Arbeitslosigkeit zieht stets einschneidende finanzielle Einbußen nach sich, die bei
einem großen Teil der Arbeitslosen so weit gehen, dass sie unterhalb der Armutsgrenze
leben. In Deutschland lag die Armutsquote der Arbeitslosen im Jahr 2003, also noch
vor „Hartz IV”, bereits bei 41 % [1]. Ebenso kann unfreiwillige, länger anhaltende und hinsichtlich ihrer Beendigung
ungewiss verlaufende Arbeitslosigkeit zahlreiche negative psychosoziale Effekte hervorrufen,
die körperliche Gesundheit schädigen und das Mortalitätsrisiko erhöhen, wie dies die
internationale Forschung inzwischen hinreichend dokumentiert hat. Unter Abwägung der
von der Arbeitslosigkeit ausgehenden Belastungseffekte im Bereich der psychischen
und physischen Gesundheit hat die WHO [2] die seit Mitte der 1970er-Jahre expandierende Massenarbeitslosigkeit in den Ländern
der OECD als „große epidemiologische Katastrophe” bezeichnet.
Innerhalb dieser Gesamtproblematik nimmt der Zusammenhang von Sucht und Arbeitslosigkeit
einen gewichtigen Stellenwert ein. Insbesondere angloamerikanische und skandinavische
Studien haben schon lange belegt, dass die Arbeitslosigkeit Risikopotenziale impliziert,
die eine Suchtentstehung und eine Intensivierung bereits bestehender Suchtprobleme
deutlich begünstigen können [3]
[4]. So zeigten z. B. schwedische Längsschnittuntersuchungen an einer großen Stichprobe
Jugendlicher, dass das Risiko mit dem Rauchen zu beginnen für arbeitslose Mädchen
2-mal und für arbeitslose Jungen 1,5-mal höher war als für berufstätige gleichen Alters
[5]. Catalano (1997) [6] kam auf der Grundlage von Daten der für die Bevölkerung der USA repräsentativen
„Epidemiologic Catchment Area Study” zu dem Ergebnis, dass die Zahl derer, die Symptome
einer Alkoholabhängigkeit aufwiesen, in der Gruppe der Arbeitslosen nach einjähriger
Arbeitslosigkeit signifikant stärker angewachsen war als bei Personen mit gleich langer
ununterbrochener Erwerbstätigkeit. Diese Differenz blieb stabil bei Kontrolle des
Alters, der ethnischen Zugehörigkeit, des sozioökonomischen Status und Familienstands.
Anhand der nationalen Mortalitätsstatistik Finnlands konnte nachgewiesen werden, dass
die alkoholbedingte Sterblichkeitsrate in der Gruppe der Männer, die in den Jahren
1981 bis 1985 für längere Zeit arbeitslos waren, in diesem Zeitraum um das Fünffache
stärker angestiegen war als in der nach Alter, Sozialschicht und Familienstand parallelisierten
Kontrollgruppe der Berufstätigen [7]. Auch die umgekehrte Wirkungsrichtung, dass ausgeprägte Alkoholprobleme das Risiko
deutlich erhöhen, arbeitslos zu werden und relativ lange Zeit zu bleiben, ist vielfach
empirisch belegt. Aktuelle Studien haben beide Wirkungszusammenhänge erneut bestätigt.
Das dokumentierte die internationale ICOH-Expertenkonferenz „Unemployment and Health”,
die im September 2004 an der Universität Bremen stattfand [8].
Besonders gravierende Probleme bestehen im Bereich der Suchtrehabilitation bzw. Suchtbehandlung.
Damit befasst sich das vorliegende Heft. Wie Dieter Henkel und Peter Grünbeck zeigen,
hat sich die Arbeitslosenquote unter den alkoholabhängigen Rehabilitanden von 1975,
dem Beginn der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, von 7 % auf 37 % im Jahr 2003
erhöht und damit erheblich stärker als die allgemeine Arbeitslosenquote. Mit dieser
Entwicklung hat die Effektivität der Suchtrehabilitation kaum Schritt halten können.
Das gilt für beide Hauptziele suchtrehabilitativer Maßnahmen: Wiedereingliederung
in Arbeit und Abstinenz bzw. Reduktion von Rückfallrisiken. In der Gruppe derer, die
als Arbeitslose in die Behandlung kamen, betrug die Quote der beruflich Reintegrierten
2 Jahre nach der Rehabilitation lediglich 20 %. Das Alkoholrückfallrisiko der Arbeitslosen
ist 2-mal höher als das der Erwerbstätigen, sogar 3,5-mal höher für eine Rückkehr
in die frühere Alkoholabhängigkeit (s. den Beitrag von Dieter Henkel, Peer Dornbusch,
Uwe Zemlin).
Damit ist im Zuge der Massenarbeitslosigkeit folgende Problemlage entstanden: Dort,
wo die Nachfrage nach suchtrehabilitativen Maßnahmen am stärksten angewachsen ist,
nämlich in der Gruppe der arbeitslosen Alkoholabhängigen, ist die Effektivität der
Rehabilitation am geringsten.
Die Arbeitslosigkeit hat sich zu einer der größten Herausforderungen entwickelt, mit
denen sich die Suchtrehabilitation gegenwärtig konfrontiert sieht. Notwendig sind
erhebliche Anstrengungen für weitere Intensivierungen und Systematisierungen von Maßnahmen
zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben (s. dazu die Artikel von Uwe Zemlin und
Volker Weissinger) und ebenso die Entwicklung gezielter rückfallpräventiver Programme
für die Arbeitslosen. Die dazu erforderlichen empirischen Grundlagen und Orientierungspunkte
für die Praxis sind dem Beitrag von Dieter Henkel, Peer Dornbusch und Uwe Zemlin zu
entnehmen.
Doch man muss hier klar sehen, dass signifikante Erhöhungen der Effektivität der Suchtrehabilitation
nur dann zu erreichen sind, wenn es gelingt, die Massenarbeitslosigkeit substanziell
zu verringern. Nach den vorliegenden Arbeitsmarktprognosen des Instituts für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit ist bis zum Jahr 2015 nur ein
langsamer und moderater Zuwachs des Arbeitskräftebedarfs zu erwarten und dies auch
nur in Westdeutschland [9]. Dabei kommt es aber selbstverständlich darauf an, welchen Handlungsspielraum sich
die Politik, die Gewerkschaften u. a. m. verschaffen, um auf die ökonomischen Prozesse
im Sinne von mehr Beschäftigung Einfluss zu nehmen.