psychoneuro 2005; 31(1): 42-43
DOI: 10.1055/s-2005-863100
Serie

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Aus dem Arbeitskreis Gedächtnissprechstunden Berliner Nervenärzte - Ergotherapie in der Nervenarztpraxis

Jens Bohlken, Eva-Maria Burger-Deinerth, Thomas Gratz, Richard Hauser, Monika Otto, Roland Urban, Helga Wilke-Burger
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Korrespondenzadresse:

J. Bohlken

Klosterstr. 34/35

13581 Berlin

Email: Dr.J.Bohlken@gmx.net

Publication History

Publication Date:
01 February 2005 (online)

Table of Contents

Die nichtmedikamentöse Behandlung von Demenzen durch niedergelassene Psychiater und Neurologen bedarf der Unterstützung durch ergotherapeutische Leistungserbringer. Eine Befragung in 20 Berliner Nervenarztpraxen ergab, dass in den einzelnen Praxen zwischen 5 und 10 % der Patienten kognitive Störungen aufweisen und ein großer Bedarf an unterschiedlichen Arten kognitiver Aktivierung besteht. Immerhin 80 % der befragten Nervenärzte gaben an, sie würden Ergotherapie oder Hirnleistungstraining für Patienten mit Demenzen verordnen oder sogar in ihrer eigenen Praxis durchführen [1]. Es bildete sich daraufhin 1998 eine Gruppe von vier Nervenarztpraxen, die aufgrund der besonderen Budgetbedingungen der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin Ergotherapeuten anstellen und ein bereits erprobtes ergotherapeutisches Konzept in ihren Praxen einführten. Vorausgegangen waren eine entsprechende Fortbildung und finanzielle Investitionen in Raum-, Material- und Personalausstattung. 2002 wurden in diesen Praxen pro Quartal und Praxis 350-550 Stunden ergotherapeutische Leistungen erbracht und abgerechnet. Dadurch waren die Arbeitsplätze von insgesamt fünf Ergotherapeuten gesichert [3].

Mit Hilfe der Ergotherapeuten werden in diesen Schwerpunktpraxen gegenwärtig insgesamt mehr als 400 Patienten/Quartal mit kognitiven Störungen versorgt. Etwa 200 dieser Patienten erhalten eine medikamentöse Behandlung mit dem Ziel, einen hirnorganischen Abbauprozess aufzuhalten. Neben der nichtmedikamentösen Behandlung übernehmen die Ergotherapeuten wichtige Aufgaben der Therapiekontrolle im Rahmen der Verlaufsdokumentation. Darüber hinaus führen sie bei Patienten mit kognitiven Störungen und leichtgradigen Demenzen (MMST > 22) aktivierende kognitive Therapiemaßnahmen durch, wie sie im Folgenden beschrieben werden.

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Wie wird das kognitive Training durchgeführt?

Das ergotherapeutische Training umfasst 20 Einheiten mit 45-60 Minuten Dauer und orientiert sich an dem von Oswald u. a. [6] vorgestellten Gedächtnistraining des SIMA-Projektes (Erhaltung und Förderung von Selbstständigkeit im höheren Lebensalter). Zu Beginn und am Ende wird eine kleine Testbatterie durchgeführt, um das Therapieprogramm dem individuellen Störungsbild anzupassen, um Überforderungssituationen strikt zu vermeiden und um den Therapieerfolg zu kontrollieren. Das eigentliche Training besteht aus drei Abschnitten. Im ersten Abschnitt wird die Aufmerksamkeitsleistung der Patienten trainiert. Dem Patienten wird erläutert, dass es bei vielen Tätigkeiten des alltäglichen Lebens, wie zum Beispiel beim Einkaufen oder beim Gespräch in der Familie, wichtig ist, die Aufmerksamkeit auf die gerade geführte Tätigkeit zu lenken. Nur dann werden Einkäufe vollständig erledigt oder Gespräche sinnvoll geführt. Benützt werden u.a. auch PC-gestützte Aufgaben des Trainingsprogramms Cogpack®. Nachdem die Aufmerksamkeitsleistungen verbessert wurden, wenden wir uns in den folgenden sechs Therapiesitzungen der Gedächtnisleistung zu. Hier erlebt der Patient, dass Leistungsreserven durch regelmäßiges Üben aktiviert werden können. Überforderungssituationen sollen hier strikt vermieden werden. In der Regel wird in diesem Abschnitt deutlich, dass Kompensationsstrategien erforderlich sind, um die Gedächtnisaufgaben besser bewältigen zu können. In den verbleibenden sechs Therapieeinheiten werden deshalb mit Hilfe der Ergotherapeutin kompensatorische Gedächtnisstrategien entwickelt, wobei die besonderen Alltagsprobleme des jeweiligen Patienten mit einbezogen werden. Nach Abschluss des Trainings wird die Eingangstestung wiederholt. Somit sind Aussagen möglich, ob sich Zustandsänderungen hinsichtlich der depressiven Klagsamkeit, der Aufmerksamkeitsleistungen und der Gedächtnisleistungen ergeben haben.

