Hintergrund
Hintergrund
Inzidenz und Prävalenz der koronaren Herzkrankheit (KHK) werden wesentlich von umschriebenen Krankheiten und Verhaltensweisen, so genannten Risikofaktoren, bestimmt [1]. Bei der Pathogenese mehrerer Risikofaktoren wie der arteriellen Hypertonie, der viszeralen Adipositas oder der mentalen Depression kommt einer Dysfunktion der stressresponsiven Systeme eine wichtige Bedeutung zu. Auch scheint die Aktivität dieser Systeme den Verlauf der KHK, beispielsweise nach einer relevanten Komplikation wie dem akuten Myokardinfarkt, wesentlich zu bestimmen. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass eine gestörte Funktion dieser Systeme eine Hintergrundvariable darstellt, die das kardiale Risiko substanziell beeinflusst, dies jedoch nicht in direkter Aktion bewirkt, sondern über die Beteiligung an Genese und Verlauf risikoerhöhender Erkrankungen.
Stressresponsive Systeme
Die stressresponsiven Systeme werden zentral gesteuert und koordinieren die kurzfristige Anpassung des Organismus an wechselnde Umweltbedingungen [2]. Sie lassen sich definierten Strukturen im ZNS zuordnen; die Steuerung der Peripherie erfolgt über neurale und hormonelle Wege. Die zwei wichtigen Einheiten der stressresponsiven Systeme stellen das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HHN)-System und das sympathoadrenale System dar. Bei der Stressantwort werden in der Regel beide Systeme aktiviert; ein zentrales Steuerelement, der „Dirigent des Stress-Orchesters”, ist das Corticotropin-releasing-Hormon (CRH). Die zentralen Stress-Systeme modulieren über ihre weit verzweigten Neurone eine Vielzahl anderer Funktionen wie Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung, Handlungsplanung und Emotionalität. Die Systeme, die kardiovaskuläre Steuerung, Wachstum, Reproduktion und Immunantwort regulieren, werden ebenfalls nachhaltig beeinflusst. Möglicherweise im Rahmen wiederholter oder dauerhafter Aktivierungen oder aufgrund einer Störung in einer frühen Phase seiner Reifung [3] kann es bei suszeptiblen Personen zu einer Funktionsstörung der stressresponsiven Regelkreise kommen. Es lassen sich phänomenologisch mehrere Formen dieser Dysfunktion beschreiben.
Dysfunktion der stressresponsiven Systeme
Eine Dysfunktion der stressresponsiven Systeme kann entweder den basalen Tonus oder die Reaktivität auf einen definierten Stressor betreffen. Unterschiedliche Kombinationen wurden beschrieben:
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höherer basaler Tonus, überschießende Reaktivität: Aufgrund bislang nicht vollständig verstandener Prozesse findet sich eine gesteigerte Aktivität der CRH-produzierenden Neurone im Hypothalamus. Die Auswirkungen lassen sich in Hinblick auf das HHN-System unter anderem an dauerhaft höheren Serumkonzentrationen von Adrenokortikotropin (ACTH) und Kortisol erkennen. Auffallend ist auch eine überschießende Antwort verschiedener Systeme, vor allem der Herz-Kreislauf-Regulation, auf Stressoren wie mentale oder körperliche Belastung. Diese Regulationsstörung lässt sich daran erkennen, dass nach einer definierten Belastung höhere und länger anhaltende Steigerungen von Blutdruck, Herzfrequenz und anderen Parametern auftreten.
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normaler basaler Tonus, überschießende Reaktivität: Liegt die Störung der stressresponsiven Systeme nur in subtiler Form vor, wird lediglich eine überschießende Antwort auf Stressoren, aber keine Auffälligkeit des basalen Tonus gefunden.
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starrer basaler Tonus, geringe Reaktivität: Diese Form der Dysfunktion der stressresponsiven Systeme zeichnet sich vor allem durch eine aufgehobene zirkadiane Rhythmik aus, erkennbar an niedrigen morgendlichen Serumkortisolkonzentrationen und relativ hohen Abendwerten. Physiologische Belastungen führen möglicherweise zu verminderten Anstiegen der Kortisolkonzentration.
Assoziation kardiovaskulärer Risikofaktoren mit einer Dysfunktion der stressresponsiven Systeme
Wichtige kardiale Risikofaktoren sind mit einer dauerhaften oder intermittierenden übermäßigen Aktivitätssteigerung der stressresponsiven Systeme verbunden. Die Vermutung, dass diese Veränderung ein erhöhtes kardiales Risiko bedingt, wird durch die gute Wirksamkeit der β-adrenergen Antagonisierung bei der Akut- und Langzeittherapie der KHK gestützt.
