Klin Monbl Augenheilkd 2006; 223(1): 92-96
DOI: 10.1055/s-2005-858533
Offene Korrespondenz

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

A. Bielschowskys amerikanische Reiseeindrücke (1934)[1]

G. K. von Noorden1
  • 1Longboat Key, Florida
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Publication History

Publication Date:
20 March 2006 (online)

Als mein Lehrer Hermann Burian im Jahre 1974 starb, hinterließ er mir, gebunden in 4 Bänden, die Arbeiten Bielschowskys aus den Jahren 1919 - 1930. Einige Jahre später entdeckte ich zufällig ein Kuvert in einem dieser Bände, welches der Buchbinder mit eingebunden hatte. Darin befanden sich 21 eng beschriebene Seiten mit zahlreichen Korrekturen. Der Inhalt belegt eindeutig, dass diese Schrift aus Bielschowskys Feder stammt. Anfang 1934 war er der Einladung zu einer 2-monatigen Vortragsreise durch die USA gefolgt. Es ist anzunehmen, dass er sich diese Notizen für einen Vortrag gemacht hatte, den er vielleicht in Breslau vor seinen Mitarbeitern zu halten hoffte oder vielleicht sogar noch gehalten hat, bevor er, nur wenige Monate nach seiner Rückkehr von dieser Reise, aus Deutschland vertrieben wurde.

Niemand der jetzt lebenden Strabologen hat Bielschowsky noch persönlich gekannt. Die meisten von uns sind zwar mit seinem großen wissenschaftlichen Werk vertraut, wissen jedoch kaum etwas über den Menschen, der es uns hinterlassen hat. Dieser Bericht gibt darüber einige Auskunft. Neben der Schilderung der amerikanischen medizinischen Ausbildung und Bielschowskys damals in Amerika noch ganz neuartigen Methodik der augenärztlichen Fortbildung bezeugen seine Notizen ein Interesse an Malerei und Musik, ästhetische Sensibilität sowie Liebe zur Natur. So wird uns Bielschowsky nicht nur durch sein Werk, sondern auch als Mensch näher gebracht.

Publiziert worden ist dieser Bericht meines Wissens bisher nicht. Er wird hier redigiert und an einigen Stellen gekürzt wiedergegeben.

„Wenn man innerhalb von 59 Tagen einen Kontinent von der Größe Nordamerikas zu durchqueren, 8 Tage allein in der Eisenbahn zuzubringen und in 10 verschiedenen Orten vielfach von früh bis Abend berufliche Pflichten zu erfüllen hat, so kann ein Bericht nicht anders als oberflächlich und einseitig ausfallen. Sie dürfen also weder eine amüsante Plauderei wie von einem Journalisten erwarten, der möglichst viel und stets mit dem schriftstellerischen Hintergedanken einer wirksamen Verwertung zu sehen und zu hören bemüht ist, noch die gründliche Erörterung wichtiger Probleme von allgemeinem Interesse, wie sie Ihnen der Volkswirt, Politiker oder Naturforscher zu geben vermag. Ich bin nur in der Lage, außer von dem, was jedem Reisenden ohne besondere Studien als ungewöhnlich, d. h. von den heimischen Verhältnissen abweichend, auffällt, etwas eingehender von dem zu sprechen, was ich durch meine berufliche Tätigkeit zum Teil aus eigener Anschauung, zum Teil aus Gesprächen mit meinen Kollegen über die Einrichtung der Universitätskliniken, Krankenhäuser und über die Ausbildung und das Leben der Ärzte in den USA erfahren habe.

Zunächst darf ich einiges über den Anlaß meiner Reise und die Durchführung der von mir übernommenen Aufgaben sagen. Im Herbst vorigen Jahres wurde ich von den Vorständen der ophthalmologischen Gesellschaften in New York, Boston, Philadelphia und Baltimore eingeladen, für die Mitglieder dieser Vereinigungen Vorträge bzw. Kurse aus meinem speziellen wissenschaftlichen Arbeitsgebiet der Motilitätsstörungen zu halten. Als in den amerikanischen Fachzeitschriften bekannt wurde, daß ich die Einladungen angenommen hätte, folgten im Laufe des Winters noch weitere Einladungen nach dem Mittelwesten und schließlich auch nach Kalifornien. Zusätzliche Einladungen, die ich aus Zeitmangel nicht mehr annehmen konnte, erhielt ich erst während meines Aufenthaltes in den USA. Den Grund dieser Verspätung erfuhr ich noch: Man wollte erst erfahren, ob ich die englische Sprache genügend beherrschte, um den Hörern den recht komplizierten Unterrichtsstoff auch verständlich zu machen. Ich hörte später vielfach Klagen, daß die Herren bei anderen Gelegenheiten erhebliche Enttäuschungen erlebt hätten, weil das Englisch der Vortragenden einfach unverständlich war. Als die betreffenden Vereinigungen nach Rückfragen in New York und Boston, wo ich die ersten Kurse abhielt, über diesen Punkt beruhigt waren und mich noch einluden, war es zu spät, denn mein Reiseprogramm stand für jeden Tag fest und ich glaubte damals noch, auf Grund der mir vor meiner Abreise (aus Breslau) gegebenen Zusicherungen meine Vorlesungen am 7. Mai wieder beginnen zu können.”

