Der Begriff „neurotische Depression” gilt landläufig als eine „psychodynamische” Diagnose - wobei terminologische Vorläufer den noch nach der ICD-9 als „neurotische Depression” bezeichneten psychischen Zustand zunächst hauptsächlich um den Melancholie-Begriff bzw. in die Nähe zur „Hysterie” und zum „Neurasthenischen” rückten. Gaupp [9 ] sprach von der „Hystero-Melancholie”, Ziehen [6 ] von der „Melancholie der Hysterischen” oder Krafft-Ebing [13 ] von der „Melancholie auf hysterischer Grundlage”. Bumke [1 ] nannte die „nervöse Depression” oder auch „hysterische Depression”, Reichardt [16 ] die „reaktive Depression”, die er als „psychopathologische Reaktion” verstand, Kugler [14 ] sprach zunächst von „Neurosen der Depression”, dann von „depressiven Neurosen”. Dornblüth [5 ] beschrieb in seinem Lehrbuch für Studierende und Ärzte als „Psychoneurosen” die Neurasthenie, die Hysterie und die Psychasthenie und sprach von „neurasthenischen Depressionszuständen”. Bei Buzzard [2 ] bzw. Kugler [14 ] scheint der Begriff der „depressiven Neurose” bzw. „neurotischen Depression” erstmals aufzutauchen. Die „depressive Reaktion” wird möglicherweise erstmals von Reichardt [16 ] so benannt.
Neurotische Erkrankungen werden immer mit Psychoanalyse/Tiefenpsychologie und Freud in Verbindung gebracht, wenngleich Freud selbst die Benennung „neurotische Depression” nie verwendete. Sein bekanntester und in seiner theoretischen Gültigkeit heute immer noch empfehlenswerter Beitrag zur Depressionstheorie ist die Arbeit „Trauer und Melancholie” (8), wobei er folgende Rahmenbedingungen für die Entstehung einer Melancholie formulierte:
Einen narzisstischen Typus der Objektwahl , damit eine gewisse Übereinstimmung der inneren Bedürfnisse des Betroffenen mit äußeren Objekten, die entweder eigenen früheren oder ersehnten und idealisierten Eigenschaften entsprechen, die das Objekt stellvertretend repräsentieren muss, sowie
eine Irritation dieser Beziehung durch eine tatsächliche oder phantasierte Kränkung/ Verlustsituation, die schließlich zur Verinnerlichung des ambivalent geliebten-gehassten Objektes führt. Der Hass auf das einst äußere Objekt wüte nun im Inneren des Depressiven und richte sich gegen das Ich; daraus erklären sich Selbstanklage des Depressiven und das hohe Suizidrisiko [6 ].
Freud hat jedoch nicht von „neurotischer Depression” gesprochen, sondern eine allgemeine Psychodynamik der Melancholie beschrieben. In der weiteren psychoanalytischen Literatur schreibt Harnik [10 ] von der „sogenannten neurotischen Depression”, Rado [15 ] spricht von „neurotischer Depression” in seinem Beitrag zur Problematik der Melancholie und Schneider [17 ] publiziert in der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik einen Artikel zum Thema „Neurotische Depression und Stehlen”, wobei er den Vorgang des Stehlens im Sinne der erhöhten oralen Bedürftigkeit des depressiv kranken Menschen nach Zuwendung interpretiert. Während für Rado die neurotische Depression „eine Art von partieller Melancholie des (neurotischen) Ich” ist, unterscheidet Fenichel [7 ], wahrscheinlich als Erster, zwischen „neurotischer” und „psychotischer” Depression und sieht bei der neurotischen Depression die Auseinandersetzung in erster Linie mit äußeren Objekten, bei der psychotischen mit verinnerlichten Objekten: „Neurotische Depressionen sind ein verzweifelter Versuch, von einem Objekt die lebensnotwendige Zuwendung zu erzwingen, während bei psychotischen Depressionen ein vollständiger Objektverlust wirklich stattgefunden hat und sich die Versuche, mit ihm fertig zu werden, ausschließlich auf das Über-Ich richten” [7 ]. Ausschlaggebend sei die Tiefe der narzisstischen Regression, inwieweit äußere Objektbeziehungen durch verinnerlichte Beziehungen ersetzt werden. Etzersdorfer [6 ] weist daraufhin, diese Unterscheidung zwischen neurotischer und psychotischer Depression als Konflikt mit äußeren bzw. inneren Objekten nicht misszuverstehen, denn auch bei Beschäftigung mit äußeren Objekten sind deren innerpsychisches Abbild („Objektrepräsentanz”) und die verinnerlichte Objektbeziehung mit zu betrachten.