Arterielle Hypertonie
In der Frühphase der Erkrankung wurden wiederholt Zeichen der überhöhten Aktivierung der stressresponsiven Systeme festgestellt [4]. Eine erhöhte Reagibilität auf verschiedene Stressoren (mentaler Stress, physische Belastung) bei Nachkommen von Hypertonikern [5]
[6]
[7] weist auf eine relevante genetische Determinierung der Blutdruckantwort auf verschiedene Stressoren hin. Molekulargenetische Untersuchungen einer schottischen Bevölkerungsstichprobe ergaben, dass höhere individuelle und familiäre Blutdruckwerte mit spezifischen Allelen des Glukokortikoidrezeptorgens verbunden sind [8]. Auch diese Befunde stützen die Vermutung, dass das HHN-System eine wichtige Determinante der Blutdruckregulation darstellt.
Typ-2-Diabetes/Insulinresistenz/viszerale Adipositas
Diese Erkrankungen erhöhen das kardiale Risiko in erheblichem Ausmaß und werden als Kernsymptome des metabolischen Syndroms angesehen [9]
[10]. Einer gestörten Funktion der stressregulierenden Systeme, insbesondere des HHN-Systems, wird eine zentrale Rolle bei Entstehung und Verlauf dieses Syndroms zugeschrieben [11]
[12].
Depression
Die Bedeutung der Depression für Entstehung und Verlauf der koronaren Herzerkrankung findet zunehmende Beachtung. Nach den Ergebnissen sorgfältig angelegter Longitudinalstudien unausgewählter Bevölkerungsstichproben kann als gesichert gelten, dass Depression einen eigenständigen kardialen Risikofaktor darstellt (Übersicht: [13]). Die Faktoren, die diese Risikoerhöhung vermitteln, sind bislang nicht eindeutig identifiziert [14]. Da die Überaktivität der stressresponsiven Systeme bei der Mehrzahl der Patienten mit einer relevanten Depression detailliert beschrieben wurde [15], ist es nahe liegend, diesen Faktor als wichtige Variable bei der Vermittlung der Risikoerhöhung zu postulieren. Die Zunahme des relativen Risikos, an einer KHK zu erkranken, ist bei Vorliegen einer Depression vergleichbar der durch andere, „klassische” Risikofaktoren bedingten Gefährdung. Auch nach einem überstandenen Myokardinfarkt sind depressive Syndrome mit einer ungünstigeren kardialen Prognose verbunden [16].
Eine Dysfunktion der stressresponsiven Systeme wurde aber nicht nur in Zusammenhang mit kardiovaskulären Risikofaktoren gefunden. Eine erhöhte Stressreaktivität von Patienten mit manifester KHK ist ein häufig replizierter Befund der psychophysiologischen Forschung. Ein markantes Beispiel hierfür ist, dass bei Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit mentaler Stress (Kopfrechnen) im Katheterlabor zu einer ausgeprägten Konstriktion atherosklerotisch veränderter Koronargefäße führen kann [17].
Hypothese
Hypothese
Aufgrund der oben dargestellten Überlegungen wurde folgende Hypothese aufgestellt: In einer unausgewählten Bevölkerungsstichprobe sind die kardialen Risikofaktoren arterielle Hypertonie, viszerale Adipositas, Typ-2-Diabetes und Depression mit einer Dysfunktion des HHN-Systems assoziiert.
Bestimmung des Funktionszustandes der stressresponsiven Systeme
Bestimmung des Funktionszustandes der stressresponsiven Systeme
Die Bestimmung des Funktionszustandes der stressresponsiven Systeme sollte zum einen die zirkadian regulierte basale Aktivität, zum anderen die Reaktivität auf einen definierten Stressor abbilden. Als Messmethode für die beschriebene Untersuchung wurde die Analyse der Speichelkortisolkonzentration gewählt.
Speichelkortisol
Die Kortisolkonzentration im Speichel entspricht in engen Grenzen der Konzentration an freiem Kortisol im Serum und lässt sich zuverlässig und nicht-invasiv bestimmen (Übersichten: [18]
[19]). Das Steroidhormon ist gegenüber äußeren Einflüssen unempfindlich und bleibt nach Abnahme bei Raumtemperatur mindestens zwei Wochen stabil. Bei ähnlichen äußeren Bedingungen ist die intraindividuelle Variabilität der Tag-zu-Tag-Werte gering; insbesondere die Kortisolkonzentration nach dem Aufwachen und vor den Aufstehen zeigt eine hohe Stabilität und gilt als zuverlässiges Maß für den basalen Tonus des Systems. Ein Messzeitpunkt 30 Minuten nach dem Aufstehen zeigt die Antwort des Systems auf eine Aktivierung durch Orthostase und äußere Reize an.
Die Bestimmung von Speichelkortisol wurde bereits in größeren Kollektiven zur Analyse der HHN-Funktion eingesetzt und hat seine Tauglichkeit bewiesen. Der Zusammenhang zwischen HHN-Dysfunktion und der Prävalenz kardiovaskulärer Risikofaktoren einer unausgewählten Bevölkerungsstichprobe wurde bislang lediglich an einer kleinen Kohorte untersucht [20].
Sympathoadrenales System
Eine zuverlässige Messmethode, die den Funktionszustand des sympathoadrenalen Systems in basalen und stressreaktiven Zuständen abbildet und in einer epidemiologischen Untersuchung eingesetzt werden kann, ist den Untersuchern nicht bekannt. Die Messung der Herzfrequenz wurde diskutiert, aber aufgrund der Vielzahl anderer Variablen, die sie beeinflussen, als zu unsicher verworfen.
