PPH 2006; 12(1): 42-43
DOI: 10.1055/s-2005-859007
Blick ins Ausland

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

In Schweden ist manches anders …

Zu Besuch in schwedischen Einrichtungen für psychisch KrankeD. Falkenstein1
  • 1Dr. Dorothe Falkenstein M.A., Jahrgang 1956, arbeitete mehrere Jahre in der stationären und ambulanten psychiatrischen Pflege, promovierte an der Universität Witten/Herdecke über die Geschichte der psychiatrischen Pflege, arbeitet zurzeit als freie Autorin und Referentin
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. März 2006 (online)

Im Rahmen des 3. Treffens der European Psychiatric Nursing History Group in Stockholm war es einigen Teilnehmern je nach Interessenlage möglich, verschiedene psychiatrische Einrichtungen zu besuchen.

Mich interessierten insbesondere Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsplätze für psychisch erkrankte Menschen.

Die schwedische Gastgeberin, Dr. Gunnel Svedberg, Senior Lecturer at the Department of Nursing, Communication and Mental Health Unit, Karolinska Institute, zeigte mir drei sehr unterschiedliche Einrichtungen in Stockholm bzw. in der näheren Umgebung.

Um das Ausbildungssystem und das Sozialsystem in Schweden zu verstehen, sind zwei Aspekte bedeutsam:

Sowohl die Pflege als auch die Beschäftigungstherapie und die Sozialarbeit (u. a.) sind seit langem akademische Berufe. Der normale Abschluss ist der Bachelor, alle Studiengänge bieten aber Weiterqualifizierungsmöglichkeiten zum Master oder PhD. Das Studium der Krankenpflege umfasst immer auch die psychiatrische Pflege. Es gibt daneben psychiatrische Pflegekräfte, die in klinikeigenen Schulen ausgebildet werden (3 Jahre). Diese haben jedoch kaum Chancen, Führungspositionen einzunehmen. Vor 10 Jahren wurde die Verantwortung für die Versorgung psychisch Kranker, Abhängigkeitskranker, hilfsbedürftiger älterer Menschen und körperlich und geistig Behinderter in die Verantwortung der Gemeinden verlagert. Konkretisiert wurde diese Verantwortlichkeit und ihre Einklagbarkeit durch den „Social Services Act” im Jahr 2002, in dem alle Hilfsangebote und Rechte aufgelistet sind.

Es gibt kleinere Einheiten (in der Regel Landkreise oder mehrere Stadtteile wie in Stockholm), die ein bestimmtes Budget zur Verfügung haben und damit eigene Versorgungskonzepte entwickeln. Große Psychiatrien gibt es nicht mehr; an ihre Stelle traten kleine Stationen an Allgemeinkrankenhäusern, Krisenzentren, ambulante Dienste, Wohngruppen etc. Die Berufsgruppen arbeiten gleichberechtigt; meist sind es Sozialarbeiter, die z. B. nach einer Krise oder einem Krankenhausaufenthalt mit dem Patienten (manchmal zusammen mit dem Arzt) entscheiden, welche Hilfe der oder die Betreffende weiter in Anspruch nehmen möchte und wo die dementsprechenden Partner sind. Die Bezahlung der im Sozialwesen Tätigen ist sehr unterschiedlich und wird direkt mit dem Arbeitgeber ausgehandelt. So kann es sein, dass in der einen Einrichtung die Krankenschwester mehr als der Sozialarbeiter verdient und in einer anderen Einrichtung die Beschäftigungstherapeutin die höchste Bezahlung erhält.

Das erste besichtigte Beschäftigungszentrum liegt ca. 10 km außerhalb Stockholms. Es ist von außen nicht von den anderen Wohnhäusern im Stadtteil und in der Straße zu unterscheiden. Als Besucherin spürt man sofort die freundliche, angenehme und von Respekt geprägte Atmosphäre, die zwischen Betreuerinnen (drei Ergotherapeutinnen) und den Beschäftigten besteht. Helle, freundliche Räume, viele PCs, Werkstätten und ein Aufenthaltsraum mit Blumen und Aquarium. Die 40 Beschäftigten, mehr Frauen als Männer, haben meist eine längere Krankheitsgeschichte hinter sich mit der Diagnose „Psychose”.