Schon vor seiner Abreise hatte es für B. wegen seiner jüdischen Abstammung Schwierigkeiten an der Universität Breslau gegeben. Seine Vorlesungen im letzten Semester wurden von der nationalsozialistisch verseuchten Studentenschaft monatelang boykottiert. In seinem Tagebuch notierte B., dass er kurz nach Rückkehr von seiner Reise vom Dekan der Medizinischen Fakultät sowie vom Rektor der Universität Breslau aufgefordert wurde, vorzeitig um seine Emeritierung nachzusuchen und als Grund für dieses Gesuch gesundheitliche Gründe anzugeben. Dieses lehnte B. aber ab, indem er sein Rücktrittsgesuch damit begründete, dass er „kein Hindernis für die Durchführung eines geordneten Unterrichtes bilden wollte”. [1] Diesem Gesuch wurde prompt stattgegeben und B. seiner amtlichen Verpflichtungen als Hochschullehrer einen Monat nach seiner Rückkehr aus den USA enthoben.

„Daß meine Hörer mit mir zufrieden waren, haben sie mündlich und schriftlich in sehr freundlichen Worten vor allem darin zu erkennen gegeben, daß auf allgemeines Verlangen der Text meiner Kurse von der American Medical Association herausgegeben wird.”

Die Einzelveröffentlichungen der 12 Vorträge im American Journal of Ophthalmology (1938 - 39) wurden 1943 als Bielschowskys „Lectures on Motor Anomalies” zusammengefasst publiziert. Dieses Büchlein (heute leider vergriffen) hatte einen großen Einfluss auf die amerikanische Strabismologie. Es ist meisterlich geschrieben, straff organisiert und heute ebenso lesenswert wie damals.

„Den für mich so erfreulichen Erfolg glaube ich vor allem auf meine, von der üblichen abweichende, Unterrichtsmethode zurückführen zu dürfen. Durch einen theoretischen Vortrag mit zahlreichen Lichtbild-Demonstrationen wurde das tägliche Programm des 4-tägigen Kurses eingeleitet. Ihm folgten Demonstrationen von Patienten als Beispiele für den vorausgegangenen theoretischen Teil. An ihnen wurden die Untersuchungsmethoden gezeigt, eine Analyse des betreffenden Krankheitsbildes gegeben und das einschlägige Heilverfahren erläutert. Die Patienten stammten aus der Klientel der an den Kursen teilnehmenden Kollegen, die ich schon von hier im voraus gebeten hatte, für die festgesetzten Kurstage komplizierte Krankheitsfälle, deren Diagnose zweifelhaft war, einzubestellen. Vor Beginn des Kurses untersuchte ich die Patienten und demonstrierte sie dann im Anschluß an die theoretischen Erörterungen, in deren Kategorie sie hineinpaßten. Den Schlußteil eines Tagesprogrammes bildete eine Diskussion, in der ich auf Fragen aus der Hörerschaft antwortete. Mit den 2 - 3 Stunden eines Tagesprogrammes war natürlich mein Arbeitspensum nicht erschöpft. Ich mußte Kliniken und Krankenhäuser ansehen, Operationen beiwohnen oder auch selbst ausführen, poliklinische und private Kranke, deren Beurteilungen den betreffenden Kollegen Schwierigkeiten machten, untersuchen und auch bei den offiziellen und informalen Mahlzeiten den Kollegen Rede und Antwort stehen. So anstrengend dies auch mitunter war, habe ich es gerne getan, weil die Leute überaus dankbar und angeregt waren und sich überall sehr rasch ein so enger Kontakt herstellte, daß ich jeden Ort mit dem Bewußtsein, neue Freunde gewonnen zu haben, verließ. Natürlich hing das Gelingen des einzelnen Kurses nicht bloß von mir, sondern auch davon ab, wie der Kurs an dem betreffenden Ort von denen vorbereitet war, die mit dem Arrangement beauftragt waren. In dieser Hinsicht war Boston über jedes Lob erhaben. Dort war der Senior der Ophthalmologen, ein als Mensch und Augenarzt gleich ausgezeichneter Mann, persönlich an den Themen des Kurses interessiert und hatte nicht nur für die sorgfältigste Vorbereitung gesorgt, sondern die jüngere Kollegen vermöge seiner Autorität veranlaßt, sich 6 Wochen vor Beginn des Kurses mit der schwierigen Materie vertraut zu machen. Auf diese Weise fand ich bei der Hörerschaft ein weitgehendes Verständnis und ein so reges Interesse wie sonst nur noch in San Francisco, wo ich persönliche freundschaftliche Beziehungen zu einer Anzahl von Kollegen hatte, deren Senior schon 1911 an einem Fortbildungskurs in Leipzig bei mir teilgenommen hatte. An anderen Orten waren die Vorbereitungen mangelhafter, so daß ich mich selbst in letzter Minute um alle Einzelheiten (geeignete Räume, Apparatur, Patienten) kümmern mußte. In dankbarer Weise halfen mir dabei die Vertreter der Firma Zeiss in den verschiedenen Städten, die vom Stammhaus dazu angewiesen worden waren. In den meisten Orten wäre sonst die Projektion der dem Verständnis und als Beweismaterial für meine theoretischen Ausführungen unentbehrlichen Diapositive unmöglich gewesen.”