Ablauf der Untersuchung
Ablauf der Untersuchung
Die beschriebene Untersuchung stellt ein Zusatzmodul der von dem GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit im Rahmen der KORA-Plattform durchgeführten Untersuchung einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe dar (Follow-up F3 [2004/05] des 3. MONICA-Surveys S3 [1994/95]). Durch diese Zusammenarbeit stehen detaillierte Daten zu demographischen, klinischen, anthropometrischen, laborchemischen und anderen relevanten Variablen zur Verfügung. Im Rahmen des Projektes wird bei einer Teilstichprobe (n = 1250) zusätzlich der Funktionszustand des HHN-Systems bestimmt. Als primärer Zielparameter wurde das Ausmaß des Anstieges der Speichelkortisolkonzentration nach einer standardisierten Aktivierung festgelegt. Diese Aktivierung wird durch das morgendliche Aufstehen nach der Nachtruhe erreicht.
Geeignete Probanden werden im Studienzentrum über Ziele und Ablauf der Studie informiert. Zur Sammlung der Speichelkortisolproben werden den Probanden vorbereitete Sets mit nach Hause gegeben. Diese enthalten ein Informationsschreiben, eine Dokumentation der Abnahme, vier Speichelröhrchen sowie eine freigestempelte Versandtasche. Die Sammlung erfolgt durch die Probanden an einem „normalen” Wochentag. Nach Abnahme schicken die Probanden die Speichelproben mit der Post an das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Dort werden sie erfasst und bis zur endgültigen Analyse bei - 80 °C gelagert. Praktikabilität und Zuverlässigkeit des Untersuchungsablaufes wurden in einem Pilotprojekt an zirka 100 Probanden getestet.
Einschlusskriterien
Als einziges Einschlusskriterium wurde ein Alter von 50 bis 70 Jahren definiert. Der Hintergrund hierfür ist die erwartete höhere Prävalenz an Risikofaktoren in dieser Population. Die obere Altersbegrenzung erfolgte, da bei der Sammlung der Speichelkortisolproben durch über 70-Jährige eine höhere Ausfallrate erwartet wird.
Standardisierte Messung von Speichelkortisol
Zur Beurteilung des Aktivitätszustandes des HHN-Systems werden im Tagesverlauf vier Speichelkortisolproben gesammelt: 1. Probe morgens nach dem Aufwachen und vor dem Aufstehen, 2. Probe 30 Minuten nach dem Aufstehen, 3. Probe 8 Stunden nach dem Aufstehen (in der Regel nachmittags) und 4. Probe 14 Stunden nach dem Aufstehen, nach einer Stunde Ruhe (in der Regel abends). Durch diese Abnahmezeitpunkte ergeben sich Informationen zur basalen Aktivität (Probe 1), zirkadianen Regulation (Probe 1, 3 und 4), Gesamtaktivität („area under the curve”, Probe 1 - 4) sowie zur Reaktivität auf Aktivierung (Probe 2 vs. 1). Bei Probe 3 und 4 werden die Probanden um die Angabe gebeten, ob sie in der Stunde vor dem Sammeln Zeitdruck und Anspannung („Stress”) verspürt haben.
Zum Sammeln der Proben dienen Baumwollstreifen, die beim Kauen Speichel aufnehmen und anschließend in verschließbaren Plastikröhrchen aufbewahrt werden (Salivetten®). Die Lagerung der Proben erfolgt im Kühlschrank der Probanden, der Versand über den Postweg in das zentrale Labor in Mannheim. Die Kortisolkonzentration in den Salivetten ist bei Raumtemperatur über zwei Wochen stabil, so dass dieses Vorgehen das erforderliche Maß an Praktikabilität und Zuverlässigkeit verbindet.
Mögliche Bedeutung der Studie
Mögliche Bedeutung der Studie
Der Nachweis einer Verbindung zwischen HHN-Dysfunktion und wichtigen kardiovaskulären Risikofaktoren wäre von erheblicher Bedeutung für das pathophysiologische Verständnis von Entstehung und Verlauf der koronaren Herzkrankheit. Es könnte eine Zielvariable für eine therapeutische Intervention identifiziert werden, welche ähnlich erfolgversprechend sein könnte wie die Aufhebung der peripheren Effekte der sympathoadrenalen Aktivierung durch Betablocker.
Die Bestimmung der HHN-Aktivität in o. g. Teilstichprobe könnte darüber hinaus die Basis für die prospektive Untersuchung der Inzidenz kardialer Ereignisse in Abhängigkeit von der HHN-Funktion darstellen. Eine Identifikation klinischer Ereignisse wäre über das Augsburger Herzinfarktregister oder über eine weitere Follow-up-Untersuchung der Stichprobe möglich.
Danksagung
Danksagung
Diese Untersuchung wird gefördert durch die GSF.
Der Artikel nimmt besonders Bezug auf folgende Beiträge dieses Sonderheftes von Das Gesundheitswesen: [21]
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