fit the needs of the national economy better than it did so in the past. This is seen as a conditio sine qua non to help German corporations to prevail in the global competition as well as to protect national welfare. The author argues that reorganizing research on a strictly mission-oriented line under economic imperatives will partly suspend the code of science in favor of the code of economy. The focal aim of science, which is to reach at the most reliable information in a methodical and impartial way, will be partly replaced by the aim to reach at the best sellable information in any way which is cheap and profitable. The probability that any information which might endanger the market performance of a product is clandestinely kept under cover by the selling corporation will be greatly enlarged. Expert knowledge necessary to uncover the truth will be mainly interest bound and no longer be freely available. Knowledge perceived to be irrelevant for economy, although possibly being of great intrinsic interest, and even knowledge which might become an essential part of a culture’s identity, will be lost on its search for an investor. The great danger is that this applies also to important parts of basic science potentially providing the foundations for future technologies. Externalities such as these could be called the costs of economization, or: the costs of untruth.

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1 Historisch betrachtet und von der subjektiven Motivationsseite her gesehen gibt es auch noch andere Ziele, um Wissenschaft zu betreiben. Uns geht es nicht um die empirisch vorfindbare Vielfalt, sondern um die Funktionslogik der Systeme.

2 Eine interessante Analyse dieses Systems bietet Niklas Luhmann in Der medizinische Code. In: ders. Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven. Opladen 1990.

3 Wie in der Goldgräberphase des „Neuen Marktes”. Vgl. Eine Kette von Skandalen. FAZ, 26. Aug. 2004; Geprellte Anleger bleiben auf Schaden sitzen. FAZ, 6. Juli 2004.

Prof. Dr. K Fischer

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