Bielschowskys Einfluss auf die Entwicklung der Strabismologie in den USA während dieser und einer weiteren Vortragsreise im gleichen Jahr sowie seiner späteren Tätigkeit am Dartmouth Eye Institute (1934 - 1940) kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein ehemaliger Mitarbeiter und Freund Bielschowskys in Dartmouth, Dr. Paul Boeder, sagte einmal zu mir: „Within 6 months Bielschowsky, single-handedly and firmly, put strabismus on its feet in this country as an important discipline of ophthalmology.”

„Ich konnte natürlich in den meisten Orten sehr wenig oder gar keine Zeit auf die sogenannten Sehenswürdigkeiten verwenden. In New York beschränkte ich mich auf das Empire State Building, von dessen 380 m hoher Galerie man an einem klaren Tage einen wirklich grandiosen Eindruck von der Topographie New Yorks und seiner Nachbarstädte und Hafenanlagen bekommt, und auf das Kunstmuseum (Metropolitan Museum of Art) auf der 5th Avenue, das mit den schönsten Museen Europas konkurrieren kann. Es enthält eine unerhörte Anzahl der herrlichsten Werke der französischen Impressionisten Manet, Monet, Courbet, Cézanne, Renoir, Degas usw. sowie die großen holländischen Meister, insbesondere Rembrandt und seine Nachfolger, wie man sie nur noch in Amsterdam und im Haag in ähnlicher Zahl und Schönheit findet. Unter den Wolkenkratzern sind etliche, die nicht nur imposant wirken, sondern durch ihre Plazierung, Gliederung und Linienführung einen wirklich ästhetischen Genuß bereiten, namentlich bei wolkenlosem Himmel. Boston, das man von New York am angenehmsten und bequemsten per Schiff in einer Nachtfahrt erreicht (heute nimmt man das Flugzeug), erinnerte in seiner Bauart am meisten an englische Städte. Es besitzt außer seiner wunderbar angelegten Universität (Harvard University) eine ganz eigenartige Sehenswürdigkeit, den Palast von Mrs. Gardener (Isabella Stewart Gardener Museum). Diese, etwa vor 10 Jahren verstorbene, sehr reiche Dame hat Kunstschätze von unermeßlichem Wert gesammelt und in einem Hause untergebracht, das einen würdigen Rahmen dafür abgibt. Die äußere Fassade ist ganz unauffällig. Wenn man aber den kurzen Eingangskorridor passiert hat, glaubt man in einem italienischen Palazzo von traumhafter Schönheit zu sein. Der große quadratische Lichthof, der durch 3 Stockwerke hindurchgeht und oben durch ein Glasdach abgeschlossen ist, enthält eine zauberhafte Gartenanlage mit einer unendlichen Fülle in allen Farben leuchtender Blumen, Blattgewächse und Palmen. Der Kontrast mit der noch ganz winterlichen Außenwelt (es lag noch Schnee auf den Straßen) war umso eindrucksvoller, als man keine Treibhaus-Atmosphäre fand, sondern die Luft angenehm temperiert war. Diesen Hofgarten umgeben Säulengänge und 4 Wände in schönster venezianischer Spitzbogengotik mit offenen Galerien, von denen man in die Säle und Zimmer gelangt. Diese sind als Wohnräume eingerichtet, gefüllt mit wunderbaren Gemälden, Skulpturen und kunstgewerblichen Schätzen; mit Giotto beginnend, sind die besten italienischen Meister der Renaissance vertreten: Raffael, Giovanni Bellini, Andrea del Sarto, Tintoretto usw., aber auch die großen holländischen und deutschen Meister, Lucas Cranach und der jüngere Holbein. Daneben auch moderne Spanier, Franzosen, Schweden und Amerikaner.