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Wie sieht die Ergebnisqualität aus?

So wurde 1999 bei 47 Patienten die Ergebnisqualität des Trainings in einer kleinen Studie geprüft. Alle 47 Patienten wiesen kognitive Störungen auf. 16 Patienten im Rahmen einer beginnenden Demenz, 17 Patienten im Rahmen einer vaskulären Demenz, 14 Patienten hatten eine zusätzliche neurologische Erkrankung z.B. ein Parkinson-Syndrom. Zur Verlaufsbeurteilung wurde ein einfaches Punktesystem für die zwölf Testverfahren der Eingangs- und Verlaufsuntersuchung verwendet. Unterschieden wurden die Patienten in solche, bei denen eine merkliche, eine geringe oder keine Besserung festzustellen war. Sowohl bei den Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen als auch bei jenen mit beginnender Demenz ergaben sich bei nahezu der Hälfte der Patienten merkliche Verbesserungen hinsichtlich der geprüften Testleistungen. Im Vergleich dazu schnitt die neurologische Vergleichsgruppe schlechter ab [Tab. 1]. Wir interpretierten diese Ergebnisse als Beleg, dass ergotherapeutische Trainingsverfahren erfolgreich und qualitätsgesichert in Nervenarztpraxen durchführbar sind [2].

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Additiver Effekt der Ergotherapie

In einer weiteren Studie [4] wurde gefragt, ob sich der Krankheitsverlauf von Patienten mit leichtgradigen Demenzen, die neben der medikamentösen Behandlung zusätzlich mit kognitiven Training behandelt wurden, zusätzlich verbessert. Es wurden nur Patienten in die Auswertung genommen, bei denen nach ICD-10 eine Demenz vom Alzheimer-Typ vorlag. Dabei handelt es sich vorwiegend um Patienten mit leichten Demenzen. Die Datendokumentation erfolgte kontinuierlich. Erfasst wurden u.a. die Anzahl der Arztkontakte, die Art der Medikation sowie der Umfang des kognitiven Trainings. Alle drei bis sechs Monate erfolgte u.a. die Schweregradeinteilung mittels der Global Deterioration Scale (GDS). Der Mini-Mental-Status-Test (MMST) wurde durch den eingewiesenen Ergotherapeuten durchgeführt. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten wurden aus einer Stichprobe von 156 Patienten nur 34 Patienten kontinuierlich mit ein und demselben Antidementivum behandelt. Von den 34 Patienten erhielten 15 Patienten in den ersten sechs Monaten des Beobachtungszeitraums zusätzlich mindestens 20 ergotherapeutische Behandlungseinheiten kognitives aktivierendes Training (Dauer 45-60 Minuten).

In einem linearen Regressionsmodell war die Zielgröße MMST für die untersuchte Gruppe von 34 Patienten nach zwölf Monaten signifikant von der Einflussgröße Anfangs-MMST abhängig (p < 0,001), nicht jedoch von der Art der antidementiven Medikation und nur geringfügig, aber signifikant von der Anwendung des kognitiven Trainings (p = 0,040). Betrachtet man aus Gründen der Gruppenhomogenität nur Patienten mit leichtgradigen Demenzen (MMST > 18, n = 25 ), so weisen die Patienten mit kognitivem Training nach zwölf Monaten einen gleichbleibenden MMST, ohne kognitives Training einen Reduktion um 1,9 Punkte auf. Der Unterschied war jedoch nicht signifikant [Tab. 2]. Der positive Effekt eines zusätzlichen kognitiven Trainings auf den Krankheitsverlauf war gering, aber in der Regressionsanalyse signifikant. Patienten die in den ersten sechs Monaten der medikamentösen Therapie mindestens 20 Stunden zusätzlich ergotherapeutisch behandelt wurden, wiesen für diesen Zeitraum gegenüber der rein medikamentös behandelten Gruppe mit vergleichbaren MMST-Ausgangswerten einen Trend zur besseren Erhaltung der kognitiven Leistungen auf. Die z.B. in den Therapieempfehlungen Demenz der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hervorgehobene Bedeutung nicht-medikamentöser Therapieverfahren lässt sich somit unter Praxisbedingungen belegen und nachvollziehen.