Es sind jedoch nie mehr als 10 - 15 Beschäftigte anwesend, da die Arbeitszeit und die Arbeitsdauer sehr unterschiedlich sind, z. B. 2 × 2 Stunden in der Woche oder 5 × 4 Stunden in der Woche. Sowohl die Arbeitszeit als auch die Art der Arbeit wird mit den Betreuerinnen festgelegt. Es gibt jedoch keine Beliebigkeit. Wenn jemand nicht zur vereinbarten Zeit erscheint, erfolgt sofort ein Anruf oder der oder die Betreffende wird, wenn es sinnvoll ist, zu Hause abgeholt. Bei schwereren Krisen wird der zuständige Sozialarbeiter, der die sozialen Dienste im Bezirk koordiniert (dazu gehören in diesem Fall drei Stadtteile), informiert.

Die Einrichtung bietet drei große Arbeitsbereiche an: einen kunsthandwerklichen (Woll- und Stoffwaren), einen drucktechnischen (Visitenkarten, Kalender, Geschenkkarten mit z. T. selbst geschöpftem und gefärbtem Papier) und einen Fortbildungsbereich (PC-Kurse, Englisch-Kurse). Ergänzend kommt der verwaltungstechnische Bereich hinzu (eigene Abrechnungen, Ein- und Verkäufe, städtische Gelder, Verkaufserlöse etc.). Jede der Mitarbeiterinnen ist zugleich Spezialistin in einem Bereich.

Die Einrichtung erhält pro Jahr 1,8 Millionen Kronen (ca. 200 000 €). Davon müssen die Räume, die Gehälter und die Fixkosten bezahlt werden. Die Erlöse aus den hergestellten Waren fließen zurück in die Einrichtung und werden nicht auf das Budget angerechnet.

Einmal im Jahr unternehmen alle Beschäftigten und Leiterinnen eine Kreuzfahrt, auf der, neben einem festlichen Dinner, Entscheidungen für das nächste Jahr getroffen werden, z. B.: Sollen Arbeitsplätze umgestaltet werden? Sollen neue Materialien angeschafft werden? Aber auch: Möchte jemand auf einen anderen Arbeitsplatz? Möchte jemand mehr oder weniger arbeiten?

Die Entscheidungen werden in einem Buch festgehalten, das jederzeit zugänglich ist.

Für deutsche Ohren und Augen klingt manches zu schön oder sieht zu idyllisch aus, aber natürlich ist es keine Idylle. Es gibt Auseinandersetzungen, es gibt Krisen, aber es gibt auch immer wieder Lösungen.

Es ist berührend zu erleben, wie seelisch erkrankten Menschen mit Freundlichkeit und Respekt begegnet wird und der Begriff „Partnerschaft” keine hohle Formel ist.

Die nächste Einrichtung ist Teil eines großen Rehabilitationszentrums am Rande der Stadt, eingebettet in einer Park- und Seenlandschaft. Es gab dort schon immer Gesundheitseinrichtungen; auch eine neue Reha-Klinik entstand hier.

Die älteren Gebäude werden für Fortbildungskurse, als Sportstätten, Gärtnereibetriebe und Werkstätten für psychisch Kranke genutzt. In der ehemaligen (protestantischen) Kirche[1] ist eine Cafeteria eingerichtet, die unter Anleitung einiger Fachkräfte von psychisch Kranken betrieben wird. Es ist ein heller Ort, die herbstliche Dekoration ist ansprechend.