Ein schönes Konzert des großen Bostoner Symphonieorchesters hörten wir: ein rein deutsches Programm (Arnold Schönbergs Symphonisches Poem, Pelleas und Melisande, h-moll Symphonie von Schubert, Till Eulenspiegel von R. Strauss). In Philadelphia war ich in der alten Independence Hall, wo die liberty bell aufbewahrt wird, die an jedem Jahrestage der Unabhängigkeitserklärung geläutet wurde, bis sie zersprang. Außerdem sah ich das noch unfertige, schöne Kunstmuseum, das etwas erhöht, als Abschluß eines neu angelegten Prachtstraßenzuges liegt, der flankiert ist von einzelnen, ebenfalls neuen Prachtbauten, alle von Bürgern gestiftet, so z. B. eine wundervolle öffentliche Bibliothek und ein Rodin-Museum.

Die einzige Stadt mit dem Gepräge einer europäischen Großstadt und Residenz ist Washington. Das war nur dadurch möglich, daß die Stadt nach einem bestimmten Plan angelegt worden ist: sehr schöne breite, mit alten Baumreihen bepflanzte Straßen, die sternförmig zu den vielen großen Plätzen führen, mit je einem Denkmal als Zentrum. Das Kapitol ist ein sehr eindrucksvoller, etwas erhöht gelegener Bau, die Congress Library eine der größten und schönsten öffentlichen Bibliotheken, die ich je gesehen habe. Die nähere Umgebung der großen Städte im Osten ist ziemlich gleichartig: ein hügliges Gelände mit etwas Wald und Bächen, aber bei weitem nicht so reizvoll wie die Umgebung von Berlin. Aber der Vergleich mit den Villenvororten des Grunewalds drängt sich auf, weil auch da die bemittelten Leute im Walde wohnen, wo sie die Gluthitze der 4 heißen Monate allenfalls ertragen können. Landschaftlich weit reizvoller sind natürlich die Städte im Seengebiet, von denen ich Buffalo, dessen große Attraktion die in nächster Nähe gelegenen Niagara-Fälle bilden, sowie Chicago und Milwaukee am Michigan-See gesehen habe. Der See ist dort etwa 100 km breit und hat einen prachtvollen Strand. Zwischen Chicago und San Francisco liegt ein Gebiet von etwa 3300 km Durchmesser, welches von schnellsten Zügen in 2 Tagen und 3 Nächten durchquert wird. In großen Abständen voneinander liegen einander parallele, von Nord nach Süd ziehende Gebirgszüge der Rocky Mountains und der Sierra Nevada. Leider passierten wir sie in der 2. Nacht unserer Eisenbahnreise. Tagsüber fuhr man hunderte von Kilometer durch trostlose Wüste ohne ein lebendiges Wesen. Die einzige landschaftlich hochinteressante Gegend, durch die wir auf dieser Strecke bei Tage kamen, ist die Umgebung von Ogden in Utah und der von schneebedeckten Bergen umrahmte wunderbare große Salzsee, über den der Schnellzug 1 Stunde lang auf schmalem Damm fährt. 28 % Salzgehalt, keine Fische. Riesenflächen in der Umgebung des Sees sind mit weißer Salzkruste bedeckt, der See war also früher noch sehr viel größer. Am 3. Morgen der Fahrt sieht man statt der Wüstenlandschaft zu seiner angenehmen Überraschung herrlichstes Grün, Palmen, Zedern, Orangen, Agaven, Kakteen: das Wunderland Kalifornien.