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Zukunftsaufgaben

Wir sehen gegenwärtig im Rahmen unserer fachärztlichen Versorgungsbedingungen drei wichtige Zukunftsaufgaben für Ergotherapeuten in der ambulanten Behandlung leicht- bis mittelgradiger Demenzen: Erstens die Entwicklung eines einfachen standardisierten, durch Ergotherapeuten betreuten Dokumentationssystems für den Behandlungsverlauf von Demenzen soll für die briefliche Kommunikation zwischen Facharzt, Hausarzt und Klinik eine wichtige Hilfestellung geben. Darüber hinaus ist zweitens die Verbesserung von ergotherapeutischen Therapieverfahren im Bereich der Angehörigenunterstützung ein weiterer bisher von uns vernachlässigter Therapiebereich. Ein von uns entwickeltes Beratungsmodul wird z.Zt. erprobt. Schließlich sollen drittens in Anlehnung an die Verfahren der Erinnerungstherapie und der Selbst-Erhaltungs-Therapie [7] neue ergotherapeutische Therapiemodule entwickelt werden, die die bisher in unseren Praxen verwendeten Verfahren ergänzen.

Damit besteht für die Ergotherapeuten in Zusammenarbeit mit Neurologen und Psychiatern die Chance, im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes wichtige Funktionen eines Case-Managements zu übernehmen.

Tab. 1 Besserung von Kognition und Befindlichkeit durch ergotherapeutisches Training

Besserung

keine

gering

merklich

beginnende Demenz (n = 16)

1

8

7

vaskuläre Demenz (n = 17)

1

6

10

andere Demenzen z.B. Morbus Parkinson (n = 14)

4

6

4

Gesamtgruppe (n = 47)

6

20

21

Tab. 2 Mittelwerte des MMST unter Antidementiva mit und ohne zusätzliche Ergotherapie

MMST zu Beginn

MMST nach 12 Monaten

Antidementiva und Arzt-Patient-Gepräche (n = 12)

23,2

21,3

Zusätzliches kognitives Training (n = 13)

21,8

21,8

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Literatur

  • 1 Bohlken J. Vernachlässigte Dimension in der Praxis. Psychotherapeutische Strategien bei Demenz.  Neurotransmitter. 1999;  1 16-21
  • 2 Bohlken J. Alltagstraining in der Schwerpunktpraxis.  Neurotransmitter. 2001;  1 33-39
  • 3 Bohlken J, Urban R. Arbeitskreis Gedächtnissprechstunden Berliner Nervenärzte. Nachruf auf eine vertane Chance.  Neuroransmitter. 2002;  10 30-33
  • 4 Bohlken J. Qualitätsgesicherte ambulante Versorgung von Demenzkranken. Antidementiva im Vergleich.  Der Allgemeinarzt. 2003;  19 1446-1448
  • 5 Ehrhardt T, Plattner A. Verhaltenstherapie bei Morbus Alzheimer. Göttingen: Hogrefe Verlag 1999
  • 6 Oswald WD. Gedächtnistraining. Ein Programm für Seniorengruppen. Göttingen: Hogrefe Verlag 1998
  • 7 Romero B. Selbsterhaltungs-Therapie (SET): Betreuungsprinzipien, psychotherapeutische Interventionen und Bewahren des Selbstwissens bei Alzheimerkranken. In: Weis S, Weber G (Hrsg.). Handbuch Morbus Alzheimer. Weinheim: Psychologie Verlags Union 1997: 1209-1221
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J. Bohlken

Klosterstr. 34/35

13581 Berlin

Email: Dr.J.Bohlken@gmx.net

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Literatur

  • 1 Bohlken J. Vernachlässigte Dimension in der Praxis. Psychotherapeutische Strategien bei Demenz.  Neurotransmitter. 1999;  1 16-21
  • 2 Bohlken J. Alltagstraining in der Schwerpunktpraxis.  Neurotransmitter. 2001;  1 33-39
  • 3 Bohlken J, Urban R. Arbeitskreis Gedächtnissprechstunden Berliner Nervenärzte. Nachruf auf eine vertane Chance.  Neuroransmitter. 2002;  10 30-33
  • 4 Bohlken J. Qualitätsgesicherte ambulante Versorgung von Demenzkranken. Antidementiva im Vergleich.  Der Allgemeinarzt. 2003;  19 1446-1448
  • 5 Ehrhardt T, Plattner A. Verhaltenstherapie bei Morbus Alzheimer. Göttingen: Hogrefe Verlag 1999
  • 6 Oswald WD. Gedächtnistraining. Ein Programm für Seniorengruppen. Göttingen: Hogrefe Verlag 1998
  • 7 Romero B. Selbsterhaltungs-Therapie (SET): Betreuungsprinzipien, psychotherapeutische Interventionen und Bewahren des Selbstwissens bei Alzheimerkranken. In: Weis S, Weber G (Hrsg.). Handbuch Morbus Alzheimer. Weinheim: Psychologie Verlags Union 1997: 1209-1221
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