Aus einem großen Umkreis kommen Menschen dorthin, die die Gemeinschaft suchen, einen Fixpunkt am Tag brauchen und über wenig Geld verfügen, aber auch die Mitarbeiter der zahlreichen Einrichtungen und Gäste. Für Gäste kostet das Essen 40 SKR (ca. 4,40 €), für regelmäßige Besucher (man kennt sich!) 30 SKR (ca. 3,30 €). Das Essen ist lecker (an diesem Tag asiatisch, Salatbüffet), das Publikum alters- und geschlechtgemischt und die Atmosphäre ruhig, freundlich und entspannt. Um die Einrichtung näher kennen zu lernen, wäre mehr Zeit nötig gewesen.

Die dritte Einrichtung, zentral im Innenstadtbereich gelegen, führt in eine andere Welt. Eine typische schwedische zweigeschossige Holzvilla ist einem Selbsthilfeverein für psychisch Kranke zur Verfügung gestellt worden.

Man fühlt sich in die Kommunezeiten der 70er-Jahre versetzt: löchrige Plüschsofas, schummriges Licht, benutztes Geschirr auf den Tischen, eine tuckernde Kaffeemaschine. In einer Ecke schläft ein Besucher, ein anderer, aus Deutschland stammender junger Mann, zieht mich sofort ins Gespräch (er wusste, dass ich an diesem Vormittag komme). Ich wäre bestimmt geschockt über den Zustand der Wohnung, es gäbe keine Profis, das wäre das Wichtigste, es sei ein Ort, wo man immer hingehen könne usw. Da ich einige Jahre in der ambulanten psychiatrischen Pflege gearbeitet habe, wo die Wohnungen oft unvergleichlich schlimmer aussahen, ich außerdem auch Selbsthilfegruppen kenne, ist das Äußere für mich weniger ein Thema als die Beziehungen der Besucher untereinander und das Management des Hauses. Wiederum der genannte Besucher: einerseits wäre es manchmal schön, wenn es sauberer wäre (zum Glück kämen manchmal gute Feen/Freiwillige, die sauber machten!), aber es sei ja auch schwer, sich aufzuraffen, und überhaupt dürfe man an psychisch Kranke keine Anforderungen stellen, das wäre in den professionellen Einrichtungen schon schlimm genug. Dieser Besucher ist allerdings psychisch recht stabil; für ihn ist das Haus Treff- und Fluchtpunkt, und so wird die Diskussion sehr angeregt und manchmal auch kontrovers.

Auf Nachfrage erzählt er, dass sich die Kontakte untereinander schwierig gestalteten, da jeder mit sich selbst beschäftigt sei. Freundschaften gebe es kaum.

Im oberen Geschoss gibt es einige Betten/Matratzen, die aber eigentlich nur für akute Notsituationen gedacht sind. Trotzdem ist der Anreiz groß, dort länger einzuziehen. Von Zeit zu Zeit wird über Regeln wie diese neu entschieden. Obdachlose werden nicht aufgenommen, Alkohol ist verboten und geraucht wird, nach internen Diskussionen, draußen. Die regelmäßigen Besucher müssen dem (beitragspflichtigen) Verein angehören, es gibt einen Vorsitzenden und 5 Stellvertreter, so dass das zuständige Gesundheitszentrum Ansprechpartner hat.

Es ist ein Balanceakt, aber es ist gut, dass es dieses Haus gibt. Allerdings: ohne Freiwillige würde es nicht funktionieren!

Fazit: Schweden ist immer gut für Überraschungen!

1 Die Schweden sind Weltmeister im „Umnutzen”. Nicht nur, dass die beschriebene Cafeteria in eine Kirche Einzug gehalten hat - die Tagung der Forschungsgruppe fand am ersten Tag in der ehemaligen Heilanstalt der Stadt Stockholm statt, heute Pädagogische Hochschule, und die Teilnehmer waren im ehemaligen Gefängnis von Stockholm (Hotel und Jugendherberge, das Ganze als Gesamtmuseum) untergebracht.

Dr. Dorothe Falkenstein

Breslaustr. 7

44236 Dortmund

    >