Die Zeit reicht nicht, um die Schönheit der Lage San Franciscos, das auf einer schmalen Landzunge zwischen dem Ozean und der mit ihm durch das Golden Gate verbundenen Bucht liegt, näher zu beschreiben. In der nächsten Nähe auf dem Festland, durch Fähren rasch und bequem erreichbar, liegen sehr schöne Höhenzüge bis zu 800 m Höhe mit herrlichen Waldungen und kleineren Tälern mit zahlreichen Ortschaften, wo ein großer Teil der tagsüber in San Francisco beschäftigten Bevölkerung wohnt und nur das Wochenende verbringt. Ein solches, das wir als Gäste eines befreundeten Kollegen weilen durften, wird uns unvergeßlich bleiben. Derselbe Freund, ein aus dem Ötztal stammender, aber seit 40 Jahren in Kalifornien lebender Tiroler, brachte uns in 8-stündiger Fahrt in seinem Wagen nach dem Yosemite National Park. Er liegt etwas südlich und ein paar Stunden östlich von der Küste. Sein Zentrum bildet ein schmales, etwa 1200 m hoch gelegenes, von einem schönen Fluß durchströmtes Tal, umrahmt von bewaldeten, bis ca. 2500 m hohen Bergen, mit glatten, zum Teil senkrecht abstürzenden graugelben Felswänden; im Hintergrund die Kette der über 4000 m hohen Sierra Nevada. Drei mächtige Wasserfälle stürzen viele hundert Meter in freiem Fall in die Tiefe. Der schönste Punkt ist ein senkrecht über der Hauptsiedlung des Tales gelegener Glacier Point mit einem herrlichen Rundblick, in dichtem Hochwald gelegen. Wir verbrachten dort einen wunderbaren Abend und Morgen als einzige Gäste eines gemütlichen Touristenhauses. Da alles Naturschutzgebiet ist, konnten wir die gar nicht scheue Tierwelt, entzückende Vögel und zahlreiche kleine Nager, den Eichhörnchen ähnlich, aber viel kleiner, aus nächster Nähe beobachten. Im Tal spazieren auch Bären herum, die man abends an der Futterstätte sehen kann. Am nächsten Tag besuchten wir den Wald mit den weltbekannten Baumriesen (red wood), deren ältester seit etwa 3800 Jahren steht, bis zu 100 m hoch, bis 11 m im Durchmesser. Viele von Ihnen werden das Bild eines dieser Bäume gesehen haben, durch den die Straße führt und große Autobusse bequem durchfahren können. Im Tal ist ein dem Charakter der Landschaft in geradezu idealer Weise angepasstes Hotel, dessen Einrichtung von erlesenem Geschmack zeugt, wie man ihn leider bei der großen Mehrzahl der Schweizer Luxushotels nicht findet. Außer dem Hotel gibt es zahlreiche kleine Blockhäuser mit je 2 Zimmern zu mieten, einfach, aber tadellos gehalten, selbstredend mit Bad und Dusche.

Drei Autostunden und eine Nachtfahrt im Schlafwagen brachten uns nach Los Angeles. Es liegt eine Stunde entfernt von der Küste. Das Innere der City ist reizlos, die eleganten Vororte, wo auch die Filmstars wohnen (Berverly Hills, Pasadena), sind schön angelegt. Hollywood ist gar nicht von L.A. abzugrenzen und verliert allmählich seine Bedeutung als Zentrale der Filmproduktion. Das größte und gediegenste Studio (Metro-Goldwyn-Meyer) liegt in L.A. selbst und wir haben es gründlich besichtigt, da wir bei einem der leitenden Manager eingeführt waren. Nach 2 Tagen ging es wieder ostwärts mit einer letzten kurzen Unterbrechung am Grand Canyon, dem großartigsten Naturwunder, das wir sehen durften. Wenn man einen Nachmittag und eine Nacht von L.A. gefahren ist und dabei, ohne es zu ahnen, auf ein Hochplateau von 2400 m gelangt ist, steigt man früh in einem etwas dürftigen Nadelwald aus, geht ein paar Schritte in Richtung auf eine Gaststätte und steht plötzlich am Rande eines Erdspalts, in dessen Grunde, 1600 m tiefer, der Colorado River strömt. Da, wo man steht, ist der Spalt 25 - 30 km breit; auch sein gegenüberliegender Nordrand ist völlig glatt, wie mit dem Lineal gezogen, weit und breit gibt es keine Bodenerhebung. Aber das Gebirge, das man sieht, liegt zu unseren Füßen im Erdspalt, als wenn eine in Formen und Farben gleich wunderbare Welt von der sich öffnenden Erde verschlungen worden wäre. Wir sehen hinab auf ein Gebirge, das in seinem Formenreichtum an die Dolomiten, speziell an die Sellagruppe im Grödner Tal erinnert, diese aber in ihrem Farbenreichtum weit übertrifft. Ganz in der Tiefe ist der Fluß von schwarzen, fast senkrechten Felswänden eingeschlossen. Oberhalb derselben erheben sich die tempel- oder burgähnlichen Berge, getrennt durch quer- und schrägverlaufende Schluchten, schimmernd in den mannigfachsten Schattierungen von Rot, Gelb, Grün, Blau und Grau. Namentlich das Rot, von dem es alle Nuancen zwischen zartviolett und gelbem Zinnober gibt, ist im Morgendunst und in der Abenddämmerung geradezu überwältigend. Das ganze Bild ist so einzigartig, trotz allem, was man von grandiosen Schöpfungen der Natur in Erinnerung hat, daß man förmlich betäubt und sprachlos in stummer Andacht vor dem Erhabenen und Geheimnisvollen dieses Bildes steht. Man hat Zeit von früh bis Abend, leider nicht genug, um herunter zum Fluß zu gehen oder zu reiten, was 4 - 5 Stunden in Anspruch nimmt. Aber man möchte natürlich so viel und so gründlich wie möglich die wesentlichen Einzelheiten kennenlernen und fragt nach im Informationsbureau. Dort erhält man die typisch amerikanische Antwort: „OK, we will keep you busy all day.” Das ist nicht ganz billig, aber es wird einem auch viel geboten. Autofahrten den Südrand entlang zu den schönsten Punkten desselben, sehr geschickte Vorträge von Fachleuten über die Entstehung des Grand Canyon, die etwa 500 Millionen Jahre beansprucht hat, und über die verschiedenen Erdschichten. Man steht ja auf dem Meeresgrund, überall Muscheln auf dem Boden, versteinerte Baumreste, Abdrücke der vorgeschichtlichen Tierwelt. Zahlreiche Fernrohre sind auf besonders charakteristische Punkte des Gebirges eingestellt. Wir hörten den Vortrag eines Mannes, der als erster das gefährliche Wagnis der Bootsfahrt auf dem Colorado River durch den ganzen Spalt unternommen hatte, mit kinematographischen Aufnahmen in einem kleinen, sehr interessanten Museum. Es gab Ausstellungen der kunstgewerblichen Arbeit der indianischen Urbevölkerung, deren Reste noch dort angesiedelt sind und die sich in Nationaltracht und Tänzen produzieren. Den schönsten, weitumfassendsten Ausblick hat man von dem alten indianischen Wachturm aus über die ungeheure Wüstenlandschaft des Hochplateaus, in das der Canyon eingeschnitten ist, und die schneebedeckten Gipfel der Sierra in weiter Ferne.