Konzept der „neurotischen Depression”
Konzept der „neurotischen Depression”
Die Kriterien für die Diagnose einer „neurotischen Depression” nach ICD-9: 300.4 [12 ], unabhängig ob man nun eine neurotische Depression als eine „milde” Form einer depressiven Störung oder als eine über die Form der Objektbeziehung psychodynamisch definierte Erkrankung betrachtet, sind in Tabelle 1 aufgelistet. Interessant ist dabei, dass sowohl die depressive Reaktion wie auch depressive Angstzustände subsummiert werden, während andererseits die Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik (ICD-9: 309.0) bzw. die Entwicklung mit depressiver Symptomatik (ICD-9: 309.1) ausgeschlossen sind. Die Kriterien einer neurotischen Depression [Tab. 2 ] lassen sich zum einen um die Psychopathologie, zum anderen um die Psychodynamik gruppieren, letztere als Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit/Charakterstruktur und spezifischen Lebensereignissen („Auslöser”) zu verstehen. Hinzu kommt der Verlauf, der aus klinischer Sicht sich durch eine anhaltende Störung über Jahre hinweg ohne langfristige Symptomfreiheit (im Gegensatz zur sog. endogenen Depression) und durch eine gleich hohe Suizidmortalität wie bei der klassischen endogenen Depression sowie durch ein hohes Ausmaß an vorzeitigen Berentungen/Pensionierungen und damit einen hohen Grad an Behinderung auszeichnet. Die neurotische Depression [11 ] ist damit durch die Psychopathologie, durch eine beschreibbare Psychodynamik, durch das Vorhandensein erkennbarer und definierbarer sowie in ihrer subjektiven Bedeutung für den Betroffenen beschreibbarer Lebensereignisse und durch den Verlauf gekennzeichnet.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich als weitere Notwendigkeit die Betrachtung der Lebensgeschichte/Biographie im Hinblick auf die Entstehung und das Verständnis spezifischer Verarbeitungsmodalitäten bzw. Umgangsformen mit Belastungen, wie sie nur aus der Entwicklung des Patienten, seines Erlernens des Umganges mit Aggression, seiner Handhabung von Nähe- und Zuwendungsbedürftigkeit, der Entwicklung seines Selbstwertgefühles verstehbar sind. In [Tabelle 4 ] und [Abbildung 1 ] sind wesentliche Aspekte depressiver Psychodynamik [2 ]
[21 ]
[22 ]
[23 ] zusammengefasst.
Heutige Konzepte: Dysthymia? Anpassungsstörung?
Heutige Konzepte: Dysthymia? Anpassungsstörung?
Das Konzept der neurotischen Depression war sicher unbefriedigend, aber: es hatte einen ätiologischen und einen therapeutischen Bezug. Die einseitige Ausrichtung auf Psychotherapie mit Verzicht auf biologische Therapieverfahren wie zu Recht von Seiten der biologisch orientierten Psychiatrie und Psychopharmakologie vorgehalten, war genauso schädlich wie das völlige Ausblenden der psychodynamisch-lerngeschichtlichen und damit der Psychotherapiebedürftigkeit bei diesen Patienten.
[Tabelle 5 ] stellt zusammen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, was heute unter dem Begriff der neurotischen Depression nach ICD-9: 300.4 subsummiert werden kann.