Auf die geologischen Einzelheiten der Entstehung des Canyons einzugehen ist hier nicht möglich. Wer nicht gewohnt ist, die Geschichte der Erde in Millionen und hunderten von Millionen von Jahren zu entwickeln, vermag all das nicht zu fassen, geschweige denn gemeinverständlich darzustellen. Es will unsereinem nicht einleuchten, daß dieses merkwürdige Gebilde nicht auf ein plötzliches Naturereignis zurückzuführen ist und daß das Hochplateau, durch ungeheure Zeiträume getrennt, einst Meeresboden war. Am Abend reißt man sich schwer von diesem einzigartigen Erlebnis los, um wieder seinen Schlafwagen zu besteigen und in die moderne Welt zurückzukehren.”

Es folgt die Beschreibung des damals sehr billigen und bequemen Reisens per Zug über große Entfernungen in den USA, das es heute kaum noch gibt.

„Ich möchte jetzt noch etwas über den Bildungsweg der Jugend, speziell die Ausbildung und spätere Tätigkeit der Mediziner, sagen. Jeder junge Mensch, der sich nicht mit dem, was Volks- und Mittelschulen bieten, begnügen will, geht nach Absolvierung der letzteren mit 18 Jahren auf ein College, was eine Art Mittelding zwischen Gymnasium und Universität darstellt. Die meisten Colleges sind Privatstiftungen, wobei es aber auch staatliche Anstalten gibt. Nach 4-jähriger Ausbildung erwirbt man den Baccalaureus-Grad in Geistes- oder Naturwissenschaften. Das College bereitet nicht auf den Beruf vor, sondern vermittelt nur allgemeine Bildung. Der Unterrichtsstoff entspricht dem unserer beiden letzten Gymnasialjahre und den ersten 2 Jahren eines philosophischen Studiums. Sehr viele Studenten gehen danach in kaufmännische oder andere nicht akademische Berufe. Der Betrieb im College ist sehr viel schulmäßiger als auf unseren Universitäten. Die jungen Leute werden dauernd kontrolliert, erhalten Aufgaben und werden wöchentlich oder monatlich geprüft. Nur die Wahl der Fächer, in denen sie etwas lernen wollen, bleibt den Studenten überlassen. Die Zahl der Colleges beträgt nahezu 1000, und sie sind so ungleichmäßig in ihrer Qualität, daß die American Medical Association ein Verzeichnis der Colleges aufgestellt hat, die den Anforderungen genügen, die an die Vorbildung der künftigen Mediziner zu stellen sind. Das College ist der Kern der amerikanischen Universität. Es wird zur Universität durch Angliederung weiterer Schulen, z. B. der Medizin- und Rechtsschule, als Fakultäten. Eine der renommiertesten, die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, verfügt nur über eine medizinische und philosophische Fakultät, jedoch gehören zu ihr eine Ingenieur- und Handelsschule, Lehrerseminar usw. Der zukünftige Mediziner holt sich am College die Vorbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern, eventuell daneben Psychologie, Mathematik, Bakteriologie und Geschichte der Medizin. Vom Ausfall des Abschlußexamens und der Beurteilung seiner menschlichen Qualitäten hängt es ab, ob der Student nach Ablauf seiner 4-jährigen College-Ausbildung zum Studium an einer Medical School zugelassen wird. Alle Medical Schools haben einen strengen Numerus clausus, die Reaktion auf die unmöglichen Zustände, die hier bis zum Jahre 1870[2] herrschten. Früher gab es ungezählte Medical Schools, die ohne staatliche Befugnisse und ohne über geeignete Kräfte und Lehrmittel zu verfügen, die Approbation verliehen und das Land mit ganz minderwertigen Ärzten versorgten.