Die klassische „neurotische Depression” wird heute in der ICD-10 im Wesentlichen im „Dysthymia-Konzept” (ICD-10: F34.1) [4 ], damit im Konzept der „anhaltenden affektiven Störungen” aufgehen. Aber auch dies ist unbefriedigend, denn die Diagnose „anhaltende affektive Störung” ist weder für Entscheidungen zur Psychotherapie, zur Soziotherapie oder zur biologisch orientierten Therapie hilfreich. Empfohlen [21 ]
[22 ] wird deswegen, die „Dysthymia” zu zerlegen in
die klassische neurotische Depression mit einer offensichtlichen tiefenpsychologisch-lerngeschichtlichen Gewordenheit und Einfühlbarkeit/Verstehbarkeit der Persönlichkeit und der Notwendigkeit, die so entstandene Vulnerabilität/Disposition zu depressiven Reaktionen bei entsprechenden Außenereignissen zu diskutieren
eine „primär chronische Depression” [21 ], die mit einer episodenüberdauernden, meist mittelgradig ausgeprägten, durchgängigen, depressiven Herabgestimmtheit und Antriebsreduktion mit einer Dauer von mindestens zwei Jahren einhergeht und häufig auch mit einer zumindest partiellen Therapieresistenz im Sinne eines unzureichenden Ansprechens auf alle adäquat und nach den Regeln der Kunst eingesetzten Behandlungsmöglichkeiten
eine episodenüberdauernde (minor depression) Restsymptomatik , z.B. von Anhedonie oder Schlafstörungen, von depressiven Persönlichkeitszügen wie Selbstunsicherheit und Zögerlichkeit, Neigung zur Zweifel, vermehrte Klagsamkeit und Rigidität, wie man es häufig im höheren Lebensalter beobachtet und als Hinweis auf eine einerseits erhöhte Vulnerabilität und Verschlechterungsgefahr, andererseits als Hinweis auf längerfristige Behandlungsbedürftigkeit derartiger Zustandsbilder verstehen sollte
kurzfristige depressive Verstimmungen , die in ihrer Ausprägung sehr akut und deutlich sein können, als Hinweis auf die Neigung zu rascher und wiederholter depressiver Dekompensation bei meist durchgängig eingeschränkter Belastbarkeit durch innere oder äußere Ereignisse, insbesondere bei tiefgreifenden Veränderungen und nicht erfüllbarer, jedoch eingeforderter Anpassungsleistung.
Die therapeutische Empfehlung lautet dann:
Entwicklung eines langfristigen Behandlungskonzeptes mit konstanter Psychopharmakotherapie als Fortsetzung der letzten wirksamen Psychopharmakotherapie und
mit einer langfristigen psychotherapeutischen Begleitung/tiefenpsychologisch fundierten oder verhaltenstherapeutisch-kognitiven Richtlinienpsychotherapie über mehrere Jahre hinweg, wobei auch eine niederfrequente Strategie etwa mit regelmäßigen Einzelgesprächsterminen im Abstand von zwei bis vier Wochen, auch je nach Notwendigkeit unter Einbeziehung des Partners und je nach Notwendigkeit mit Einbeziehung psychoedukativer und soziotherapeutischer Maßnahmen, bedacht werden muss.
Als psychosoziale Strategie ist eine adäquate Arbeitsbelastung mit Beurteilung der Leistungsfähigkeit, eine Beratung der Familie sowie die Verweisung an Selbsthilfe-Organisationen, z. B. Selbsthilfegruppen für Depressive, weiterhin ins Auge zu fassen. Bei Notwendigkeit steht dann Krisenintervention als Teil der Langzeitstrategie an [21 ].
Abb. 1
Tab. 1 „Neurotische Depression” nach ICD-9: 300.4
Eine neurotische Depression ist
„Eine Neurose mit unverhältnismäßig starker Depression, die gewöhnlich einer erkennbaren traumatisierenden Erfahrung folgt; Wahnideen oder Halluzinationen gehören nicht dazu. Der Patient beschäftigt sich meist ausschließlich mit dem vorangegangenen psychischen Trauma, z.B. Verlust einer geliebten Person oder eines Besitzes. Häufig ist auch Angst vorhanden; Mischzustände aus Angst und Depression sollten hier eingeordnet werden. Die Unterscheidung zwischen depressiver Neurose und Psychose sollte sich nicht nur auf den Grad der Depression stützen, sondern auch auf Vorhandensein oder Fehlen anderer neurotischer und psychotischer Züge und auf den Grad der Störung im Verhalten des Patienten.”