Von den vielen Hunderten von Studenten, die sich jährlich um die Aufnahme an der Medical School bewerben, wird nur ein kleiner Bruchteil von der Johns Hopkins Medical School, z. B. nur 75, angenommen. Dieses sind Leute mit den allerbesten Zeugnissen und außer diesen werden Gutachten von mindestens 2 College-Lehrern über Charakter und Leistung der Kandidaten verlangt, die schließlich in einer Besprechung mit einer Aufnahmekommission und einer besonderen Prüfung ihre Eignung erweisen müssen.”

Ich war 11 Jahre lang Mitglied der Medizinischen Fakultät der Johns-Hopkins-Universität und weiß aus eigener Erfahrung, dass sich bis heute an diesem elitär ausgerichteten Ausleseverfahren für angehende Medizinstudenten kaum etwas geändert hat.

„Wer von der einen Medical School nicht angenommen wird, bewirbt sich bei einer anderen, weniger anspruchsvollen, noch einmal. Aber schließlich kommt doch nur kaum die Hälfte zur Aufnahme. Die übrigen studieren entweder weiter und bewerben sich im folgenden Jahr wieder, satteln um oder gehen ins Ausland, vor allem nach Kanada und Großbritannien oder in die übrigen europäischen Länder, wo sie den Doktorgrad erwerben und nach ihrer Heimkehr im Staatsexamen derart schlecht abschneiden, daß die europäische Universität dadurch schwer kompromittiert wird. Aus einer sehr interessanten Übersicht der AMA über das Resultat der Staatsprüfung von während der Jahre 1928 - 1931 im Ausland Studierenden ergibt sich, daß nur die in London und Edinburgh ausgebildeten Ärzte ihr Staatsexamen in den USA bestanden. Daß nicht weniger als 85 % der in Europa promovierten Amerikaner drüben durchfielen, bedeutet eine ernste Mahnung an unsere Fakultät, die übel angebrachte Nachsicht in der Prüfung von Ausländern aufzugeben.

Den Schwerpunkt des medizinischen Unterrichts bildet in Amerika nicht die große Vorlesung, sondern die Kurse im Laboratorium und am Krankenbett. Wesentlich ist, daß bei der kleinen Zahl von Studenten jeder einzelne vom Dozenten gekannt und beraten werden kann. An der Johns-Hopkins-Universität werden die Studenten in kleinen Gruppen unterrichtet, die für eine gewisse Zeit ausschließlich für ein bestimmtes Fach arbeiten, entweder normale oder pathologische Anatomie oder eines der klinischen Fächer. Die Studenten machen von früh bis Abend den ganzen Institutsbetrieb mit, stets geleitet und beraten von ihren Lehrern. Einmal in der Woche kommt die sonst in kleine Gruppen aufgelöste Klasse zusammen. Dann referieren Vertreter der einzelnen Gruppen über das, was sie in der Woche gearbeitet haben. Schwierige Themen werden vom Professor erläutert. Nur zur Einführung in die einzelnen Fächer gibt es Vorlesungen einmal wöchentlich. Was nun die Lehrkräfte anlangt, so sind diese naturgemäß noch sehr ungleichmäßig. Die besten medizinischen Fakultäten, wie zum Beispiel Harvard oder Johns Hopkins, haben sogenannte Full-Time-Professoren. Ihr Gehalt ist so anständig, daß sie keine Einnahmen aus der Privatpraxis brauchen. Werden Privatpatienten seiner Klinik überwiesen, so liquidiert nicht der Professor, sondern die Fakultät für ihre Kasse. Die große Mehrzahl der Lehrkräfte sind aber Ärzte, die neben ihrem Unterricht noch Privatpraxis betreiben. Die Examina spielen drüben keine solche Rolle wie hier, da bei der großen Anzahl der Dozenten jeder Student und dessen Leistung den Lehrern sehr genau bekannt ist. Ein Student, der sich nicht bewährt, kann am Schluß eines jeden Jahres ohne Prüfung vom weiteren Studium ausgeschlossen werden. Beim Schlußexamen fällt das Urteil des Dozenten über die Leistung der Studenten während des Lehrgangs sowie etwaiger wissenschaftlicher Arbeit des Studenten stark ins Gewicht. Ein Wechsel der Universität während des Studiums an einer Medical School kommt fast nie in Betracht, wegen des Numerus clausus und der Verschiedenheit des Lehrplanes. Nach Ablauf der 4 Jahre gibt es den Doktorengrad.”

Ein besonderes Promotionsverfahren aufgrund einer Dissertation gibt es für das medizinische Doktorat in Amerika nicht, wohl aber zur Erwerbung des Doktorentitels in anderen Fächern. Nach Abschluss des medizinischen Studiums erhält der frischgebackene amerikanische Arzt automatisch den Titel M.D. (medicinae doctor).

„Nach Beendigung des Studiums kommt ein praktisches Jahr (internship) in einem dazu von der American Medical Association autorisierten Krankenhaus und dann erst das Staatsexamen, dessen Bestehen Voraussetzung für die Approbation ist. Das Examen wird nicht von den Professoren, sondern von einer staatlichen, aus praktizierenden Ärzten bestehenden Kommission abgehalten und besteht aus einer ausschließlich schriftlichen Prüfung. Dieses ist einer der schwachen Punkte in dem sonst wirklich vortrefflichen System.”

Darüber kann man auch anderer Auffassung sein, weil das Ergebnis einer schriftlichen Prüfung objektiver ist und von allen Prüflingen das gleiche Wissen verlang wird.

„Das Examen gilt aber im allgemeinen nur für den betreffenden Staat. Jedoch hat eine Anzahl von Staaten, die gleich hohe Anforderungen stellen, gegenseitige Anerkennung der Prüfung vereinbart. Dazu gibt es noch eine private, nationale Prüfungsbehörde, deren Prüfung (national boards) aufgrund der dort verlangten Höchstleistung von fast sämtlichen Staaten anerkannt wird.”

Bielschowsky beschreibt am Ende seiner Aufzeichnungen noch, dass sich in Amerika sehr viele Ärzte in Gruppenpraxen zusammengeschlossen haben, um Unkosten zu sparen. Als Vorbild für einen derartigen beruflichen Zusammenschluss, den es 1934 in Deutschland wohl noch kaum gab, führt er die berühmte Mayo-Klinik an.

1 Herrn Prof. Dr. med. Herbert Kaufmann zum 65. Gebursttag gewidmet.

Literatur

  • 1 Kaufmann A. Alfred Bielschowsky (1871 - 1940). Ein Leben für die Strabologie. Deutsche Hochschulschriften Nr. 1042. Egelsbach; Verlag Hänsel-Hohenhausen 1994

1 Herrn Prof. Dr. med. Herbert Kaufmann zum 65. Gebursttag gewidmet.

2 Hier irrte B. sich im Datum. Dieser Zeitpunkt war erst 1910, als die Carnegie Foundation den so genannten Flexner Report veröffentlichte. Es handelt sich bei diesem Bericht um das Ergebnis jahrelanger Untersuchungen über die medizinische Ausbildung in den USA und Kanada. Abraham Flexner war ursprünglich Schullehrer, der sich zunächst an der Harvard-Universität in Boston und dann in Berlin weiter ausbildete und schließlich Gründer und erster Direktor des Institute of Advanced Science an der Princeton University wurde. Von der Carnegie Foundation erhielt er den Auftrag, die Qualität der medizinischen Ausbildung an den damals 155 Medical Colleges auf dem nordamerikanischen Kontinent auszuwerten. Das Ergebnis dieser Arbeit was sensationell und löste nicht nur eine weitgehende Ausbildungsreform aus, sondern zwang viele dieser Colleges, denen es oft mehr um den Profit als um die Ausbildung von Ärzten ging, umgehend ihre Pforten zu schließen. Interessanterweise orientierte sich das Flexner’sche Modell vornehmlich am System der deutschen ärztlichen Ausbildung.

G. K. von Noorden

Longboat Key, Florida