Dazugehörige Begriffe:
Depressiver Angstzustan
Depressive Reaktio
Neurotisch-depressives Zustandsbild
Ausschluss:
Psychogene Reaktion (Anpassungsstörung) mit depressiver Symptomatik (309.0
Nicht näher bezeichnete Depression (311
Monopolare Depression (296.1
Reaktive depressive Psychose (298.0)
Tab. 2 „Neurotische Depression” (ICD-9: 300.4)
Symptomatik
häufig mittelgradig ausgeprägt; situativ reaktiv; keine psychotischen Symptome und keine Bipolarität; oft schwankend
Psychodynamik
Wechselwirkung Persönlichkeitszüge - depressive Struktur, vor allem orale und anale Charakterzüge; dependente, vermeidende, histrionische Züge (siehe Persönlichkeitsstörung); Hyperoralität, Instabilität des Selbstwertgefühles, Ambivalenz in Beziehungen, Aggressionshemmung, Leistungsorientierung und Anerkennungsbedarf - und
spezifische Lebensereignisse
realer und/oder fantasierter Verlust eines Objektes, eines Lebenskonzeptes, des Selbstbildes: hohe individuelle Bedeutung, Überverpflichtungssituation; Kränkung des Wertgefühles
Verlauf
anhaltend, „hohe Chronifizierungsgefahr”, zusätzlich Somatisierung/„Vitalisierung” („endo-neurotische” Depression); Suizidmortalität (schwer neurotisch stationär oder schwer endogen stationär = 15 %); vorzeitige Berentung/Pensionierung
Tab. 3 Kennzeichen der „neurotischen Depression”
depressive Symptomatik (Psychopathologie), häufig schwankend, weniger stark ausgeprägt, nicht homogen
Betonung eher im affektiven und kognitiven Bereich, Hilflosigkeitsattribution
Fehlen von depressivem Wahn, paranoiden Beziehungsideen, Halluzinationen
üblicherweise kein Stupor bzw. keine ausgeprägte psychomotorische Hemmung; Ausnahme Angststupor
sog. depressive Persönlichkeitsstruktur, -züge; depressive bzw. selbstunsicher-ängstliche und dependente Persönlichkeitsstörung
häufig Angst als Symptomatik sowie als zentrales Thema: Angst vor Verlust der Liebe, Wertschätzung des Objektes (Psychodynamik)
deutlicher zeitlicher und inhaltlicher Zusammenhang zwischen für Patient wichtige Auslösesituation (Versuchung, Frustration, Kränkung, Überforderung, eingetretene, angekündigte, erwartete Verluste) und Beginn der Depression
biographisch-lerngeschichtliches Ätiopathogenese-Konzept
Verlauf meist eher langzeitig, sehr schwankend, Tendenz zur „Chronifizierung” (Dauer > 2 Jahre)
verbunden oft mit Angststörung, Suchtmittelgebrauch, Persönlichkeitsstörung
Tab. 4 Depression: Vulnerabilität/Disposition, Lebensereignisse und depressive Persönlichkeitsstruktur
Vulnerabilitätsfaktoren nach Brown & Harris (z.B. 1986)
Fehlen einer vertrauensvollen Beziehung, Verlust der Mutter vor dem 11. Lebensjahr, 3 und mehr Kinder zuhause, Fehlen einer Beschäftigung außerhalb des Haushaltes, kein eigenes Einkommen, Fehlen sozialer Unterstützung, Selbstwertstörung
Lebensereignisse/Verlustereignisse:
Verlust als Folge von Tod, Trennung, Verlust des Arbeitsplatzes (Selbst- oder Hauptverdiener), Verlust materieller Güter, von Gesundheit, Autonomie und Selbstverfügbarkeit einer Wunschvorstellung, eines Lebenskonzeptes von sich und auch anderen, z.B. unter Vertrauensverlust zerstört wird
Reaktualisierung früher Verlust- und emotionaler Mangelerfahrungen durch realen, subjektiv erlebten oder antizipierten Verlust
Lebensereignisse verknüpft mit Verpflichtungsbereich
Verlust von sozialer Wertschätzung bzw. Autonomie d.h. persönlicher Unabhängigkeit
Derartige Verlustereignisse sind prädiktiv für Depression
Depressive Persönlichkeitsstruktur: hohe Abhängigkeit von Beziehung(sdichte) (Hyper-Oralität), instabiles Selbstwertgefühl mit rascher Kränkbarkeit, ausgeprägte Normorientiertheit (Leistung, Ethik u.ä.) mit Perfektionismus, Schuldgefühl bei Rückbleiben hinter eigener Messlatte
Tab. 5 Was gehört heute (ICD-10) zur „ehemaligen neurotischen Depression” (ICD-9: 300.4)?
Dysthymia (ICD-10: F34.1)
anhaltende affektive Störungen (F34.8/.9)
depressive Episode (F32.x - ohne somatisches Syndrom und ohne psychotische Symptome - bzw. rezidivierend F33.x)
Angst und Depression, gemischt (F41.2)
Anpassungsstörungen (kurze, längere Reaktion, Angst und Depression (F43.20/.21/.22)
Neurasthenie (F48.0)
Somatisierungsstörung (F45.0)
Essstörung (F50.8)
nicht organische Schlafstörung (F51.0/.1)
Persönlichkeitsstörung im Wechsel die ängstlich (vermeidende) (F60.6), die abhängige (F60.7), die anankastische (F60.5) u.a.
Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) mit andauernder Persönlichkeitsänderung (F62.0)